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Vollkommenheit

[1239] Vollkommenheit. (Schöne Künste)

Vollkommen ist das, was zu seiner Völle gekommen, oder was gänzlich, ohne Mangel und Ueberfluß das ist, was es seyn soll. Demnach besteht [1239] die Vollkommenheit in gänzlicher Uebereinstimmung dessen das ist, mit dem was es seyn soll, oder des Würklichen mit dem Idealen. Man erkennet keine Vollkommenheit, als in so fern man die Beschaffenheit einer vorhandenen Sache gegen ein Urbild, oder gegen einen, als ein Muster festgesezten Begriff hält. Es giebt zwar Fälle, wo wir über Vollkommenheit urtheilen ohne völlig und gänzlich bestimmt zu wissen, was ein Gegenstand in allen möglichen Verhältnissen genommen, seyn soll; aber alsdenn beurtheilen wir auch nicht die ganze Vollkommenheit solcher Dinge, sondern nur das, davon wir einen Urbegriff haben. Wenn uns etwas von Geräthschaft, ein Instrument, eine Maschine, zu Gesichte kommt, deren besondere Art oder Bestimmung uns völlig unbekannt ist, so halten wir doch etwas davon gegen festgesezte Urbegriffe; wir sagen uns, dieses ist ein mechanisches Instrument, oder eine Maschine, u.s.f. Ohne näher zu wissen, was es seyn soll, sehen wir in vielen Fällen, daß etwas daran fehlt, daß etwas daran zerbrochen, oder daß etwas, das mit dem übrigen nicht zusammenhängt, oder irgend etwas, das unsern Begriff von der Sache entgegen ist; und in so fern entdeken wir Unvollkommenheit darin. Eben so kann es auch seyn, daß wir eine uns in ihrer besondern Art unbekannte Sache vollkommen finden, weil wir sie gegen den Urbegriff einer etwas höheren Gattung, oder einer allgemeinern Classe der Dinge halten. Wann wir ein uns unbekanntes Thier sehen, das wir zu keiner Art zählen können, so erkennen wir doch überhaupt, daß es ein Thier ist, und beurtheilen, ob es das an sich hat, was zu einem Thier gehört. Wären wir in der Ungewißheit, ob es ein Thier oder eine Pflanze sey, so würden wir doch urtheilen, daß es zu der Classe der Dinge gehört, die erzeugt werden, allmählig wachsen und einen innern Bau haben, der dies allmählige Wachsen verstattet u.s.f. Und in so fern wär es möglich Vollkommenheit oder Unvollkommenheit darin zu entdeken.

Durch Beobachten und Nachdenken bekommt jeder Mensch eine Menge Grund- oder Urbegriffe, (pronoïæ, anticipationes, wie die alten Philosophen sie nannten) gegen die er denn alles, was ihm vorkommt, hält, um zu beurtheilen, was es sey, zu welcher Classe, Gattung, oder Art der Dinge es gehöre. Je mehr ein Mensch des Nachdenkens gewohnt ist, je mehr deutliche Begriffe er hat, je geneigter ist er überall Vollkommenheit oder Uebereinstimmung dessen, was er siehet, mit seinen Urbegriffen zu suchen und zu beurtheilen.

Die Entdekung der Vollkommenheit ist natürlicher Weise mit einer angenehmen Empfindung begleitet. Dieses können wir hier als bekannt und als erklärt oder erwiesen annehmen, um daraus den Schluß zu ziehen, daß die Vollkommenheit ästhetische Kraft habe, folglich ein Gegenstand der schönen Künste sey. Doch ist sie es nur in so fern, als sie sinnlich erkannt werden kann. Eine Maschine von großer Vollkommenheit, als z.B. eine höchst genau gearbeitete und richtig gehende Uhr; die richtigste und genaueste Auflösung einer philosophischen, oder mathematischen Aufgabe, der bündigste Beweiß eines Sazes, sind vollkommene Gegenstände; doch nicht Gegenstände des Geschmaks, weil ihre Vollkommenheit sehr allmählig und mühesam durch deutliche Vorstellungen erkannt wird. Nur die Vollkommenheit, die man anschauend, ohne vollständige und allmählige Entwiklung, sinnlich erkennt und gleichsam auf einen Blik übersieht, ist ein Gegenstand des Geschmaks. Wird sie nicht erkannt, sondern blos in ihrer Würkung empfunden, so bekommt sie den Namen der Schönheit.

Es giebt verschiedene Arten des Vollkommenen, eine Vollkommenheit in Zusammenstimmung der Theile zur äußerlichen Form, eine Vollkommenheit in der Zusammenstimmung der Würkungen: eine absolute Vollkommenheit, die aus nothwendigen ewigen Urbegriffen beurtheilet wird, und eine relative, die man aus vorausgesezten, oder hypothetischen Urbegriffen beurtheilet. So sind insgemein alle Reden, die Homer seinen Personen in den Mund legt, nach der Kenntniß, die wir von ihren Charakteren und der Lage der Sachen haben, höchst vollkommen.

Auch Wahrheit, Ordnung, Richtigkeit, Vollständigkeit, Klarheit, sind im Grunde nichts anders, als Vollkommenheit, und gehören in dieselbe Classe der ästhetischen Kraft, weil sie die Vorstellungskraft gänzlich und völlig befriedigen. Was wir aber über alle diese Arten des Vollkommenen zum Gebrauch des Künstlers zu erinnern fanden, ist bereits in dem Artikel Kraft, und in einigen andern Artikeln angemerkt worden.1

Vollkommenheit, von welcher Art sie sey, ist allemal ein Werk des Verstandes und würkt auch unmittelbar [1240] nur auf den Verstand. Wie viel Geschmak und Empfindung ein Künstler haben mag, so muß noch Verstand und Beurtheilung hinzukommen, wenn er etwas machen soll, das durch Vollkommenheit gefällt.

Quelle:
Sulzer: Allgemeine Theorie der Schönen Künste, Band 2. Leipzig 1774, S. 1239-1241.
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