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Kontrapunkt

[444] Kontrapunkt, nach heutigem gewöhnlichen Gebrauch des Wortes ein besonderer Teil der musikalischen[444] Kunstlehre, nämlich im Gegensatz zur Harmonielehre, die an bezifferten Bässen geübt wird, die Übung des mehrstimmigen Satzes an nicht bezifferten Aufgaben, d. h. also die mehrstimmige Aussetzung einer gegebenen Melodie ohne jedweden weitern Anhalt. Im engern Sinne versteht man unter kontrapunktischer Behandlung der Stimmen den konzertierenden Stil, in welchem die der Hauptstimme gegenübertretenden Stimmen nicht nur in der primitivsten Form die Harmonie ausprägen, in deren Sinn die melodische Phrase zu verstehen ist, sich vielmehr ebenfalls melodisch gestalten. Eine gute kontrapunktische (polyphone) Stimmführung ist daher die den einzelnen Stimmen Selbständigkeit gebende. Die Versuche, den zwei Stimmen des nur extemporierten Discantus (s. d.) eine dritte, ja vierte Stimme hinzuzufügen, führten zur Notwendigkeit der schriftlichen Auszeichnung, für die um 1300 der Name K. (punctus contra punctum) aufkam. Der erste namhafte Meister des auch heute noch als kunstgerecht anerkannten Kontrapunktes ist der Engländer John Dunstaple, als dessen Schüler G. Binchois und G. Dufay angesehen werden. Zu übertriebener Künstelei der Imitationen wurde der musikalische Satz entwickelt durch die niederländischen Kontrapunktisten des 15. und 16. Jahrh.; erst im 17. und 18. Jahrh. klärte er sich ab zur Kunstform der Fuge (s. d.); der strenge Kanon (s. d.) mit schneller Stimmenfolge ist schließlich doch nur ein Kunststück, eine Spielerei. Von ungleich höherer Bedeutung für die Komposition ist der sogen. doppelte K., der so angelegt ist, daß die Stimmen vertauscht werden können, d. h. die obere zur untern gemacht wird. Man unterscheidet den doppelten K. in der Oktave, in der Dezime und Duodezime etc., je nachdem, ob er für die Umkehrung durch Versetzung in die Oktave, Dezime oder Duodezime berechnet ist. Eine klare Darlegung der verschiedenen Arten des doppelten Kontrapunktes und des Kanons gibt schon Zarlino in seinen »Istitutioni armoniche« (1558). Von neuern Lehrbüchern des Kontrapunktes seien die von J. J. Fux (1725), Padre Martini (1774), Albrechtsberger (1792), Cherubini (1820; deutsch hrsg. von Jansen, Köln 1896), Fétis (1825), H. Bellermann (4. Aufl., Berl. 1901), Bußler genannt, welche die altherkömmlichen Anschauungen festhalten und nicht auf der Harmonie, sondern der Intervallenlehre fußen, wobei sie das System der alten Kirchentöne zugrunde legen; dagegen sind die Werke von Dehn (B. Scholz), Richter, Tiersch, Prout, Riemann, Dräseke u. a. mit der Harmonielehre verwachsen, d. h. bei ihnen ist die Harmonielehre die eigentliche Schule und der K. die Probe aufs Exempel; durch jene muß der Schüler lernen, diesen instinktiv zu handhaben. Näheres s. bei den genannten Autoren.

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 11. Leipzig 1907, S. 444-445.
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