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Arzneikunde

[791] Arzneikunde, der Inbegriff der Kenntnisse, um Krankheiten zu verhüten, zu heilen od. zu lindern. Die A. befaßt unter sich: Anatomie u. Physiologie des Menschen, nebst Psychologie, als Inbegriff der Kenntnisse von dem normalen Zustande der menschlichen Natur; Diätetik, od. Kenntniß, diesen Zustand zu erhalten od. zu sichern; Pathologie, od. Kenntniß der Beeinträchtigung der Gesundheit durch Krankheiten, sowohl ihrem allgemeinen Theile nach (darunter auch pathologische Anatomie, Semiotik [Zeichenlehre] befaßt sind), als auch, in Verbindung mit Therapie, od. der Kenntniß der dabei zu leistenden angemessenen Hülfe, hinsichtlich specieller Krankheiten. Der speciellen Therapie gehen allgemeine Therapie, od. Kenntniß der Curregeln, Arzneimittellehre, Pharmaceutik, nebst Receptirkenntniß (s.d. a.) voraus. Chirurgie, wie auch Entbindungskunst, werden als gesonderte Theile der speciellen Pathologie u. Therapie betrachtet, obgleich sie, dem Princip nach, keine eigenen Wissenschaften sind; Staatsarzneikunde ist in doppelter Beziehung, auf Staatspolizei u. Rechtspflege, die Anwendung umfassender, medicinischer Kenntnisse auf Staatszwecke. Sie zerfällt in dieser Hinsicht wieder in medicinische Polizei u. gerichtliche A. Veterinärmedicin ist der Inbegriff medicinischer Kenntnisse in besonderem Bezug auf die Behandlung der Krankheiten nutzbarer Hausthiere. In gleicher Art ist das Gebiet der A. noch mehrerer Erweiterung fähig, indem sie das ihr zunächst Liegende in andern Wissenschaften bes. heraushebt, so: als medicinische Geschichte, medicinische Geographie etc. Der Ursprung der A. reicht über alle Geschichte hinaus u. ist derselbe unter allen Volkern. Schon Naturinstinct leitete die Menschen dahin, in Krankheiten Schädliches zu unterlassen, Heilsames anzuwenden. Zufällige Hülfe, von Kranken in einzelnen Fällen erlangt, ward auch Andern zur Benutzung angepriesen; daher die Sitte der Babylonier, Assyrer, Ägyptier u. a. alter Völker, Kranke an öffentliche Orte auszusetzen, damit sie von Vorübergehenden berathen würden. Zugleich leidete der religiöse Sinn die Völker auch in Krankheiten zu den Göttern hin; daher gemeiniglich Priester auch Ärzte waren, u. so ward bes. die A. in Griechenland als Gottesdienst geübt u. bestand in Sühnungen, Zauberformeln u. Beschwörungen. Als Heilgottheiten wurden bes. Apollon, der Centaur Chiron, Asklepios (Äsculap), dessen Gattin Epione, Töchter Hygieia u. Panakea, u. Söhne Machaon u. Podalirios verehrt, u. nach ihm nannten sich die Priesterärzte Asklepiaden (s.d.). Die Heilungen geschahen bes. in Tempeln von Priesterärzten, auf geheimnißvolle Art (vgl. Incubinationen). Gleichzeitig mit der Naturphilosophie der Griechen bildeten sich auch die ersten Keime der wissenschaftlichen A. aus. Pythagoras u. seine Schüler, Alkmäon, Empedokles von Agrigent, Anaxagoras, Demokritos von Abdera, auch Heraklitos von Ephesos, gewannen Einfluß auf sie. Von ihren Schulen gingen auch eigene Ärzte aus. Auch die Aufseher der Kampfschulen, Alipten (s.d.). besaßen medicinische Kenntnisse u. wurden als Ärzte betrachtet. Hippokrates begründete für alle Zeiten die Wissenschaft, indem er auf treue Beobachtung des Ganges der Natur in Krankheiten hinwies; doch machten sich auch schon zu seiner Zeit philosophische Systeme geltend, welche das noch Zweifelhafte in der Beobachtung durch Hypothesen, die als sichere Theorien verkündet wurden, zu ersetzen suchten. Hieraus entstanden medicinische Schulen: zunächst die Hippokratisch-dogmatische, welche die Söhne des Hippokrates, Thessalos, Drakon u. sein Schwiegersohn Polybos (s.d. a.), stifteten, zu denen bes. noch Diokles von Karystos u. Praxagoras gerechnet wurden, während welcher von der Alexandrinischen Schule aus bes. die Anatomie u. Physiologie ihre erste Begründung durch die Untersuchungen von Herophilos u. Erasistratos (s. b.) erhielten, die selbst wieder Schulen begründeten u. zahlreiche Anhänger bekamen. In diese Zeit fällt auch die Trennung der Medicin in Chirurgie, Diätetik u. Rhizotomie od. Pharmacie. So viel medicinische Schulen nun auch schon in älterer Zeit neben der Hippokratischdogmatischen (als Empirische, Methodische, Pneumalische, Eklektische Schule), dann im 2. Jahrh. n. Chr. auf Galens Auctorität sich stützend, als Galensche Schule, od. auch, unter Benutzung des wissenschaftlichen Gewinns der späteren Zeit, als Chemiatarische, als Jatromathematische Schule u. a. eine Zeit lang sich geltend machte; obgleich die arabischen Ärzte nach Verfall des römischen Reichs im 9. Jahrh. Ansehn erwarben u. in ihrer Empirik viel leisteten u. viel Anhänger (Arabisten) fanden, bis sie im Mittelalter in die christliche, von Benedictinern gestiftete Salernitanische Schule übergingen: so ist doch das zuerst von Hippokrates aufgestellte Princip eines empirischen Rationalismus die noch jetzt einzig haltbare Grundlage einer wissenschaftlichen A., deren Charakter es nämlich ist, Erfahrung u. Theorie in innigste Verbindung zu bringen, u. nur das als Regulativ in Krankheiten anzuerkennen, was in der Anwendung bei der treuen Beobachtung sich immer bestätigt. Jedes System, so sehr ihm auch das Zeitalter, in welchem es herrschend wird, huldigt, ist dann immer eine relative Ablenkung von diesem Wege; daher sich ein solches auch immer nur in einem gewissen Kreise, od. auf eine gewisse Zeit erhält, obgleich in jedem Systeme auch mehr od. minder Wahrheit liegt. So sind bes. das von England aus verbreitete Brownsche System, in Italien das Rasorische, auf die Theorie des Contrastimulus sich gründende, in Frankreich das Broussaissche, fast alle Krankheiten aus Entzündung des Magens herleitend, endlich in Deutschland, nächst den früher beliebten Stahlschen u. a. Systemen, das durch halb Europa verbreitete, von Hahnemann begründete u. ausgehende Homöopathische System, in Ansehn gekommen, sind aber alle nach dem ausgesprochenen Grundsatze zu würdigen. Die neueste sogenannte Physiologische Schule, welche auf unmittelbare Erkenntniß (durch die sogenannte physikalische Untersuchung) der Krankheiten großes Gewicht legt u. darum sich der hippokratischen so wie allen anderen Richtungen als der symptomatischen Medicin (die auf subjective Symptome, unt. and. auf die Angabe der Patienten, viel gibt) entgegensetzt, unterscheidet sich von dem empirischen Rationalismus[791] nur dadurch, daß bei der fortgeschrittenen Wissenschaft u. Kunst die Empirie eine weniger rohe, wie ehedem, zu sein braucht u. sein darf., Über die Geschichte der A. bei den neuern Völkern s. unt. den einzeln diese Völker betreffenden Literaturartikeln. Dictiónnaire des sciences mèdicales, herausgegeben von Panckoucke, Paris 1812–22, 60 Bde., in Verbindung mit Journal complèmentaire du Dict. des sciences méd., seit 1818; Pierer, Medicinisches Realwörterbuch, Altenb. 1816–29, 8 Bde. (nur Anatomie u. Physiologie enthaltend); Gräfe, Hufeland, Link, Rudolphie u. Siebold, Encyklopädisches Wörterbuch der medicinischen Wissenschaften, Berl. 1829 ff., 18 Bde.; Prosch u. Ploß, Medicinisch-chirurgische Encyklopädie für praktische Ärzte, Lpz. 1854 ff.; Sprengel, Versuch einer pragmatischen Geschichte der A., Halle 1792–99, 4 Bde., 3. Aufl. 1821–28, 5 Bde.; Hecker, Gesch. der Heilkunde, Berl. 1822–29, 2 Bde.; Häser, Lehrbuch der Geschichte der Medicin, 2. A., Jena 1853.

Quelle:
Pierer's Universal-Lexikon, Band 1. Altenburg 1857, S. 791-792.
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