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Verwiklung

[1232] [1232] Verwiklung. (Schöne Künste)

Wir sagen eine Sache sey verwikelt, wenn es uns einige Müh und Anstrengung der Aufmerksamkeit verursachet, ihre Art und Beschaffenheit einzusehen; plan und einfach aber nennen wir das, dessen Art und Beschaffenheit wir leicht erkennen. Eine Handlung ist plan und einfach, wenn ein einziges Mittel, oder gar wenig Veranstaltungen gerade zum Zwek führen; verwikelt ist sie, wenn man zu Erreichung des Zweks mancherley Anstalten zu machen hat. Jene gleichet einer Reise, auf der man den geradesten Weg geht, und ohne Hinderniß zum Ziehle kommt; diese hat Aehnlichkeit mit einer Reise, die durch mannigfaltige Umwege, und durch Wegräumung vielerley Hindernisse zum Ziehle führet.

Handlungen und Unternehmungen ohne Verwiklung haben wenig Reizung, und wenn sie eine beträchtliche Zeit erfodern, so werden sie langweilig und verdrießlich. Man übersiehet gleich im Anfang alles, was dabey zu thun ist, und in der Ausführung selbst geht alles ohne Schwierigkeit fort; man muß nirgend stille stehen, um sich zu bedenken, wie man dem Ziehl näher kommen soll; man trift keine Schwierigkeiten an, deren Ueberwindung, Anstrengung der Kraft erfoderte. Also beschäftiget die Handlung selbst den Geist nicht, und das Verlangen das Ende davon zu sehen, ist das einzige, was wir dabey fühlen. Daher entstehet der Verdruß der langen Weile dabey. Eben so geht es uns auch, wenn wir die Handlungen andrer Menschen sehen. So bald wir gar nichts verwikeltes darin bemerken, finden wir sie langweilig; mit Vergnügen aber folgen wir den handelnden Personen, wenn wir sie in mancherley Schwierigkeiten verwikelt sehen, die sie nach und nach überwinden.

Wir haben bereits anderswo gezeiget, wie in den epischen und dramatischen Handlungen, aus Verwiklung der Umstände Knoten entstehen, die unsre Aufmerksamkeit auf den Fortgang der Dinge kräftig reizen, und wie die allmählige Auflösung der Knoten durch die Befriedigung unsrer Erwartungen Vergnügen macht.1 Im Grund entsteht unser Vergnügen nur aus dem Gefühl unsrer Kräfte, und deren Würkung. Wo wir also eine beständige Spannung der Kräfte fühlen, die allmählig ihre Würkung erreichen, da empfinden wir auch Vergnügen. Die Kräfte selbst aber fühlen wir nicht anders, als durch die Anstrengung. Es sey also, daß wir durch Betrachtung der Dinge, oder durch Handlungen, die wir verrichten, Vergnügen empfinden sollen, so muß in den Dingen, womit wir uns beschäftigen, Verwiklung vorkommen, die sich allmählig auflöset. Da wir aber die Würkung der Knoten und ihrer Auflösung in den Werken des Geschmaks an den angeführten Orten hinlänglich betrachtet haben, so wollen wir diesen Artikel blos auf solche Anmerkungen einschränken, daraus der Künstler beurtheilen kann, wo er das Einfache und Plane, und wo er das Verwikelte vorzüglich brauchen soll.

Es giebt Fälle, wo das Gerade und Einfache großes Wolgefallen erwekt, und wo es so gar bis zum Entzüken gefällt; aber auch solche, wo der Mangel der Verwiklung die Sachen völlig gleichgültig und langweilig macht. Die einfache Pracht verschiedener Monumente der alten griechischen Baukunst, entzükt das Aug eines Kenners: aber ein Lustgarten, dessen Plan und Anordnung wir auf einen Blik ganz übersehen; die Außenseite eines großen Gebäudes, die innere Anordnung einer grossen Menge der darin befindlichen Zimmer, die wegen ihrer Einfalt gleich so in die Augen fallen, daß man aus einem kleinen Theile die Beschaffenheit des Ganzen erkennt, sind völlig gleichgültige Dinge, bey denen wir ohne merklichen Ueberdruß uns nicht verweilen können.

Verwiklung scheinet überall nothwendig, wo ein Gegenstand blos die Vorstellungskraft eine merkliche Zeitlang anhaltend beschäftigen soll; denn sie verursachet Nachdenken, Beobachtung, Vergleichung der Dinge, um ihren Zusammenhang zu fassen.

In der Epopöe und in dem Drama muß so viel Verwiklung seyn, als nöthig ist, die Aufmerksamkeit auf den Verlauf der Sachen gespannt zu halten. Denn wenn auch gleich die ganze Handlung auf Rührung, oder Erwekung der Empfindung abziehlte, so wird dieser Endzwek doch nur in so fern erhalten, als wir den Verlauf der Dinge mit Aufmerksamkeit beobachten. Wir werden von dem leidenschaftlichen Zustand der handelnden Personen nur in so fern gerührt, und empfinden, was sie selbst empfinden nur in so fern, als wir uns in ihre Umstände versezen. Dieses thun wir aber nur, wenn wir alles, [1233] was ihnen begegnet, und alle Lagen, worin sie sich durch die ganze Handlung befinden, mit Aufmerksamkeit beobachten. Wie man mit bloßen Füßen so schnell über glüende Kohlen wegeilen kann, daß man ihre Hize nicht empfindet, so machen auch die leidenschaftlichen Scenen keinen Eindruk auf uns, wenn die Aufmerksamkeit sich nicht dabey verweilet, wenn wir nicht Zeit nehmen, oder uns die Mühe nicht geben, sie zu fassen. Mit Aufmerksamkeit aber können wir keinen Gegenstand der Erkenntnis betrachten, wenn nichts verwikeltes darin ist. Weil also im Drama und in der Epopöe die Empfindung aus der Aufmerksamkeit erfolget, mit der wir die Lage der Sachen, und den Fortgang der Handlung beobachten, so muß nothwendig Verwiklung darin seyn. Liegt sie nicht schon in der Art, wie die Sachen geschehen, so muß er sie durch wol überlegte Anordnung hereinbringen; er muß uns die Würkung beschreiben, oder sehen lassen, ehe wir die Ursache davon erkennen; oder er muß uns die Ursache groß und wichtig vorstellen, ehe wir die Würkung davon sehen. In beyden Fällen entsteht eine Verwiklung, denn wir sehen etwas, dessen Ursach, oder Würkung uns eine Zeitlang verborgen ist, und dieses reizet die Aufmerksamkeit sehr kräftig zu genauer Beobachtung des Zusammenhanges.

Aber die Verwiklung kann auch so groß seyn, daß sie der Empfindung schadet. Nachdenken und Rührung des Herzens können nicht wol neben einander bestehen. Jemehr der Geist beschäftiget ist, je weniger fühlt das Herz. Wir haben nicht Zeit zu empfinden, wenn wir unaufhörlich beobachten müssen. Wenn demnach eine Handlung so sehr verwikelt ist, daß wir alle Kräfte der Aufmerksamkeit nöthig haben, sie zu fassen, folglich blos mit Erkennen und Erforschen beschäftiget sind, so fühlen wir wenig dabey. Ein Trauerspiehl oder eine Epopöe, wo die Aufmerksamkeit auf den Verlauf der Dinge unaufhörlich so gespannt ist, daß man keine einzele Lage mit Leichtigkeit übersehen oder fassen kann, thut wenig Würkung auf das Herz; man hat genug mit Erforschung und Beobachtung des Zusammenhanges zu thun, und bey dieser Anstrengung, bey dieser Hize der Vorstellungskraft, bleibet das Herz kalt; weil man nicht Zeit hat bey irgend einer Lage der Sachen still zu stehen, um ihren Eindruk zu empfinden. Darum ist ein einfacher Plan, dem verwikelten vorzuziehen.

Quelle:
Sulzer: Allgemeine Theorie der Schönen Künste, Band 2. Leipzig 1774, S. 1232-1234.
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