[366] Scholastik, ist im allgemeinen die Gesammtbezeichnung der Philosophie des Mittelalters, welche ihren Ursprung daher hat, daß ihre Vertreter Lehrer an den vorzüglich seit der Zeit Karls des Großen gestifteten Kloster- u. bischöflichen Schulen waren (s. Scholasticus 8), an deren Stelle später die Universitäten traten. Für den Anfang der S. läßt sich kein bestimmter Zeitpunkt angeben; sie entwickelte sich seit dem 9. Jahrh. allmälig; aber sie stand in ihrem ganzen Verlauf unter dem Einfluß theils der kirchlichen, theils einer philosophischen, aus dem Alterthum auf sie überkommenen Tradition. Der fast ausschließliche Beziehungsgrund aller philosophischen Forschung war die Theologie u. zwar in der bestimmten Gestalt, welche sie in den kirchlich sanctionirten Dogmen erhalten hatte: dieser Inhalt des kirchlichen Dogma sollte jeder Prüfung unzugänglich sein u. die Aufgabe der Philosophie lediglich darin bestehen, ihn in ein formell geordnetes System zu bringen, zu begreifen, zu beweisen. Daher charakterisirt die S. durchaus die Abhängigkeit der Philosophie von der Theologie; jene galt als die Magd dieser (Philosophia theologiae ancilla). Dazu bedurfte es aber eines Apparates logischer u. metaphysischer Hülfsmittel; in der ersteren Beziehung beschränkte man sich Jahrhunderte lang mit den dürftigen Überlieferungen aus dem classischen Alterthum, welche vorzüglich die Schriften des Boëthius darboten; in der letzteren benutzte man theils platonische u. (durch Vermittelung der angeblich von Dionysius Areopagita herrührenden Schriften) neuplatonische, theils aristotelische Begriffe. Außerdem genossen die lateinischen Kirchenväter, namentlich Augustinus, großes Ansehen. Noch zu Anfang des 12. Jahrh. waren nicht einmal die logischen Schriften des Aristoteles vollständig bekannt; vom 13. Jahrh. an wurde für die Logik u. Dialektik die logische Synopsis des Michael Psellos in der ihr von Petrus Hispanus gegebenen Bearbeitung gebräuchlich; man bezeichnete den Vortrag der Logik nach der letzteren als Via moderna im Gegensatz als Via antiqua. Der einzige Gegenstand der bis zu Ende des 11. Jahrh. eine Art selbständigen philosophischen Interesses in Anspruch nahm, war die Frage nach der Bedeutung der allgemeinen Begriffe,[366] ob sie wirkliche Dinge bezeichnen od. bloße Producte der Reflexion u. Abstraction sind; der Gegensatz in der Beantwortung dieser Frage (s. Realismus u. Nominalismus) beginnt nicht erst im 11. Jahrh. mit Roscellin, sondern läßt sich, wie neuere Untersuchungen gelehrt haben, viel weiter rückwärts verfolgen u. spaltete sich in eine Menge theils streitender, theils vermittelnder Lehrformen. In dieser ersten, bis zu Anfang des 13. Jahrh. reichenden Periode der S. sind Von hervorragender Bedeutung Johannes Scotus Erigena, Gerbert von Aurillac (später Papst Sylvester II.), Berengar von Tours, Anselm von Canterbury, Lanfranc von Canterbury, Petrus Damianus, Hildebert von Lavardin, Erzbischof von Tours, Roscellinus, Petr. Abälard, Wilhelm von Champeaux, Wilhelm von Conchy, Gilbert de la Porrée (Porretanus), Rob. Pulleyn (Pullus), Peter von Poitiers (Pictaviensis), Petrus Lombardus, Alanus von Ryssel (ab Insulis), Johannes von Salisbury (Salisberiensis), s.d.a. Ein Wendepunkt in der Geschichte der S. trat seit dem 13. Jahrh. dadurch ein, daß außer den logischen Schriften des Aristoteles auch dessen metaphysische u. physische Werke bekannt wurden. Dies geschah theils durch lateinische Übersetzungen, welche Anfangs äußerst unvollkommen waren (vgl. Jourdain Forschungen über Alter u. Ursprung der lateinischen Übersetzung des Aristoteles, aus dem Französischen von Adolf Stahr, Halle 1831), theils durch Benutzung der arabischen Philosophen, welche sich die Lehre des Aristoteles angeeignet hatten, unter denen namentlich Averroes (Ibn Rosch) hervorragt. Von jetzt an tritt neben dem kirchlichen Dogma die Aristotelische Metaphysik als der zweite die S. beherrschende Factor auf, u. die Hauptbegriffe derselben (Substanz u. Accidenz, Form u. Materie, Actus u. Potentia) nebst allen ihren möglichen Combinationen, Distinctionen u. Classificationen boten dies Schema dar, nach welchem jede theologische, metaphysische u. naturwissenschaftliche Frage, so weit die letzteren überhaupt im Gesichtskreise der Scholastiker lagen, behandelt wurde. Dieser selbst hatte sich allerdings durch die Bekanntschaft mit dem ganzen Aristoteles u. den Arabern einigermaßen erweitert; aber eine kritiklose Tradition beherrschte nach wie vor die S., u. der jetzt zur ausschließlichen Herrschaft gelangte Realismus ließ es als einen hinreichenden Beweis der Gültigkeit eines Begriffes gelten, daß er überhaupt gedacht wurde, obgleich es z.B. den Johann von Salisbury rücksichtlich der Realität der allgemeinen Begriffe bedenklich machte, daß ihre Erschaffung im ersten Buche Mosis nicht ausdrücklich erwähnt ist. In dieser realistischen Denkart lag der Grund, daß man das Wesen der Dinge durch bloße Nominaldefinitionen der sie bezeichnenden Begriffe zu erkennen meinte; daher das unfruchtbare Spiel mit Quidditäten u. Häcceitäten, specifischen Differenzen u. verborgenen Qualitäten (Qualitates occultae), wobei die Entscheidung der Frage, wie das allgemeine Ding (z.B. die Menschheit) zu den individuellen Bestimmungen (des Peter od. Paul) komme (Principium individuationis), Gegenstand vieler Streitigkeiten werden mußte. In diese zweite Periode, die Blüthenzeit der S., fällt das Leben des Alexander von Hales, des Albert des Großen, des Thomas von Aquino, des Duns Scotus, der Schöpfer der großen Systeme der scholastischen Philosophie u. Theologie, während Vincenz von Beauvais (Bellovacensis) encyklopädische Darstellungen des damaligen Zustandes der Wissenschaften schrieb, Roger Baco sich einem einigermaßen unbefangenen Naturstudium zuwendete u. Raimundus Lullus eine Methode entdeckt zu haben glaubte, durch welche mittelst bloßer Combination von Begriffen gleichsam auf mechanischem Wege alle wissenschaftlichen Probleme sich beantworten lassen sollten Hatte jedoch schon in dieser Periode das gemüthliche religiöse Bedürfniß der trockenen Verstandesschärfe u. unerquicklichen Disputirsucht der S. gegenüber in dem Mysticismus des Hugo u. Richard von St. Victor u. des Johann von Fidenza (Bonaventura) Befriedigung gesucht, so entstand im Laufe des 14. Jahrh. innerhalb der S. selbst durch das Wiederaufleben des Nominalismus eine Spaltung. Schon Durandus von St. Pourçain (a S. Porciano) hatte sie vorbereitet; ihr Haupturheber war jedoch Wilhelm Occam; ihm schlossen sich Johannes Buridan u. Petrus von Ailly (de Alliaco) an, u. der Nominalismus fand, obgleich die Anhänger des Realismus mehr als einmal die Hülfe der äußeren Macht zur Unterdrückung ihrer Gegner benutzten, in Robert Holkst, Peter von Rimini (Ariminensis), Heinrich von Hessen, Nicolaus Oramus od. Oresmius, Matthäus von Krakau (Chrochow in Pommern), Gabriel Biel u.a. rührige u. schlagfertige Vertheidiger. So berechtigt der Nominalismus war dem Realismus vorzuwerfen, daß er mit den Worten die Dinge vervielfältige u. die Erkenntniß der letzteren vernachlässige, u. so bestimmt durch sein Princip, daß nicht jeder beliebige Allgemeinbegriff auch schon etwas Wirkliches bezeichne, das willkürliche Spiel mit Worten abgeschnitten wurde, so hatte er doch nur wenig selbständig productive Kraft u. sein Streit mit dem Realismus bezeichnet vorzugsweise den inneren Zersetzungsproceß der S. Außerdem hatte die dialektische Peinlichkeit, mit welcher diese die Dogmen behandelte, unvermeidlich nicht selten auf Punkte geführt, wo die Vereinigung des Dogma mit der Logik selbst den spitzfindigsten Distinctionen nicht gelingen wollte; in dem Satze, durch welchen man sich zu helfen suchte: daß etwas theologisch wahr u. philosophisch falsch u. umgekehrt sein könne, also in der Zulassung einer philosophischen Wahrheit neben der theologischen, lag eigentlich ein Überschreiten der Schranken, innerhalb deren sich die Philosophie früher hatte bewegen dürfen; eine ungezügelte Disputirsucht fand hier einen freien Spielraum u. übte sich nun an hypothetisch aufgestellten Fragen, welche bisweilen scurril u. absurd waren; fromm gesinnte Gemüther, wie Joh. Tauler, Thomas von Kempen, Nicolaus von Clemangis u.a. wendeten sich von den dialektischen Klopffechtereien der S. entschieden ab, u. im Laufe des 15. Jahrh. trat eine ihr feindselige Richtung des geistigen Lebens immer allgemeiner hervor. Gleichwohl war sie mit Jahrhundert alten Überlieferungen der ganzen Organisation der Lehranstalten, dem Ansehen u. Einflusse der Hierarchie durch tausend Fäden verknüpft, u. es bedurfte einer so großen u. allgemeinen Umwandlung des ganzen geistigen Lebens, wie sie durch die Erfindung der Buchdruckerkunst, das wiedererweckte Studium des classischen Alterthums, die kirchliche Reformation, die auf dem Gebiete der Naturforschung Bahn brechenden Entdeckungen eines Galilei u. Torricelli, Coperniens u. Kepler bewirkt wurde, um endlich ihren Einfluß[367] zu brechen. Ihre Geschichte, welche bei weitem noch nicht vollständig durchforscht ist, ist allerdings ein sehr wichtiger Theil der Culturgeschichte des Mittelalters; sie zeigt einen in gewisser Beziehung staunenswerthen Fleiß u. Kraftaufwand innerhalb einer bestimmten Sphäre, u. es hat ihr deshalb nicht an Bewunderern u. Lobrednern gefehlt. Aber die besten Köpfe in der Zeit, welche noch unter ihrem Einflusse standen, Männer, wie Lor. Valla, Ludw. Vives, Erasmus, Petrus Ramus u.a. urtheilten über sie mit Indignation u. Widerwillen u. machten alle Waffen des Spottes u. des Ernstes gegen sie geltend. Auch das oft angeführte Urtheil von Leibniz, daß auf diesem Misthaufen Goldkörner zu finden seien, bezeichnet das Verhältniß der werthlosen Masse zu den werthvollen Bestandtheilen derselben keineswegs zu Gunsten der ersteren. Vgl. außer den allgemeinen Werken über die Geschichte der Philosophie Ludw. Vives, De causis corruptarum artium in seinen Werken, Bas. 1555; Ad. Tribbechov, De doctoribus scholasticis, Gießen 1665, Ed. Heumann, Jena 1719; Jac. Thomasius, De doctoribus scholast., Lpz. 1676; Rousselot, Etudes sur la philosophie dans le moyen-âge, Aar. 184043, 3 Thle.; Hauveau, La philosophie scolastique. ebd. 1851, 2 Thle.; Prentl, Geschichte der Logik im Abendlande, Lpz. 1861, 2 Bde.; von Eberstein, Natürliche Theologie der Scholastiker, ebd. 1803. Der Einfluß der S. hat sich theilweis selbst auf den protestantischen Universitäten bis in das 17. Jahrh. hinein erhalten; die Katholische Kirche hat ihr Ansehen niemals fallen lassen u. in den katholischen Ländern gilt Thomas von Aquino hier u. da noch jetzt für den Denker, welcher alle späteren überflüssig mache; vgl. K. Werner, Fr. Suarez u. die S. der letzten Jahrhunderte, Regensb. 1860 f., 2 Bde.
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