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Saint-Simonisten

[20] Saint-Simonisten (die) hießen die Mitglieder einer in Frankreich kurze Zeit bestehenden politisch-religiösen Gesellschaft, welche eine völlige Umgestaltung der bis jetzt bestehenden [20] und als sittlich geltenden gesellschaftlichen Ordnung und zugleich die Aufhebung des Christenthums beabsichtigte. Die Lehren, welche den religiös-politischen Ansichten dieser Gesellschaft zu Grunde liegen, sind die eines Philosophen, Claude Henri Grafen von Saint-Simon, welcher 1760 zu Paris geboren worden war, 1779 nach Amerika ging, nach Frankreich zurückgekehrt, erst hier wie dort Militair wurde, aber bald allein seinen wissenschaftlichen und auf die Verbesserung des menschlichen Zustandes gerichteten Plänen nachlebte und zu diesem Zwecke viele Reisen unternahm. Seit 1807 erließ er eine Reihe von Schriften, in welchen er seine Meinungen auszubreiten sachte. Nachdem er 1825 gestorben war, erhoben jene Meinungen seine Schüler, unter denen Bazard und Enfantin auszuzeichnen, zur Religion und begannen ihnen als solcher Ausbreitung zu geben. Die Juliusrevolution begünstigte sie in ihren Plänen, sodaß sie seitdem öffentlich auftreten durften. Sie bildeten nun eine Art Gemeinde, öffentliche Versammlungen und sendeten Missionare in die größten Städte Frankreichs. Die Vorstellung, durch welche sie am mächtigsten auf die Gemüther wirkten und sich eine große Anzahl von Anhängern verschafften, war die. daß es ein möglicher und nothwendig zu erstrebender Zweck sei, daß endlich in der Welt jede Art von Dienstverhältniß des einen Menschen gegen den andern aufhöre. Um diesen Zweck zu erreichen, wollten sie eine Gesellschaft bilden, in welcher jedes einzelne Mitglied nur für das Ganze eine Beschäftigung fände, wie sie seinen Fähigkeiten angemessen wäre, und einen seiner Arbeit entsprechenden Lohn. Vorrechte, durch die Geburt erlangt, sollte es in dieser Gesellschaft gar nicht geben, namentlich sollte auch das Vermögen nicht forterben, sondern dasselbe als allgemeines Eigenthum betrachtet werden. In dieser Gesellschaft sollte ebenso wenig ein Geschlechtsunterschied in Hinsicht auf Berechtigung in der öffentlichen Stellung anerkannt werden, sodaß das Weib mit dem Manne dieselbe Unabhängigkeit und Befähigung zu jeder Art von Erwerb genieße. Gelehrte, Künstler und Industrielle (die auf den Erwerb arbeitende Classe) bilden die drei Classen der Saint-Simonistischen Gesellschaft und die Vorsteher dieser Classen gehören zu den Priestern, welche die Obersten des Staates sein sollen, und an deren Spitze wieder ein oberster Vater (père suprême) steht. Die Liebe für die Gesellschaft und ihre Zwecke und die Größe der Fähigkeiten sind es, welche zum Priester würdig machen. Wer aber diese Fähigkeiten besitze, darüber können allein die schon bestehenden Priester entscheiden, und so ergänzen diese sich selbst durch Wahl. Erziehung und Gesetzgebung sind die Mittel der Regierung. Jene währt so lange als das Leben, und die Gesetzgebung ist nur als Fortsetzung derselben zu betrachten. Gott heißt den Saint-Simonisten das unendliche allgemeine Wesen, in welchem und durch das Alles ist. Das Universum ist nichts als die lebendige Offenbarung Gottes und der Mensch ist die begrenzte Erscheinung des Alllebens, seine Bestimmung unendliches Wachsthum in Gott, d.h. ununterbrochener Fortschritt in Kunst, Wissenschaft und Industrie.

Was die religiöse Seite des Saint-Simonismus betrifft, so ist dieselbe höchst schwach, indem weder Gott noch Mensch in der Würde der Persönlichkeit anerkannt ist und darum der Mensch ohne alle Befriedigung über die höchsten Interessen seines Geistes gelassen wird. Jede Aussicht in die Ewigkeit ist dem Menschen geraubt, denn es gibt für ihn keine individuelle Fortdauer, und ebenso die Vorstellung einer über sein Einzelwohl waltenden, ihn durch seine Schicksale zu einer höhern Bestimmung erziehenden Vorsehung. Nicht minder schwach sind aber auch die Lehren über den herzustellenden gesellschaftlichen Zustand unter den Menschen, so blendend sie auch in Augenblicke scheinen mögen. Da nämlich die Erwerbung von Besitzthum bei der Mehrzahl von Menschen wenn nicht der hauptsächlichste, doch der wichtigste Beweggrund zur Thätigkeit ist, so wird mit dem Eigenthum auch der Erwerbsthätigkeit selbst ein Ende gemacht, und da die Priester die Beherrscher der Gesellschaft sein sollen und zugleich sich durch Wahl selbst erzeugen, so ist an die Stelle der vermeintlichen und gepriesenen Freiheit die schlimmste Art von Aristokratie gesetzt, welche sich noch in keinem zu einiger Bildung erwachsenen Staate hat halten können. Alle Familienbanden werden durch den Saint-Simonismus aufgehoben und nicht sowol für das Allgemeine, als vielmehr zum Vortheil der Priesterclasse. Dies hat sich in der kurzen Geschichte der Saint-Simonistischen Gesellschaft selbst herausgestellt und daran ist sie gescheitert. Namentlich Enfantin war es, welcher ungescheut zu allen Folgerungen der Saint-Simonistischen Lehre fortschritt. Die Ehe sollte aufgehoben sein und eine dauernde Verbindung nur durch freien Willen beider Theile möglich sein; wenn aber ein oder der andere Theil eine Veränderung wünschte, so sollte es namentlich dem Priester zukommen, auszugleichen, sodaß zwischen den Priestern und den Nichtpriestern nicht blos eine geistliche, sondern auch eine fleischliche Vereinigung stattfände. Über die Vaterschaft ihrer Kinder sollte die Frau ohne Widerspruch die Entscheidung haben. Innerhalb der Saint-Simonistischen Gesellschaft selbst fand diese Lehre Widerspruch und nachdem sich Enfantin selbst 1831 zum obersten Vater ernannt hatte, entstand ein Zwiespalt, der endlich 1832 zur Auflösung der Gesellschaft führte. Ein neuer Versuch Enfantin's, die Gesellschaft neu zu begründen, führte zu einer Untersuchung, in deren Folge er und andere Saint-Simonistenhäupter zu Gefängniß und Geldstrafe verurtheilt wurden. Nähere Nachricht über die Saint-Simonisten findet man in den Werken von Bretschneider: »Der Saint-Simonismus und das Christenthum« (Lpz. 1832), und Veit: »Saint-Simon und der Saint-Simonismus« (Lpz. 1834).

Quelle:
Brockhaus Bilder-Conversations-Lexikon, Band 4. Leipzig 1841., S. 20-21.
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