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Aufhaltung

[84] [84] Aufhaltung. (Schöne Künste)

Dieses Wort scheinet bequem, um einen in den schönen Künsten verschiedentlich vorkommenden Kunstgriff zu benennen. Er besteht in einer geschikten Verzögerung der Auflösung einer Verwiklung, die man ganz nahe glaubt. In dem Trauerspiel des Euripides, Iphigenia in Tauris, glaubt man, daß die Erkenntniß der Iphigenia und des Orestes so gleich erfolgen, und also ein Hauptknoten werde aufgelöst werden, so bald jeder des andern Namen hören werde. Aber der Dichter wußte die völlige Erkenntniß aufzuhalten, und die Aufhaltung so gar durch einige Auftritte durch zu führen. Eine solche Aufhaltung finden wir auch im VII. B. der Ilias. Hektor fodert einen der Griechen zum Zweykampf auf; Menelaus nimmt die Auffoderung an; man wird begierig, den Streit anzusehen: aber Agamemnon und Nestor kommen dazwischen, halten den Menelaus zurücke, der endlich von seinem Vorsatz absteht, und die Sache dem Ajax überläßt. Dadurch wird unsre Erwartung aufgehalten, und die Begierde, die Entwiklung der Sache zu sehen, noch mehr gereizt.

In dieser Reizung besteht demnach die Würkung der Aufhaltung, und eben dadurch wird das Vergnügen bey der Entwiklung desto größer. Ein Werk kann zwar so beschaffen seyn, daß die Vorstellungen ohne Aufhaltung, wie ein sanfter und immer gleich fließender Strohm, fort gehen; dergleichen Werke aber reizen weniger, als die, darin Verwiklungen und Aufhaltungen vorkommen; es sey denn, daß alles in der höchsten Natur und Einfalt auf einander folge. In allen andern Fällen sind Verwiklungen und Aufhaltungen nöthig, und von großer Würkung.

Die Aufhaltung betrifft nicht nur große Haupt-Verwiklungen eines Werks, sie hat auch in kleinen Theilen statt. Selbst in einzeln Gedanken kann sie vorkommen. So ist in folgender Stelle des Horaz eine merkliche Aufhaltung:


Poscimur. Si quid vacui sub umbra

Lusimus tecum, quod et hunc in annum

Vivat et plures: age dic Latinum

Barbite carmen.1


Das erste Wort, Poscimur, erwekt die Erwartung, was das seyn möchte, wozu der Dichter aufgefodert wird, und macht also einen Knoten; dieser wird durch alles, was zwischen Poscimur und age dic steht, aufgehalten, und dadurch wird die Erwartung größer.

Auch in der Musik giebt es größere und kleinere Aufhaltungen. In den größern wird ein Gedanken so behandelt, daß er gerade an der Stelle, wo man glaubt, er werde durch den Schluß sein End erreichen, aufs neue eine andre Wendung bekömmt.2 Kleinere Aufhaltungen kommen beständig bey Auflösung der Dissonanzen vor, da ein dissonirender Accord, dessen Auflösung man erwartet, erst noch durch andre Dissonanzen geführt und hernach aufgelöst wird.

Bey jeder Verwiklung ist nothwendig eine Aufhaltung. Hier ist nur von der die Rede, welche der Künstler aus Ueberlegung verlängert, um die Vorstellungskraft desto mehr zu reizen. Er muß sich dieses Kunstgriffs nicht allzu ofte bedienen, sonst ermüdet er. Die Aufhaltung ist von derjenigen Gattung Schönheiten, die sparsam und mit genauer Beurtheilung, wo sie nöthig seyn möchte, gebraucht werden muß. In der Musik wird der, welcher immer den kürzesten Weg zum Schluß eilet, unschmakhaft und wässerig; der aber, der niemals anders, als durch mancherley Umwege schließt, wird nicht weniger langweilig und verdrüßlich. Es lassen sich hierüber keine Regeln fest setzen. Ein scharfes Urtheil ist die beste Regel, und der Kunstrichter kann nichts mehr thun, als den Künstler vermahnen, aufmerksam auf den Gebrauch und Mißbrauch der Kunstgriffe zu seyn; damit er nicht aus Unachtsamkeit fehle.

Die Aufhaltung muß nicht mit der Unterbrechung des Endes einer Vorstellung verwechselt werden. Jene läßt uns die Sache, deren Verwiklung uns beschäfftiget, nicht aus dem Gesichte verlieren, sie ist ein Theil davon; diese aber bricht sie ab, und setzt etwas anders dazwischen. Dadurch entstehet eine widrige Würkung, weil der Zusammenhang der Vorstellungen würklich zerrissen wird. Nichts ist verdrüßlicher, als eine Geschichte zu lesen, wo, wie in dem Roman vom Amadis, die Begebenheiten, wenn man denkt, daß sie sich nun entwikeln werden, abgebrochen, und wegen einer neuen Geschichte ganz aus dem Gesichte verlohren werden. Die Episoden, wenn sie recht geschikt angebracht werden, [85] gehören einigermaßen auch zu der Aufhaltung. S. Episode.

1Hor. Od. I. 32.
2S. Cadenz.
Quelle:
Sulzer: Allgemeine Theorie der Schönen Künste, Band 1. Leipzig 1771, S. 84-86.
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