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Held

[525] Held. (Dichtkunst)

Die Hauptperson des Heldengedichts, wie Achilles in der Ilias, Ulysses in der Odyssee, Aeneas in der Aeneis. Man braucht aber dasselbe Wort etwas uneigentlich auch von der Hauptperson im Drama. Der Held ist also der, welcher in der Handlung die Hauptrole hat, auf den das meiste ankömmt und der alles belebt, der so wol an der Handlung, als am Ausgang derselben das größte Intresse hat.

Darum muß der Held des Stüks eine wichtige Person seyn, deren Gemüthscharakter sich auf eine merkwürdige Art äußert; und damit die Aufmerksamkeit gleich von Anfang des Gedichts gereizt werde, ist es gut, wenn er eine in der Geschichte berühmte Person ist, von deren Charakter uns die Hauptzüge schon bekannt genug sind. Wäre dieses nicht, so würde der Dichter Mühe haben seinen Helden gleich von Anfang in dem gehörigen Lichte zu zeigen. Einige Kunstrichter haben anmerken wollen, daß vollkommen tugendhafte Personen sich nicht schiken, Helden der Epopee oder des Drama zu seyn. Lord Shaftesbury behauptet so gar, daß ein solcher Held für die Poesie das größte Ungeheuer wäre.1 Man muß sich aber durch das Ansehen dieses scharfsinnigen Mannes nicht verführen lassen. Warum sollte der sterbende Sokrates (und wo ist wol jemals ein vollkommnerer Mann, als dieser gewesen) als Held des Trauerspiels eine ungeheure Figur machen? Und wem ist Leonidas in Glovers Epopöe, [525] oder Codrus in dem Trauerspiel des Kroneks, als ein Ungeheuer vorgekommen? Oder wer wird sagen dürfen, daß der Prometheus beym Aeschylus eine abgeschmakte Person sey? Für einen so feinen Kenner, als der Lord unstreitig war, war es nicht genug überlegt, zu behaupten, Homer habe aus Wahl und gutem Vorbedacht seine Helden nicht ganz tugendhaft gemacht. Denn an das, was unsre Moralisten Tugend nennen, hat Homer gewiß nicht gedacht, folglich konnte er auch nicht aus Ueberlegung die vollkommene Tugend verworfen haben.

Seneka hat den kühnen Gedanken gehabt, daß ein vollkommen tugendhafter, dabey standhaft leidender Mann, selbst für die Götter ein erhabener Gegenstand sey. Wenn dieses auch übertrieben ist, so können doch Menschen einen solchen Mann groß und intressant finden, und also ein großes Vergnügen daran haben, ihn handeln zu sehen. Ist es denn eben so nothwendig, daß man in der Epopöe, oder im Trauerspiel, immer durch die Heftigkeit der Leidenschaften erschüttert werde? Und rühret die Großmuth und eine herrschende Größe der Seele weniger, als Zorn, oder Wuth, oder Verzweiflung?

Aber so viel ist gewiß, daß es unendlich schweerer ist einen vollkommen tugendhaften Helden auf einer so intressanten Seite zu zeigen, als einen durch heftige Leidenschaften aufgebrachten; so wie ein Zeichner viel leichter den Ausbruch großer Leidenschaften, als eine stille Größe der Seele ausdrüken kann.

1Charackteristiks T. III. S. 262.
Quelle:
Sulzer: Allgemeine Theorie der Schönen Künste, Band 1. Leipzig 1771, S. 525-526.
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