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Lage der Sachen

[651] Lage der Sachen. (Schöne Künste)

Durch die Lage der Sachen, die man auch mit dem französischen Wort Situation ausdrükt, versteht man die Beschaffenheit aller zu einer Handlung oder Begebenheit gehörigen Dinge, in einem gewissen Zeitpunkt der Handlung, in welchem man das Gegenwärtige, als eine Würkung dessen, das vorhergegangen und als eine Ursache dessen, das noch erfolgen soll, ansiehet. Wenn wir uns den Augenblik vorstellen, da Cäsar von Brutus und seinen Mitverschwornen soll umgebracht werden; in diesem Augenblik aber die Handlung als stille stehend betrachten, um jedes einzele, das dazu gehört zu bemerken; die gegenwärtigen Personen, ihre Gedanken und Empfindungen, den Ort und andre Umstände, und dieses alles auf einmal, wie in einem Grundris vor uns haben, so fassen wir die gegenwärtige Lage der Sachen.

In diesen Umständen stellt man sich etwas, das geschehen soll, vor, und hat auf einmal viel Dinge, die man als mitwürkend, oder als leidend ansieht vor Augen; die Neugierde wird gereizt; man erwartet mit Aufmerksamkeit den Erfolg von so vielen auf einmal zusammenkommenden mit- oder gegen einander würkenden Dingen. Ist die Handlung an sich selbst wichtig, und izt auf einen merkwürdidigen Zeitpunkt gekommen, so befinden wir alsdenn uns selbst, als Zuschauer, in einem merkwürdigen Zustande, voll Neugierde, Würksamkeit und Erwartung. Ein solcher Zustand hat ungemein reizendes für lebhafte Gemüther, und es scheinet, daß wir das Vergnügen unsrer Existenz nie vollkommener genießen, als in solchen Umständen. Welcher Mensch könnte in einem solchen Falle ohne den bittersten Verdruß sich in der Nothwendigkeit befinden, sein Aug von der Scene wegzuwenden, ehe seine Neugierde über die Erwartungen dessen, was geschehen soll, befriediget ist?

Deswegen ist in dem Umfange der schönen Künste nichts, das uns so sehr gefällt, als merkwürdige Lagen der Sachen bey wichtigen Handlungen oder Begebenheiten. Dergleichen auszudenken, und deutlich vor Augen zu legen, ist einer der wichtigsten Talente des Künstlers. Man siehet leicht, daß das Merkwürdige einer Lage in dem nahe scheinenden und unvermeidlichen Ausdruch solcher Dinge bestehe, die lebhafte Leidenschaften erweken. Das, was wir vor uns sehen, sezt uns in Erwartung, die mit Furcht, oder Hofnung, mit Verlangen, oder Bangigkeit begleitet ist. Je mehr Leidenschaften dabey rege werden, je mehr intreßirt die Lage der Sachen. Schon Dinge, deren Erfolg uns gleichgültig ist, können sich in einer Lage befinden, die uns blos aus Neugierd sehr intreßirt. Man wünscht zu sehen, wie die Sachen, die wir verwikelt, gegen einander streitend, sehen, aus einander gehen werden.[651] Die Lagen, da die handelnden Personen in einem völligen Irrthum und in falschen Erwartungen sind, oder wo überhaupt etwas wiedersprechendes in den Sachen ist; wo man einen starken Contrast gewahr wird, gehören unter die Intressantesten, und können nach Beschaffenheit der Sachen sehr tragisch, oder sehr comisch seyn. Das Intressante dieser Lagen liegt vornehmlich in der Art des Wunderbaren, der entgegengesezten Dinge. Unser Gemüth ist alsdenn in der lebhaftesten Fassung, wenn alles, was zu Hervorbringung eines Zustandes erfodert wird, vorhanden zu seyn scheinet, ohne daß dieser Zustand erfolget. Wenn wir Zuschauer eines wichtigen Unternehmens sind, an dessen guten oder schlechten Erfolg wir starken Antheil nehmen; so sind wir auf das Lebhafteste in den Augenbliken intreßirt, da wir die Entscheidung der Sache für gewiß halten. Dauert dieser Zustand eine Zeitlang, oder erfolget das Gegentheil dessen, was wir erwarteten, so entsteht eine Erschütterung im Gemüthe, deren Andenken beynahe unauslöschlich bleibet. Wenn das Unternehmen auf dem Punkt ist zu gelingen oder zu mißlingen, so entsteht eine ausnehmend lebhafte Hofnung oder Furcht; fürnehmlich alsdenn, wenn wir sehen, daß die Personen, denen am meisten an einem gewissen Erfolg gelegen ist, das Gegentheil von dem thun, was sie thun sollten. Man kann sich in solchen Umständen kaum enthalten mitzureden, oder mitzuwürken. Wenn wir sehen, daß ein Mensch, das, was er am sorgfältigsten verbergen sollte, selbst verräth; wenn er gerade das Gegentheil von dem thut, was er unserm Wunsche nach thun sollte, oder wenn er sonst in einem großen und wichtigen Irrthum ist; so fühlen wir eine starke Begierde ihn zurecht zu weisen. Wenn wir sehen, daß Ulysses das Geheimnis seiner Ankunft beym Philoktet nothwendig verbergen muß, und es doch selbst verräth; so entstehet in uns eine lebhafte Besorgnis. Wir sind in der größten Verlegenheit, wenn wir die Clytemnestra bey ihrer Ankunft in Aulis so vergnügt sehen, da wir doch wissen, wie sehr sie sich betrügt; und wir fühlen ein ausnehmendes Vergnügen, wenn wir einen Bößwicht, wie Aegysth ist, über seine vermeinte Glükseeligkeit in dem Augenblik frohloken sehen, da der Dolch ihn zu ermorden, schon gezogen ist. Ueberhaupt sind solche Lagen, wo der Zuschauer die handelnden Personen über Hauptangelegenheiten im Irrthum sieht, der ihnen bald wird benommen werden, höchst intressant. Was kann die Neugierd und Erwartung lebhafter reizen, als wenn wir die Elektra beym Sophokles den Orestes, der vor ihr steht, als todt beweinen sehen, da wir wissen, daß er auf dem Punkt steht, sich erkennen zu geben?

Es giebt Lagen, die blos den Verstand und die Neugierd intreßiren, da man äußerst begierig ist zu sehen, wie die Sachen laufen werden; wie sich eine Person aus einer großen Verlegenheit heraushelfen, oder zum Zwek kommen wird; wie hier die Unschuld, dort das Verbrechen an den Tag kommen wird, wo wir gar keine Möglichkeit dazu sehen. Solche Lagen sind allemal, als sittliche oder politische Aufgaben anzusehen, deren Auflösung wir von dem Dichter zu erwarten haben. Versteht er die Kunst, sie natürlich, ohne erzwungene Maschienen, ohne Hülfe völlig unwahrscheinlicher ohngefährer Zufälle aufzulösen, so hat er dadurch unsre Erkenntniß erweitert. Also können solche, blos für die Neugierd intressante Lagen, ihren guten Nutzen haben. Es kommen in den menschlichen Geschäften unzählige Lagen vor, wo es äußerst schweer ist, mit einiger Zuversicht eine Parthie zu nehmen. Je mehr Fälle von solchen Lagen, und deren Entwiklung uns bekannt sind, je mehr Fertigkeit müssen wir auch haben, uns selbst in ähnlichen Fällen zu entschließen. Und dieses ist einer der Vortheile, die wir aus der epischen und dramatischen Dichtkunst ziehen können, wenn nur die Dichter eben so viel Verstand und Kenntniß des Menschen, als Genie und Einbildungskraft haben.

Andre Lagen sind mehr leidenschaftlich, und dienen hauptsächlich unser Herz zu prüfen, und jede Empfindung, der es fähig ist, darin rege zu machen. Man kann sich in traurigen, fürchterlichen, verzweifelnden, auch in schmeichelhaften, hofnungsvollen, fröhlichen Lagen befinden. Alsdenn ist die ganze empfindende Seele in ihrer größten Lebhaftigkeit. Man lernet sein eigenes Herz nie besser kennen, als wenn man Gelegenheit hat, sich in Lagen zu finden, die auf das Gluk des Lebens starken Einfluß haben.

Die Dichter müssen demnach keine Gelegenheit versäumen, uns, wenigstens als Zuschauer, oder Zeugen in solche Lagen zu setzen. Die epischen und dramatischen Dichter haben die besten Gelegenheiten hiezu; und müssen dieses für eine ihre wichtigsten[652] Angelegenheiten halten. Je mehr Erfahrung und Kenntnis der Welt und der Menschen der Dichter hat, je geschikter ist er dazu; denn das bloße Genie, ohne genugsame Kenntnis der Welt, ist dazu nicht hinreichend.

Hat er eine merkwürdige Lage gefunden, so muß er sich Mühe geben, uns dieselbe recht lebhaft vorzustellen: er muß wissen, unsre Aufmerksamkeit eine Zeitlang auf derselben zu erhalten. Er soll deswegen mit der Handlung nicht forteilen, bis er gewiß vermuthen kann, daß wir die Lage der Sachen völlig gefaßt haben. Er muß eine Zeitlang nichts geschehen lassen; sondern entweder durch die Personen, die bey der Handlung intreßirt sind, oder, im epischen Gedicht, durch seine Anmerkungen und Beschreibungen, uns die wahre Lage der Sachen so schildern, daß wir sie ganz übersehen. Die Regel des Horaz


Semper ad eventum festinat et in medias res,

Non secus ac notas, auditorem rapit. –


hat nicht überall statt. Bey merkwürdigen Lagen muß man nichts zur Entwiklung der Sachen geschehen lassen, bis wir den gegenwärtigen Zustand der Dinge völlig gefaßt haben.

Quelle:
Sulzer: Allgemeine Theorie der Schönen Künste, Band 2. Leipzig 1774, S. 651-653.
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