TYPENBILDUNG UND ANGEWANDTE KUNST
VON DR. E. MEISSNER
SEIT den Werkbundverhandlungen in Köln 19141)
ist die Frage der Typenbildung (oder, wie meist
irreführend gesagt wird, der »Typisierung«) nie ganz
zur Ruhe gekommen. An den verschiedensten Stellen und
bei den verschiedensten Gelegenheiten taucht sie immer
wieder auf, ohne daß doch irgendwo versucht worden wäre,
auch nur den Begriff »Typus« einmal eindeutig klarzu-
stellen.
Ich lege an anderer Stelle2) dar, daß ich die Typen-
bildung in dem dort von mir vertretenen Sinne, d. h. das
Streben nach der möglichst vollkommenen, gewissermaßen
endgültigen Lösung jedes Problems, für eine der wichtigsten
Aufgaben unserer Zeit halte, sowohl um der nationalen
Leistungsfähigkeit als um der harmonischen Kulturentwick-
lung willen. Es ist aber nicht ganz einfach und nicht ganz
ungefährlich, diesen Gedanken auf die Kunst, und sei es
zunächst auch nur die angewandte Kunst, zu übertragen.
Die bisherigen Erörterungen über diesen Punkt haben die
Gemüter auf allen Seiten schon so erhitzt, daß es schwer
ist, eine gewisse Voreingenommenheit zu überwinden.
Zunächst müssen wir uns wohl einmal darüber ver-
ständigen, was wir eigentlich unter einem Typus verstehen.
Auf dem Gebiete der Kunst denken wir dabei wohl gleich
an geschichtliche Typen, an den griechischen Tempel, die
romanische Säule, die früh- und spätgotische Kirche in
ihren verschiedenen Formen als Hallenkirche, Kirche mit
Kapellenkranz usw., an Renaissancepaläste, Rokokomöbel
und so fort. Daneben aber stehen uns sofort moderne
»Typen« vor Augen, wie etwa die verschiedenen Typen
eines Kraftwagens, einer Dampfmaschine, daneben auch
»Typenmöbel« und »Typenhäuser«. Was ist denn nun das
all diesen Typen Gemeinsame, welche Merkmale geben
uns das Recht, sie alle unter ein und denselben Begriff
zu bringen? Doch wohl vor allem dies: bei allem, was
wir als »Typen« oder »typisch« bezeichnen, setzen wir
voraus, daß das Zufällige, Unwesentliche bis zu einem ge-
wissen Grade ausgeschaltet, das Charakteristische, Wesent-
liche herausgearbeitet ist. Wir nennen ein Gebäude typisch
für seine Zeit, wenn in seiner Erscheinung die charakte-
ristischen Zeitmerkmale die individuell zufälligen Merkmale
überwiegen. Eine Firma wird ihr Erzeugnis erst dann
einen »Typ« nennen, wenn es über die Kinderkrankheiten,
die Zufälligkeiten des Anfanges hinausgediehen ist, die in
Betracht kommenden Grundfragen im wesentlichen gelöst
sind. Wenn wir also von Typenbildung, von dem Streben
nach Typen sprechen, so meinen wir ein Hinarbeiten auf
eine möglichst vollkommene Lösung jeder Aufgabe.
Es liegt schon in dem Sprachgebrauch, der die Worte
»charakteristisch« und »typisch« fast gleichsetzt, daß man
den Typus niemals erzwingen kann; denn man kann
schlechterdings niemand zwingen, die charakteristische
Lösung seiner Aufgabe zu finden. Wohl aber kann man
die charakteristische Lösung, den Typus erstreben, und
dieses Streben, dieses Hinarbeiten auf die restlose Lösung
ist der beste Teil aller menschlichen Arbeit. Und es wird
kaum zu befürchten sein, daß es jemals dazu beiträgt,
früher, als es in der geschichtlichen Notwendigkeit liegt,
die Alterszeit eines Volkes herbeizuführen und den Fort-
schritt zu unterbinden. Die Vollkommenheit, die End-
gültigkeit der Lösung selbst wird immer relativ, durch
Zeit und Ort bedingt sein und bleiben. Aber das Streben
1) Vgl. den Bericht über die Verhandlungen des Deut-
schen Werkbundes in Köln 1914. Jena, Diederichs, 1914.
2) »Deutscher Wille« 1916/17, 2. Februarheft.
nach der Vollkommenheit kann die Zeiten überdauern.
Die Ausbildung des Typus ist das Zeichen der Reife einer
Kultur; ist sie erreicht, so können aber neue Zeiten neue
Aufgaben stellen und das Streben von neuem anfachen.
Ist ein Volk nur im Kerne jung geblieben, so wird nichts
es hindern, da wo es nötig ist, auch das Hergebrachte zu
durchbrechen und den Weg zur besten Lösung von vorn
zu gehen.
Dieses Streben nach der restlosen Lösung wird beim
Einzelkunstwerk eine Charakterfrage für den Künstler;
es ist das, was den großen Künstler von dem nur talen-
tierten, begabten Künstler unterscheidet, und die Kunst-
werke, die den Niederschlag eines solchen Strebens zeigen,
bekommen — die schöpferische Kraft des Künstlers vor-
ausgesetzt — etwas von dem, was wir im guten Sinne
klassisch nennen. Nur dadurch, daß der Künstler das In-
dividuelle zum Typischen steigert, wächst das Kunstwerk
über Person und Zeit hinaus. Ein Drama behält nur dann
dauernden Wert, wenn Handlung und Personen nicht in-
dividuell begrenzt, sondern zu typischer Bedeutung erhoben
sind. Man beachte nur, wie stark in diesem Sinne die
Gestalten bei Shakespeare oder im Faust oder gar in der
griechischen Tragödie als Typen wirken. Ebenso wirken
unter den Gemälden aller Zeiten die am stärksten und
dauerndsten, in denen das Problem, das der Maler sich
stellte, ob es nun in Form, Farbe oder Inhalt liegt, der
restlosen Lösung am meisten angenähert ist.
Kann in diesem Sinne das Streben nach der voll-
kommenen Lösung, dem Typus, sogar in der freien Kunst
eine Grundbedingung der Höchstleistung genannt werden,
wie viel mehr in der angewandten Kunst, wo es zum
Wesen der Vollkommenheit gehört, daß Gebrauchszweck
und Kunstzweck in gleicher Weise erfüllt sind. Da wird
erst recht nur der ganz charaktervolle Künstler, der, von
persönlicher Künstlereitelkeit frei, die Sache um ihrer selbst
willen sucht, zur wahrhaft großen Leistung gelangen können.
Das Streben des einzelnen Künstlers nach der voll-
kommenen Lösung seiner Aufgabe wird, wenn es an vielen
Stellen zu gleicher Zeit einsetzt, zur stilbildenden Kraft,
weil unbewußt in allen der Geist der Zeit wirkt und weil
schaffende Menschen gar nicht nebeneinander arbeiten
können, ohne sich gegenseitig zu beeinflussen. Wir haben
das ja an der neuzeitlichen Gewerbekunst gesehen: von
wie verschiedenen Grundlagen sind die einzelnen Künstler
ausgegangen, und wie stark ist doch jetzt schon der ge-
meinsame Stilausdruck. Dabei wird jeder Künstler sich
dagegen verwahren, bewußt dem anderen gefolgt zu sein,
aber dem Geist der Zeit hat sich keiner entziehen können
oder wollen.
Aber das Streben nach der restlosen Lösung wird in
der angewandten Kunst noch in weiterem Sinne von Be-
deutung. Wir sind uns alle immer klarer darüber geworden,
daß die Kunst nur der Spitzenausdruck für die kulturelle
Gesamthöhe eines Volkes ist, und daß neben der künst-
lerischen Einzelleistung die Steigerung der Massenerzeugung
in Form und Arbeit einhergehen muß. Aber über die Be-
dingungen dieser Steigerung herrschen doch vielfach noch
recht verworrene Anschauungen. Die Tatsache, daß in
der neudeutschen kunstgewerblichen Bewegung die Künst-
ler die ersten Anregungen gegeben hatten, verleitete dazu,
auch für die Veredelung der Massenerzeugung alles Heil
von der künstlerischen Einzelarbeit zu erwarten; es kam
eine Zeit, in der Architekten und Kunstgewerbler davon
träumten, daß jedes Mietshaus und jeder Schrank von
— 125
VON DR. E. MEISSNER
SEIT den Werkbundverhandlungen in Köln 19141)
ist die Frage der Typenbildung (oder, wie meist
irreführend gesagt wird, der »Typisierung«) nie ganz
zur Ruhe gekommen. An den verschiedensten Stellen und
bei den verschiedensten Gelegenheiten taucht sie immer
wieder auf, ohne daß doch irgendwo versucht worden wäre,
auch nur den Begriff »Typus« einmal eindeutig klarzu-
stellen.
Ich lege an anderer Stelle2) dar, daß ich die Typen-
bildung in dem dort von mir vertretenen Sinne, d. h. das
Streben nach der möglichst vollkommenen, gewissermaßen
endgültigen Lösung jedes Problems, für eine der wichtigsten
Aufgaben unserer Zeit halte, sowohl um der nationalen
Leistungsfähigkeit als um der harmonischen Kulturentwick-
lung willen. Es ist aber nicht ganz einfach und nicht ganz
ungefährlich, diesen Gedanken auf die Kunst, und sei es
zunächst auch nur die angewandte Kunst, zu übertragen.
Die bisherigen Erörterungen über diesen Punkt haben die
Gemüter auf allen Seiten schon so erhitzt, daß es schwer
ist, eine gewisse Voreingenommenheit zu überwinden.
Zunächst müssen wir uns wohl einmal darüber ver-
ständigen, was wir eigentlich unter einem Typus verstehen.
Auf dem Gebiete der Kunst denken wir dabei wohl gleich
an geschichtliche Typen, an den griechischen Tempel, die
romanische Säule, die früh- und spätgotische Kirche in
ihren verschiedenen Formen als Hallenkirche, Kirche mit
Kapellenkranz usw., an Renaissancepaläste, Rokokomöbel
und so fort. Daneben aber stehen uns sofort moderne
»Typen« vor Augen, wie etwa die verschiedenen Typen
eines Kraftwagens, einer Dampfmaschine, daneben auch
»Typenmöbel« und »Typenhäuser«. Was ist denn nun das
all diesen Typen Gemeinsame, welche Merkmale geben
uns das Recht, sie alle unter ein und denselben Begriff
zu bringen? Doch wohl vor allem dies: bei allem, was
wir als »Typen« oder »typisch« bezeichnen, setzen wir
voraus, daß das Zufällige, Unwesentliche bis zu einem ge-
wissen Grade ausgeschaltet, das Charakteristische, Wesent-
liche herausgearbeitet ist. Wir nennen ein Gebäude typisch
für seine Zeit, wenn in seiner Erscheinung die charakte-
ristischen Zeitmerkmale die individuell zufälligen Merkmale
überwiegen. Eine Firma wird ihr Erzeugnis erst dann
einen »Typ« nennen, wenn es über die Kinderkrankheiten,
die Zufälligkeiten des Anfanges hinausgediehen ist, die in
Betracht kommenden Grundfragen im wesentlichen gelöst
sind. Wenn wir also von Typenbildung, von dem Streben
nach Typen sprechen, so meinen wir ein Hinarbeiten auf
eine möglichst vollkommene Lösung jeder Aufgabe.
Es liegt schon in dem Sprachgebrauch, der die Worte
»charakteristisch« und »typisch« fast gleichsetzt, daß man
den Typus niemals erzwingen kann; denn man kann
schlechterdings niemand zwingen, die charakteristische
Lösung seiner Aufgabe zu finden. Wohl aber kann man
die charakteristische Lösung, den Typus erstreben, und
dieses Streben, dieses Hinarbeiten auf die restlose Lösung
ist der beste Teil aller menschlichen Arbeit. Und es wird
kaum zu befürchten sein, daß es jemals dazu beiträgt,
früher, als es in der geschichtlichen Notwendigkeit liegt,
die Alterszeit eines Volkes herbeizuführen und den Fort-
schritt zu unterbinden. Die Vollkommenheit, die End-
gültigkeit der Lösung selbst wird immer relativ, durch
Zeit und Ort bedingt sein und bleiben. Aber das Streben
1) Vgl. den Bericht über die Verhandlungen des Deut-
schen Werkbundes in Köln 1914. Jena, Diederichs, 1914.
2) »Deutscher Wille« 1916/17, 2. Februarheft.
nach der Vollkommenheit kann die Zeiten überdauern.
Die Ausbildung des Typus ist das Zeichen der Reife einer
Kultur; ist sie erreicht, so können aber neue Zeiten neue
Aufgaben stellen und das Streben von neuem anfachen.
Ist ein Volk nur im Kerne jung geblieben, so wird nichts
es hindern, da wo es nötig ist, auch das Hergebrachte zu
durchbrechen und den Weg zur besten Lösung von vorn
zu gehen.
Dieses Streben nach der restlosen Lösung wird beim
Einzelkunstwerk eine Charakterfrage für den Künstler;
es ist das, was den großen Künstler von dem nur talen-
tierten, begabten Künstler unterscheidet, und die Kunst-
werke, die den Niederschlag eines solchen Strebens zeigen,
bekommen — die schöpferische Kraft des Künstlers vor-
ausgesetzt — etwas von dem, was wir im guten Sinne
klassisch nennen. Nur dadurch, daß der Künstler das In-
dividuelle zum Typischen steigert, wächst das Kunstwerk
über Person und Zeit hinaus. Ein Drama behält nur dann
dauernden Wert, wenn Handlung und Personen nicht in-
dividuell begrenzt, sondern zu typischer Bedeutung erhoben
sind. Man beachte nur, wie stark in diesem Sinne die
Gestalten bei Shakespeare oder im Faust oder gar in der
griechischen Tragödie als Typen wirken. Ebenso wirken
unter den Gemälden aller Zeiten die am stärksten und
dauerndsten, in denen das Problem, das der Maler sich
stellte, ob es nun in Form, Farbe oder Inhalt liegt, der
restlosen Lösung am meisten angenähert ist.
Kann in diesem Sinne das Streben nach der voll-
kommenen Lösung, dem Typus, sogar in der freien Kunst
eine Grundbedingung der Höchstleistung genannt werden,
wie viel mehr in der angewandten Kunst, wo es zum
Wesen der Vollkommenheit gehört, daß Gebrauchszweck
und Kunstzweck in gleicher Weise erfüllt sind. Da wird
erst recht nur der ganz charaktervolle Künstler, der, von
persönlicher Künstlereitelkeit frei, die Sache um ihrer selbst
willen sucht, zur wahrhaft großen Leistung gelangen können.
Das Streben des einzelnen Künstlers nach der voll-
kommenen Lösung seiner Aufgabe wird, wenn es an vielen
Stellen zu gleicher Zeit einsetzt, zur stilbildenden Kraft,
weil unbewußt in allen der Geist der Zeit wirkt und weil
schaffende Menschen gar nicht nebeneinander arbeiten
können, ohne sich gegenseitig zu beeinflussen. Wir haben
das ja an der neuzeitlichen Gewerbekunst gesehen: von
wie verschiedenen Grundlagen sind die einzelnen Künstler
ausgegangen, und wie stark ist doch jetzt schon der ge-
meinsame Stilausdruck. Dabei wird jeder Künstler sich
dagegen verwahren, bewußt dem anderen gefolgt zu sein,
aber dem Geist der Zeit hat sich keiner entziehen können
oder wollen.
Aber das Streben nach der restlosen Lösung wird in
der angewandten Kunst noch in weiterem Sinne von Be-
deutung. Wir sind uns alle immer klarer darüber geworden,
daß die Kunst nur der Spitzenausdruck für die kulturelle
Gesamthöhe eines Volkes ist, und daß neben der künst-
lerischen Einzelleistung die Steigerung der Massenerzeugung
in Form und Arbeit einhergehen muß. Aber über die Be-
dingungen dieser Steigerung herrschen doch vielfach noch
recht verworrene Anschauungen. Die Tatsache, daß in
der neudeutschen kunstgewerblichen Bewegung die Künst-
ler die ersten Anregungen gegeben hatten, verleitete dazu,
auch für die Veredelung der Massenerzeugung alles Heil
von der künstlerischen Einzelarbeit zu erwarten; es kam
eine Zeit, in der Architekten und Kunstgewerbler davon
träumten, daß jedes Mietshaus und jeder Schrank von
— 125