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Kompositionslehre

[349] Kompositionslehre, die Lehre von der musikalischen Komposition (s. d.); sofern man K. von der Harmonielehre und dem Kontrapunkt unterscheidet, versteht man darunter die Lehre von den musikalischen Formen, d. h. vom Aufbau der Themen, der Gegenüberstellung verschiedener Themen und Durchführung derselben, von den speziellen Bestimmungen, die sich in dieser Beziehung für die einzelnen Gattungen von Musikstücken historisch herausgebildet haben, ferner von den verschiedenen Stilarten und der Konstruktion der großen Formen. Keine Kunst kann der Form entbehren, die nichts andres ist als der Zusammenschluß der Teile des Kunstwerkes zum einheitlichen Ganzen; dieser Zusammenschluß ist aber nur möglich, wenn die verschiedenen Elemente in innerer Beziehung zueinander stehen, andernfalls ist das Resultat nur eine äußere Vereinigung, ein Aneinanderreihen. Die oberste Forderung für alle Formgebung, auch die musikalische, ist daher Einheit; diese kommt aber erst zur vollen Entfaltung ihrer ästhetischen Wirkung am Gegensätzlichen, als Kontrast und als Widerspruch (Konflikt). Die Einheit in der speziellen musikalischen Gestaltung tritt uns entgegen im konsonanten Akkord, in der Ausprägung einer Tonart, dem Festhalten einer Taktart, eines Rhythmus, in der Wiederkehr rhythmisch-melodischer Motive, der Bildung und Wiederkehr abgerundeter Themata; der Kontrast und Konflikt im Harmoniewechsel, der Dissonanz, Modulation, dem Wechsel verschiedener Rhythmen und Motive, der Gegenüberstellung im Charakter gegensätzlicher Themata. Der Kontrast muß in einer höhern Einheit aufgehoben, der Konflikt gelöst werden, d. h. die Akkordfolge muß eine Tonalität (Tonart) ausprägen, die Modulation muß sich um die Haupttonart bewegen und zu ihr zurückführen, die Dissonanz muß sich auflösen, aus den Wirren der Durchführungsteile müssen die Themata wieder heraustreten etc. So ergeben sich die Gesetze für die spezifisch musikalische Gestaltung aus allgemeinen ästhetischen Gesetzen. Innerhalb der dadurch vorgeschriebenen Normen sind vielfache Bildungen möglich. Mehrsätzige (zyklische) Werke werden in ähnlicher Weise aus Sätzen verschiedenen Charakters, verschiedener Tonart und Taktart zusammengesetzt; doch ist auch für sie eine höhere Einheit ästhetisches Gebot; die Kontrastwirkungen beruhen auf Gegensätzlichkeit, nicht auf Heterogenität.

Durch die Anwendung der einsätzigen und zyklischen abstrakten Formen auf die nach Zahl und Art der zusammenwirkenden Instrumente, nach Zweck und Stilart, Zusammenwirken mit andern Künsten etc. verschiedenen Musikgattungen entstehen nun viele konkrete Formen, deren Name schon eine bestimmte Vorstellung erweckt; nämlich A. für die reine Instrumentalmusik: Etüde, Präludium (Phantasiestück, Lied ohne Worte etc.), Tanzstücke (Allemande, Bourree, Branle, Chaconne, Tschardasch, Gavotte, Galopp, Gigue, Hornpipe, Loure, Masurka, Menuett, Passacaglia, Passamezzo, Pavane, Polka, Polonäse, Rigaudon, Sarabande, Walzer etc.), Marsch (Trauermarsch etc.), Fuge, Toccata, Suite, Partite, Sonate, Phantasie, Duo, Trio, Quatuor (Quartett), Quintuor (Quintett), Sextuor (Sextett), Septuor (Septett), Oktett, Nonett, Divertimento, Serenade, Kassation, Konzert, Ouvertüre, Symphonie. B. für Vokalmusik: Lied, Chorlied, Kanzone (Chanson), Duett, Terzett, Quartett etc., Antiphonie, Psalmodie, Sequenz, Hymne, Choral, Motette, Madrigal, Ode, Messe, Requiem etc. C. für begleitete Vokalmusik ohne u. mit Szene: Rezitativ, Arioso, Kavatine, Arie, Konzert, Kantate, Oratorium, Oper, Passion, Romanze, Ballade, Legende etc. Über die einzelnen Formen vgl. die gleichnamigen Artikel. Die theoretische Erklärung geht bei der K. in der Regel Hand in Hand mit den praktischen Übungen. Von Handbüchern der K. sind zu empfehlen: Reicha, Traité de haute composition musicale (Par. 1824–26, 2 Bde.; deutsch von Czerny, Wien 1834); Marx, Die Lehre von der musikalischen Komposition (Leipz. 1837–47, 4 Bde., mehrfach aufgelegt; neu bearbeitet von Riemann, 1887–90); Sechter, Grundsätze der musikalischen Komposition (das. 1853 bis 1854, 3 Bde.); Lobe, Lehrbuch der musikalischen Komposition (das. 1850–67; zum Teil neu bearbeitet von Kretzschmar, 1884–87); Riemann, Katechismus der K. (3. Aufl., das. 1905) und Große K. (Bd. 1 u. 2, Berl. u. Stuttg. 1902–03); D'Indy, Cours de composition musicale (Par. 1902, Bd. 1) und die in Einzelbänden (Harmonielehre, Kontrapunkt, Fuge, Formenlehre etc.) erschienenen Kompositionslehren von E. Fr. Richter, S. Jadassohn und Eb. Prout (s. diese Artikel).

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 11. Leipzig 1907, S. 349.
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