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Poesie

[62] Poesie (griech., von poiein, »machen, schaffen«) oder Dichtkunst ist die Kunst der ästhetisch wertvollen Darstellung durch Worte. Ästhetisch wertvoll ist eine solche Darstellung dann, wenn sie in letzter Linie darauf ausgeht, die Gefühlsinhalte des Lebens zu erschließen, und wenn sie weder der logischen Erkenntnis, noch dem ethischen Wollen dienstbar gemacht wird. Über die Bedingungen, unter denen eine derartige ästhetisch befriedigende Darstellung zustande kommt, s. den Artikel »Ästhetik«. Als Kunst der Darstellung durch Worte ist die P. nächstverwandt der Musik, die ja auch in Lauten, nicht in sprachlichen, aber in musikalischen Lauten zu uns redet. Sie ist ebendamit in gewissem Sinne, wie die Musik, eine Kunst der Sukzession, d. h. eine Kunst, welche die Teile des Darzustellenden nicht gleichzeitig, sondern nacheinander uns entgegenführt. Aber die Sukzession ist doch in beiden Fällen wesentlich verschieden: während nämlich in der Musik ein in sich geschlossenes Gebilde nur durch die vollständige Abfolge der in sich einheitlichen und zusammengehörigen Tonreihen zustande kommt, vermag die P. durch den Inhalt der Worte ein Ganzes (etwa die Vorstellung eines Schlosses, einer Person oder auch eines Geschehnisses) vorwegzunehmen, um erst hierauf allmählich die Einzelheiten des Gegenstandes oder Vorganges durch Beschreibung oder Erzählung auszumalen oder zu vervollständigen. Sie setzt ihre Gebilde nicht mosaikartig zusammen, sondern sie weiß unsre Phantasie zwischen Gesamtvorstellungen und Teilvorstellungen gefällig hin und her zu lenken. Die P. unterscheidet sich von der Musik weiterhin dadurch, daß sie nicht, wie diese, nur Inneres, sondern auch Äußeres (sinnlich Wahrnehmbares), nicht lediglich Stimmungen oder allgemeinste Weisen der seelischen Erregung, sondern konkrete Objekte, Vorgänge, individuelle Erlebnisse, inhaltlich vollbestimmte Gedanken, Gefühle etc. zu Gegenständen der Darstellung hat. In dieser Hinsicht tritt die P. mit den bildenden Künsten, Plastik und Malerei, auf eine Linie. Anderseits steht sie im Gegensatz zu diesen Künsten dadurch, daß die P. alles, was sie durch ihr Darstellungsmittel, die Worte, ausdrückt, sei es Äußeres oder Inneres, lediglich unsrer Phantasie vorführt, nicht wie Plastik und Malerei Formen und Farben der Außenwelt unmittelbar den Sinnen darbietet. Auch darf die P. in weit größerm Umfang als die bildenden Künste den abstrakten Gedanken Ausdruck verleihen, wenn diese nur der konkreten Gesamtanschauung dienstbar und untergeordnet bleiben. Ferner ist die P. als Kunst der Sukzession den bildenden Künsten auch in der Darstellung des Äußern insofern überlegen, als sie nicht nur beharrendes Dasein und momentane oder dauernde Zustände, sondern auch Bewegungen, Veränderungen, Vorgänge, Handlungen unmittelbar, obzwar nur für die Phantasie, darzustellen vermag, während die bildenden Künste sich begnügen müssen, aus den dargestellten Zuständen oder Momenten die Bewegungen oder Veränderungen erschließen zu lassen. Die P. kann demnach, was sie verliert, indem sie nur an die Phantasie sich wendet, ganz oder teilweise dadurch wiedergewinnen, daß sie die Darstellung des Geschehens sich angelegen sein läßt. Sie vermag auf diese Weise alles das Schöne und Erhabene, das erst in einem Geschehen oder einem Wechsel des Geschehens, vor allem in seinem eignen sukzessiven Sichausleben und -Auswirken, sei es überhaupt, sei es vollständig, zutage tritt, zum Gegenstand der Darstellung zu machen und sich so über alle andern Künste hinaus zu erweitern und zu vertiefen. In der sukzessiven Darstellungsweise der P. liegt aber auch eine Gefahr, nämlich die Gefahr, daß wir bei der ihr entsprechenden sukzessiven Auffassung des Dargestellten beständig eins über dem andern verlieren, daß dasjenige, was uns jetzt beschäftigt, die Aufmerksamkeit dem Folgenden entzieht oder umgekehrt von ihm völlig verschlungen wird, daß also für unsre Phantasie nur ein bunter Wechsel von Inhalten, niemals ein einheitliches Ganze zustande kommt. Damit diese Gefahr vermieden werde, bedarf es in der P. mehr als in den bildenden Künsten der innern Beziehungen zwischen den einzelnen Elementen. Es müssen solche Beziehungen die Aufmerksamkeit einerseits nach vorwärts, anderseits ebensowohl nach rückwärts leiten, also Früheres mit Späterem verbinden und zu Einem verweben. Und es genügt nicht, daß das Einzelne mit Einzelnem durch solche Beziehungen verbunden sei, sondern es müssen ebensolche Beziehungen im großen die Verknüpfung herstellen. Trotz aller solcher das Einzelne zum Ganzen verwebender Beziehungen bleibt aber doch in der poetischen Darstellung das Einzelne, weil es nur für die Phantasie besteht und auch an ihr nur vorüberzieht, an sich relativ bedeutungslos. Die einfache Nennung etwa eines Merkmals, eines Dinges oder einer Persönlichkeit im Verlaufe der poetischen Darstellung hat an sich geringe Kraft. Diesem Mangel vermag die P. zu begegnen, indem sie das zu Charakterisierende, statt es nur einfach zu bezeichnen, sukzessive in mannigfacher Weise beleuchtet, es sich entwickeln und jetzt unter diesen, jetzt unter jenen Umständen sich betätigen, jetzt nach dieser, jetzt nach jener Seite seine Eigenart kundgeben läßt. Indem die P. solche verschiedenartige Momente der Darstellung Eines und Desselben nicht nur aneinanderreiht, sondern zugleich durch jene Beziehungen miteinander verwebt, bewirkt sie zugleich, daß diese Momente nicht nur als einzelne wirken, sondern auseinander hinweisen, sich wechselseitig erleuchten, modifizieren, korrigieren und in diesem Zusammenwirken trotz der Sukzession ein sicheres Bild ergeben. Endlich hat die relative Kraftlosigkeit des Einzelnen in der poetischen Darstellung noch die wichtige Folge, daß in der P. das an sich Häßliche oder ästhetisch Unbefriedigende in ungleich höherm Grade möglich, d. h. in ungleich höherm Grade zu positiver, ästhetischer Wirkung verwertbar ist, als in andern Künsten. Je mehr das einzelne Häßliche, wie alles Einzelne überhaupt, an sich zurücktritt, um so mehr kann es Durchgangspunkt werden für ein Schönes, Hintergrund, von dem ein Schönes oder ästhetisch positiv Wertvolles sich abhebt, Boden, aus dem ein solches erwächst, Objekt, an dem es sich betätigt, dem es standhält, oder das durch das positiv Wertvolle überwunden wird und so die Macht des letztern erweist (s. Häßlich). Vor allem gelangt die Tragik (s. d.), der Humor (s. d.) und jede Art des Konfliktes erst in der P. zu voller Bedeutung. Jede Tragik, jeder Humor, jeder Konflikt schließt ja ein an sich Unbefriedigendes oder (im weitern Sinne des Wortes) Häßliches in sich.

Alles in allem erscheint so die P. als die umfassendste, reichste und freieste unter allen Künsten, vor andern dazu befähigt, weite Zusammenhänge des Lebens zu umspannen, anderseits in die Tiefe zu gehen und überall das ästhetisch Wertvolle zu finden und aus Licht zu ziehen. Außer den bezeichneten Mitteln, eine solche Wirkung zu üben, hat die P. im einzelnen noch allerlei andre Mittel. Als Kunst der Sukzession vermag sie in mannigfacher Weise Erwartung zu erregen[62] und bald unmittelbar zu befriedigen, bald zu spannen und eine erhöhte Befriedigung zu erzeugen; sie kann bald rasch vorwärts drängen, bald zurückhalten, jetzt starke Wirkungen häufen, jetzt ein wirkungsvolles Moment ins Einzelne sich ausgestalten und auswirken lassen, einmal lebhaft erregen, dann den Wellenschlag der seelischen Erregung im Hörer in ruhige Bahnen lenken, bald stürmen, bald träumen etc. Der Reichtum der poetischen Sprache, besonders der »ästhetischen Apperzeptionsformen« (s. d.), setzt sie in den Stand, mit großer Freiheit in diesem oder jenem Punkte zu beleben, zu steigern, Phantasie und Gefühl in besonderer Weise anzuregen, die Aufmerksamkeit zu lenken, Wesentliches zu betonen etc.; die poetische Form, die gebundene Rede, auch schon der freiere, durch keine strenge Regel gebundene Rhythmus und Wohlklang schaffen für die Darstellung eine Stimmung, geben ihr ein Kolorit, einen elementaren Gefühlshintergrund, eine begleitende, verstärkende und vereinheitlichende Resonanz. Wie jedes Kunstwerk, so bedarf das poetische der Einheit und der Einheitlichkeit, d. h. des sich Zusammenschließens aller Gedanken oder Motive in einem Punkte oder des Abzielens auf einen solchen, und des Zusammenwirkens aller Elemente der Darstellung, des Stoffes, der Sprache, der äußern Form etc. zu einem in sich einstimmigen Ganzen. Es bedarf anderseits der Gliederung. Wie bei jedem Kunstwerk, so findet auch beim poetischen eine Auswahl dessen statt, was in ihm zur Einheit sich verbindet und in die Gliederung eingeht; ein Herausheben des Bedeutungsvollen, anderseits ein »ästhetisches Negieren«. Das Mittel zu solchem Negieren ist bei ihr das denkbar einfachste; es besteht im Verschweigen. Übrigens kann die P. wegen des Reichtums verknüpfender Beziehungen, die ihr zu Gebote stehen, und wegen der Freiheit in ihrer Verwendung in besonderm Maße nicht nur vieles, sondern auch räumlich, qualitativ und schließlich selbst zeitlich weit Entlegenes zur Einheit verbinden, Fäden da und dort scheinbar zusammenhangslos anspinnen und schließlich doch sie alle in einen einheitlichen Zusammenhang verweben. Auch dies ist dem poetischen Kunstwerk mit andern gemein, daß es ein in sich abgeschlossenes Ganze sein muß, d. h. vor allem so beschaffen, daß es ohne Hinzudenken oder Hinzudichten seitens des Hörers oder Lesers aus sich selbst verständlich ist und keine Frage, deren Beantwortung zur einheitlich abgeschlossenen ästhetischen Wirkung erforderlich ist, in ihm unbeantwortet bleibt. Die Art der Einheit und Abgeschlossenheit, wie überhaupt jede an das poetische Kunstwerk zu stellende Forderung modifiziert sich je nach der Besonderheit der poetischen Gattung. Die Grundgattungen sind die lyrische, die epische, die dramatische und die didaktische Dichtung. Über sie wie über ihre Unterarten (Lyrik, Epos, Roman, Novelle, Märchen, Drama, Lehrgedicht etc.) vgl. die betreffenden Artikel.

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 16. Leipzig 1908, S. 62-63.
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