[go: up one dir, main page]

Auflösung

[86] Auflösung. (Schöne Künste)

Dieses Wort wird in der Kunstsprache verschiedentlich gebraucht, und kann, wegen der Wichtigkeit der Sache, die es ausdrükt, zum Kunstwort gemacht werden. Auflösung bedeutet überhaupt die Herstellung der Freyheit und Ordnung nach vorhergegangener Verwiklung. Dergleichen Auflösungen kommen in Werken der schönen Künste verschiedentlich vor. In der Musik wird die Harmonie ofte verrükt; daher entstehen die Dissonanzen, die eine würkliche Unordnung sind, aus welcher durch die Auflösung, die Ordnung und völlige Harmonie wieder hergestellet wird: In der dramatischen Handlung ist allemal Verwiklung; verschiedenes streitet gegen einander, am Ende der Handlung entwikelt sich alles durch die Auflösung, die deswegen in der französischen Sprache Dénouement, (Entwiklung des Knotens) genennt wird. Aber auch jede andre Handlung, und beynahe jede Vorstellung, darin vieles zugleich zu dem Ganzen einer Sache gehört, hat eine Verwiklung, und kann deswegen einer Auflösung fähig seyn. Also kommen diese beyden Sachen fast überall vor.

Man kann keine Herstellung der Ordnung sehen oder empfinden, ohne dadurch angenehm gerührt zu werden. Daher kommen Verwiklungen und Auflösungen so vielfältig in den Werken der Kunst vor, weil sie ihnen Kraft und Reizung geben. Der Ursprung alles Vergnügens ist in der Thätigkeit unsers Geistes zu suchen; diese fühlen wir zu wenig, wenn unsre Vorstellungen, unaufgehalten in einem sanften Laufe fortgehen; denn da ist nirgend eine Anstrengung nöthig, durch welche wir uns unsrer Thätigkeit bewußt sind. Diese empfinden wir nur bey Hindernissen, bey gegen einander laufenden Vorstellungen, beym Streit der Elemente, die auf uns würken. Da bemüht sich der Geist die Ordnung wieder herzustellen: je schneller und vollkommener dieses geschieht, wenn nur vorher die Anstrengung aufs höchste gestiegen ist, je größer ist das Vergnügen.

Weiter wollen wir die allgemeine Betrachtung dieser Sache nicht treiben; sondern von den Auflösungen sprechen, worüber Kunstverständige schon längst besondere Betrachtungen angestellt haben.

Auflösung der dramatischen Verwiklung. Dadurch versteht man die Hauptauflösung, wodurch das ganze Stük sein End erreicht. Sie wird auch nach einem griechischen Worte Catastrophe genennt.1 Wie eine Berathschlagung, wenn sie ordentlich vollendet wird, einen Entschluß hervor bringet, so hat jede Handlung einen Erfolg; nämlich es wird etwas bewürkt, das alle weitere Bemühung und Unternehmung über die Sache unmöglich macht. Ein Friedensschluß hebt auf einmal alle Unternehmungen des Krieges auf, und die Ankunft an dem Orte, wohin die Reise gerichtet war, endiget dieselbe. In verwikelten Handlungen, wie die dramatischen sind, finden sich entweder Hindernisse und Schwierigkeiten, die sich dem Erfolg entgegen stellen; oder es zeiget sich in dem Charakter der Hauptpersonen etwas, wodurch eine merkwürdige Veränderung in ihren Glüksumständen entstehen muß; wobey sich aber so viel Schwierigkeiten zeigen, daß man begierig wird, den Ausgang der Sache zu erfahren. Dasjenige, was diesen Ausgang oder jenen Erfolg bestimmt und auch begreiflich macht, ist eigentlich die Auflösung der Handlung. So ist im Oedipus in Theben des Sophokles die völlige Entdekung, daß dieser der Sohn und Mörder des Lajus sey, die Auflösung der Handlung; denn dadurch wird der Erfolg bestimmt, daß Oedipus den Thron verläßt und sich selbst verbannt, wodurch die ganze Sache ihr völliges Ende erreicht; und so ist in Addisons Cato, der Selbstmord dieses Helden die Auflösung, wodurch der Ausgang der Sache bestimmt, und die ganze Handlung völlig geendiget wird.

Die Auflösung ist vollkommen, wenn sie natürlich und vollständig ist, auch zu rechter Zeit geschieht. Natürlich ist sie, wenn sie nicht nur aus der Handlung selbst entsteht, sondern so, daß nichts übertriebenes, nichts unwahrscheinliches in den Ursachen ist, wodurch sie bewürkt wird. Der Character des Cato macht seinen Entschluß sehr natürlich; eben so natürlich ist die so ofte vorkommende Auflösung in Comödien, da ein Vater seinem Sohn aus Zärtlichkeit nachgiebt und in etwas williget, was er zu hintertreiben gesucht hat; daß ein listiger Mann, wie Ulysses, aller Hinternisse ungeachtet zu seinem Zwek kommt; daß eine tollkühne [86] Unternehmung, zuletzt etwas hervorbringt, das einen unglüklichen Ausgang bewürkt. Es kommt hiebey darauf an, daß der Dichter eine große Kenntniß des Menschen und menschlicher Zufälle habe, daß er keine Würkung zeige, deren Ursache nicht hinlänglich dazu wäre; daß er keinen Zufall heran bringe, der dem natürlichen Lauf der menschlichen Dinge nicht angemessen sey. Es ist aber nicht genug, daß er selbst die Möglichkeit der Sache, nach dem ordentlichen Lauf der physischen oder sittlichen Natur begreife; auch der Zuschauer muß ihn begreifen. Deswegen muß der Dichter bisweilen schon von weitem gewisse Sachen einfließen lassen, die hernach bey der Auflösung alles begreiflicher machen. Dieses nennt man die Auflösung vorbereiten.

Wie in der Natur kein Sprung statt hat, so muß auch der Dichter bey seinen Auflösungen keinen machen. Läßt er eine Paßion, oder eine Unternehmung, für die kein guter Ausweg vorzusehen war, plötzlich einen solchen finden, so geschehe es so, daß aus der Lage der Sachen, erst nach dem Erfolg begreiflich werde, wie die Sachen haben kommen können. Es giebt bisweilen Auflösungen, die ans unnatürliche gränzen, und eben deswegen sehr schön werden; weil das, was unmöglich geschienen hat, desto lebhaftere Eindrüke macht, wenn man es würklich und aus begreiflichen Ursachen bewürkt findet. So scheinet es unnatürlich, daß ein Mensch plötzlich seine Sinnesart ändere, daß er aus einem Bösewicht ein rechtschaffener Mann, aus einem Tyrannen ein billiger und gütiger Regent werde. Dennoch finden sich würkliche Veränderungen dieser Art in der Natur. So hätte es angehen können, daß Corneille seinem Trauerspiel Rodogüne durch eine andre Auflösung einen guten Ausgang gegeben hätte. Er hätte die Bosheit und Rachgier der Cleopatra auf den höchsten Gipfel kommen lassen. Denn hätte sie durch eine Rückkehr auf die mütterliche Zärtlichkeit erst über ihr Vorhaben gestutzt; dieses hätte sie zu einigem Nachdenken über ihre ungeheure Bosheit und endlich gar zur Reue gebracht. Dergleichen Fälle sind in der Natur vorhanden. Der Dichter hatte so gar diese Auflösung im dritten Auftritt des vierten Aufzuges vorbereitet, da er die Cleopatra zum Antiochus sagen läßt:


Vos larmes dans mon coeur ont trop d'intelligence,

Elles ontpresque éteint cette ardeur de vengeance.

Je ne puis refuser des soupirs à vos pleurs.

Je sens que je suis mêre aupres de vos douleurs.

C'en est fait, je me rends et ma colére expire,

Rodogune est à vous, aussi bien que l'empire.


Da man Beyspiele von bewundrungswürdigen Veränderungen der Sinnesart der Menschen hat, so könnten dergleichen zu Auflösungen bisweilen versucht werden.

Es verdienet wegen der Comödie angemerkt zu werden, daß die Alten verschiedentlich Auflösungen gefunden haben, die zu ihrer Zeit natürlich waren, die es itzt nicht mehr seyn würden. Plautus und Terenz finden oft die Auflösung dadurch, daß ein längst vergessener oder für todt gehaltener Mensch plötzlich wieder erscheint; daß ein Vater sein Kind erkennet, das er längst vergessen hatte. Dergleichen Auflösungen sind zwar noch itzt möglich; sie müssen aber, um wahrscheinlich zu seyn, mit mehr Vorsicht behandelt werden, als jene alten nöthig hatten, bey denen dergleichen Zufälle durch die damals gewöhnliche Aussetzung der Kinder, durch die Sclaverey, in welche man durch den Krieg oder Menschenraub fallen konnte, durch die wenigere Verbindung der Völker unter einander, durch Mangel der Mittel, die man gegenwärtig hat, einer verlohrnen Person nachzufragen, viel natürlicher waren, als sie itzo sind.

Die unnatürlichsten Auflösungen sind die, welche man Maschinen nennt, davon in einem besondern Artikel gesprochen worden.

Zur vollkommenen Auflösung gehört auch die Vollständigkeit, die darin besteht, daß unsre ganze Erwartung von der Sache befriediget, und das Ende der Handlung so erreicht wird, daß wir gar nichts mehr erwarten können. Man muß sich die einzeln Personen, die Vorfälle, die in der Handlung aufstoßen, als so viel Linien vorstellen, die entweder gerade oder krumm sich zuletzt in einen einzigen Punkt vereinigen; keine muß abgebrochen werden, oder sich verlieren, noch auf einen andern, als den allgemeinen Gesichtspunkt hingehen. Die Charaktere müssen völlig entwikelt seyn, daß der Zuschauer nichts mehr davon zu wissen verlanget, die verschiedenen Unternehmungen müssen ihr Ende so erreichen, daß die Fortsetzung derselben unmöglich wird, und das Schiksal der Personen muß [87] die Auflösung völlig bestimmt werden, daß keine Frage mehr darüber entstehen kann. Plautus hat verschiedentlich gegen diese Vollständigkeit der Auflösung gefehlt. So hat sein Stük, das er Mostellaria genennt hat, eine so unvollständige Auflösung, daß das Ende davon ganz abgeschmakt wird.

Es ist zwar eben nicht nöthig, wie einige meynen, daß die Auflösung zuletzt alle Personen auf die Bühne vereinige: genug wenn dieselbe nur alle weitere Unternehmung hemmt, und unsre Erwartung über die Personen befriediget, sie seyn zugegen oder nicht.

Endlich muß die Auflösung zu rechter Zeit geschehen; nämlich, wenn unsre Erwartung auf das höchste gekommen ist. Nicht eher, weil sie sonst nicht Reizung genug hat; daher bisweilen eine Aufhaltung nothwendig ist;2 nicht später, damit die Lebhaftigkeit der Erwartung nicht wieder abnehme. Beydes ist sehr wichtig, weil die Lebhaftigkeit der Vorstellungen bey der Auflösung die stärksten Eindrüke im Gemüthe zurük läßt.

Vom Ausgange, der durch die Auflösung bewürkt wird, ist besonders gesprochen worden. S. Ausgang.

Will man gegen die Wichtigkeit aller dieser Anmerkungen, so wie gegen alles, was die Regeln der Vollkommenheit eines Werks betrifft, einwenden, daß viele Stüke sehr gefallen, darin diese Vorschriften nicht beobachtet sind; so kann man einmal für alle dieses zur Antwort nehmen, daß jene Stüke noch mehr gefallen würden, wenn dabey auch noch diese Regeln wären beobachtet worden.

Was hier von der Auflösung der dramatischen Handlung angemerkt ist, kann auch auf die epische Handlung angewendet werden. Die Kunstrichter haben davon weniger geschrieben, weil der Dichter in dieser weniger Zwang fühlt, und also allen Foderungen leichter genug thun kann.

Auflösung der Dissonanz in der Musik. Hier wird das Wort Auflösung in einer ganz besondern engen Bedeutung genommen; denn nicht eine jede Herstellung der völligen Harmonie, sondern nur eine gewisse Gattung derselben bekömmt den Namen der Auflösung. In den beyden hiebey geschriebenen Beyspielen

Auflösung

wird die Harmonie durch Dissonanzen zerstöhrt, da in dem zweyten und vierten Viertel des ersten Takts zwey Dissonanzen anstatt der Consonanzen stehen, so gleich aber wieder in Consonanzen durch steigen oder fallen, eintreten; in dem andern Beyspiel aber werden gar alle Consonanzen in Dissonanzen verwandelt, die aber gleich wieder in die Consonanzen zurük treten. Dergleichen Fälle aber werden nicht zu den Auflösungen gerechnet.3 Diese Dissonanzen erscheinen ohne Vorbereitung und verschwinden auch plötzlich wieder; in dem sie nur in geschwinden Bewegungen statt haben, wo das Ohr kaum Zeit hat sich wieder nach der reinen Harmonie zu sehnen. Die eigentlichen Auflösungen betreffen nur diejenigen Dissonanzen, die durch Bindungen vorbereitet worden und folglich wieder entbunden oder aufgelöst werden müssen. Weil diese Dissonanzen entweder wegen ihrer längern Dauer, oder wegen des darauf liegenden Nachdruks merklichen Eindruk machen, und dem Gehör ein würkliches Verlangen nach der Herstellung der Ordnung erweken; so muß diese Herstellung auf eine befriedigende Weise geschehen. Daher sind die Regeln von der Auflösung der Dissonanzen entstanden. Je langsamer die Bewegung ist, und je daurender oder nachdrüklicher der Eindruk der Dissonanzen gewesen ist, je genauer muß man sich bey ihrer Auflösung an diese Regeln binden. Ein kleines Versehen dabey wird einem wolgeübten Ohr sehr empfindlich.

Diese Regeln sind von den ältern Tonsetzern größtentheils für die langsamen Choräle und für die nachdrükliche Allabreve Bewegung erfunden worden, wo die Harmonie mit großer Genauigkeit will behandelt seyn. Daß große Meister in geschwinden Sachen, und in dem, was man die galante Schreibart nennt, sich nicht allemal pünktlich an diese Regeln binden; (wie wol auch da die größten Meister, sich am wenigsten Freyheiten erlauben) soll Anfänger oder minder geübtere nicht zur Nachläßigkeit verleiten. Es ist allemal sicherer, sich [88] die Regeln ganz geläufig zu machen, damit sie nicht zur Unzeit übertreten werden.

Bey Auflösung der Dissonanzen ist eigentlich nur eine einzige Regel zu beobachten. Jede Dissonanz tritt bey der Auflösung in die nächste diatonische Stufe unter sich, so daß sie daselbst zu einer Consonanz wird. Diese letzte Bedingung bestimmt die Fortschreitung oder das Stillliegen des Basses, wenn die Dissonanz in den obern Stimmen ist; und der obern Stimmen, wenn die Dissonanz im Baß ist. Wie diese Regel der Auflösung in allen Fällen beobachtet werde, erhellet aus der Tabelle der Dissonanzen4. Von der großen Septime, die aufwärts geht, ist anderswo gesprochen worden.5

Rameau und die, welche seine Theorie annehmen, haben Dissonanzen, welche bey der Auflösung einen diatonischen Grad herauf treten. Diese sind bis itzt von den deutschen Harmonisten nicht angenommen. S. Dissonanz. Sexte.

1Catastrophe: conversio negotii exagitati in tranquillitatem non expectatam. Scalig. Poet. L. I. c. 9.
2S. Aufhaltung.
3S. Durchgang, Verwechslung.
4S. Dissonanz.
5S. Septime.
Quelle:
Sulzer: Allgemeine Theorie der Schönen Künste, Band 1. Leipzig 1771, S. 86-89.
Lizenz:
Faksimiles:
86 | 87 | 88 | 89
Kategorien:

Buchempfehlung

Paoli, Betty

Gedichte

Gedichte

Diese Ausgabe fasst die vier lyrischen Sammelausgaben zu Lebzeiten, »Gedichte« (1841), »Neue Gedichte« (1850), »Lyrisches und Episches« (1855) und »Neueste Gedichte« (1870) zusammen. »Letzte Gedichte« (1895) aus dem Nachlaß vervollständigen diese Sammlung.

278 Seiten, 13.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Biedermeier II. Sieben Erzählungen

Geschichten aus dem Biedermeier II. Sieben Erzählungen

Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Michael Holzinger hat für den zweiten Band sieben weitere Meistererzählungen ausgewählt.

432 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon