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Staatsanwalt

[806] Staatsanwalt, der zur Wahrnehmung des öffentlichen Interesses in Rechtssachen und insbes. in Strafsachen bestellte Staatsbeamte; Staatsanwaltschaft (ministère public) die hierzu georduete ständige Behörde. Dem Altertum war ein solches Institut fremd. Der Ursprung der Staatsanwaltschaft ist in Frankreich zu suchen, woselbst die heutigen Staatsanwälte aus den fiskalischen Beamten (gens du roi, avocats généraux, procureurs du roi) hervorgingen, welche die königlichen Gerechtsame bei den Gerichten wahrnahmen und die fiskalischen Interessen zu vertreten hatten. Aber schon im Mittelalter wurde diesen Beamten auch die Wahrnehmung der öffentlichen Interessen verbrecherischen Handlungen gegenüber übertragen, und so entwickelte sich in Frankreich die strafprozessualische Tätigkeit der Staatsanwaltschaft als die hauptsächlichste, wenn auch nicht ausschließliche. Nach heutigem französischen Recht, wie dasselbe namentlich durch das Organisationsgesetz Napoleons 1. vom 20. April 1810 normiert ist, gilt nämlich der S. überhaupt als Wächter des Gesetzes. Er tritt daher auch in bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten, selbst wenn das staatliche Interesse direkt dabei nicht in Frage kommt, in Tätigkeit. Der S. vermittelt ferner den Verkehr des Justizministeriums mit den Gerichten; er nimmt als Vertreter der bürgerlichen Gesellschaft auch an Akten der freiwilligen Gerichtsbarkeit teil, vermittelt den Verkehr der Gerichte untereinander und mit dem Ausland, überwacht den Geschäftsgang der Gerichte, beantragt Disziplinaruntersuchungen, beaufsichtigt die Anwälte und die Subalternbeamten und überwacht das Gefängniswesen. In Strafsachen geht die Verfolgung aller verbrecherischen Handlungen und ebenso der Vollzug der Strafurteile von dem S. aus. Die Funktionen der Staatsanwaltschaft werden bei dem Kassationshof durch den Procureur général (Generalprokurator) und sechs Vertreter desselben (avocats généraux) wahrgenommen. Ebenso fungiert bei den Appellhöfen ein Generalprokurator, dem Generaladvokaten und Substituten (substituts du procureur général) beigegeben sind. Bei den Untergerichten sind Staatsanwälte (procureurs de la république) und Substituten oder Gehilfen derselben bestellt, während bei den Polizeigerichten die staatsanwaltlichen Funktionen von Polizeikommissaren wahrgenommen werden. Nach diesem französischen Muster ist die Staatsanwaltschaft in den meisten europäischen Staaten eingerichtet worden; doch beschränkte sich diese Nachahmung in Deutschland, mit Ausnahme der Rheinlande, auf die strafprozessualische Seite der staatsanwaltschaftlichen Tätigkeit. Die deutschen Justizgesetze von 1877 haben jene Einschränkung zur Regel erhoben. Die Zivilprozeßordnung kennt eine Mitwirkung der Staatsanwaltschaft im öffentlichen Interesse nur in Ehesachen und im Entmündigungsverfahren, wenn es sich darum handelt, eine[806] Person unter Zustandsvormundschaft zu stellen. Das deutsche Gerichtsverfassungsgesetz (§ 152) erklärt ausdrücklich, daß den Staatsanwälten eine Dienstaufsicht über die Richter nicht übertragen werden dürfe. Das Amt der Staatsanwaltschaft selbst wird bei dem Reichsgericht durch einen Oberreichsanwalt und durch mehrere Reichsanwälte, bei den Oberlandesgerichten, den Landgerichten und den Schwurgerichten durch einen oder mehrere Staatsanwälte und bei den Amtsgerichten und Schöffengerichten durch einen oder mehrere Amtsanwälte ausgeübt. Zum Oberreichsanwalt, zu Reichsanwälten und Staatsanwälten können nur zum Richteramt befähigte Beamte ernannt werden. Oberreichsanwalt und Reichsanwälte sind dem Reichskanzler untergeordnet, während hinsichtlich aller übrigen staatsanwaltschaftlichen Beamten die Landesjustizverwaltung das Aufsichts- und Leitungsrecht ausübt; den ersten Beamten der Staatsanwaltschaft bei den Oberlandesgerichten und Landgerichten sind alle Beamten der Staatsanwaltschaft ihres Bezirks untergeordnet. Die ersten Staatsanwalte pei den Oberlandesgerichten, und in manchen Staaten auch die bei den Landgerichten, führen den Titel Oberstaatsanwalt. Der frühere Amtstitel Generalstaatsanwalt für den S. bei den Gerichten höchster Instanz ist gegenwärtig noch oder wieder im Gebrauch in Bayern (Oberstes Landesgericht), Preußen (Kammergericht) und Sachsen (Oberlandesgericht). Zu Staatsanwaltschaftsräten werden seit 1898 in Preußen Erste Staatsanwälte nach mindestens zwölfjähriger richterlicher Dienstzeit befördert. Die Bezeichnung Kronanwalt ist, wenigstens für Staatsanwälte, nicht mehr üblich. In Österreich führt der S. bei dem obersten Gerichts- und Kassationshof in Wien den Titel Generalprokurator. Bei den österreichischen Oberlandesgerichten fungieren Oberstaatsanwälte. Die Beamten der Staatsanwaltschaft haben den dienstlichen Weisungen ihres Vorgesetzten nachzugehen. Die Beamten des Polizei- und Sicherheitsdienstes sind Hilfsbeamte der Staatsanwaltschaft und sind in dieser Eigenschaft verpflichtet, den Anordnungen der Staatsanwälte und der diesen vorgesetzten Beamten Folge zu leisten. In Strafsachen besteht die Tätigkeit der Staatsanwaltschaft nach der deutschen Strafprozeßordnung im wesentlichen in der Vorermittelung verbrecherischer Handlungen (Vorverfahren, Ermittelungs-, Skrutinialverfahren) sowie in der Erhebung und Vertretung der öffentlichen Klage bei strafbaren Handlungen. Nur bei Körperverletzungen und Beleidigungen, neuestens auch (nach dem Reichsgesetz vom 27. Mai 1896) bei unlauterm Wettbewerb, soweit diese Vergehen auf Antrag verfolgt werden, ist es Sache des Verletzten oder des an seiner Stelle zur Stellung des Strafantrags Berechtigten, die Strafverfolgung mittels der Privatklage zu betreiben (sogen. prinzipate Privatklage). Bloß dann, wenn dies im öffentlichen Interesse geboten erscheint, übernimmt auch in solchen Fällen der S. die Strafverfolgung. Die sogen. subsidiäre Privatklage, d. h. das Recht des Verletzten, im Fall einer Ablehnung der Strafverfolgung seitens der Staatsanwaltschaft diese Strafverfolgung selbst zu betreiben, wurde in die Strafprozeßordnung nicht aufgenommen. Es ist aber für den Fall, daß die Staatsanwaltschaft dem bei ihr angebrachten Av trag auf Erhebung der öffentlichen Anklage keine Folge gibt, das Recht der Beschwerde und die Berufung auf gerichtliche Entscheidung gegeben (s. Legalitätsprinzip). Auf diese Weise ist also das sogen. Anklagemonopol der Staatsanwaltschaft abgeschwächt. Übrigens kann die Staatsanwaltschaft gerichtlichen Entscheidungen gegenüber auch zugunsten des Beschuldigten von den gesetzlich zulässigen Rechtsmitteln Gebrauch machen. Endlich ist auch die Strafvollstreckung Sache der Staatsanwaltschaft. Durch die Reichsgesetze vom 20. Mai 1898 und 14. Juli 1904 wurde bestimmt, daß Anträge auf Entschädigung wegen Freisprechung im Wiederaufnahmeverfahren und wegen unschuldig erlittener Untersuchungshaft bei der Staatsanwaltschaft anzubringen sind, der auch die Begutachtung obliegt. In Zivilsachen hat die Staatsanwaltschaft insonderheit mitzuwirken in Ehesachen (s. Eherecht VI, S. 407), Entmündigungssachen (s. Entmündigung, S. 838), bei Todeserklärung (s. d.). Über die Mitwirkung des Staatsanwalts bei dem ehrengerichtlichen Verfahren gegen Rechtsanwälte s. Ehrengericht. Außerdem stehen ihr landesrechtlich bei Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit verschiedene Obliegenheiten zu. Dem Gesagten ist in bezug auf Österreich anzufügen, daß die Zivilprozeßordnung (1895) eine Mitwirkung der Staatsanwaltschaft in Zivilprozeßsachen überhaupt nicht kennt, ferner, daß im Strafprozeß die oben erwähnte subsidiäre Privatklage zulässig ist (§ 48 ff.). Dazu überhaupt die von der Staatsanwaltschaft handelnden § 29–37 der österreichischen Strafprozeßordnung. Vgl. v. Holtzendorff, Die Umgestaltung der Staatsanwaltschaft (Berl. 1865); Keller, Die Staatsanwaltschaft in Deutschland (Wien 1866); Gneist, Vier Fragen zur Strafprozeßordnung (das. 1874); v. Marck und Kloß, Die Staatsanwaltschaft bei den Land- und Amtsgerichten (2. Aufl., Berl. 1903); Otto, Die preußische Staatsanwaltschaft (das. 1899); Massabiau, Manuel du ministère public (4. Aufl., Par. 1876, 3 Bde.; »Répertoire« dazu, 1885).

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 18. Leipzig 1909, S. 806-807.
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