[362] Leichenverbrennung (Feuerbestattung, Kremation, hierzu Tafel »Leichenverbrennung«), eine Form der Totenbestattung, bei der die Leiche in hoher Temperatur verbrannt wird, so daß nur die mineralischen Bestandteile (die Asche) übrigbleiben. Diese Form, die im Altertum sehr gebräuchlich war (s. Totenbestattung), ist seit der Verbreitung des Christentums in Europa durch die Beisetzung im Erdgrabe verdrängt worden, und erst in neuester Zeit wird sie aus sanitären, ökonomischen und ästhetischen Gründen und unter Anwendung aller Hilfsmittel der Technik wieder einzuführen gesucht. Man verweist dabei auf die Übelstände der Beerdigung: Inanspruchnahme von viel Grund und Boden, dessen Beschaffung besonders den Großstädten die größten Schwierigkeiten verursacht (der Zentralfriedhof für den Südwesten Berlins bei Stahnsdorf liegt 20 km von der Stadt entfernt), Verunreinigung von Trink- und Grundwasser, Möglichkeit der Verbreitung ansteckender Krankheiten, und stellt denselben entgegen, daß der vollständige Zersetzungsprozeß der Leiche durch die Verbrennung sehr viel schneller erfolgt als durch die Verwesung, daß er ohne alle Übelstände oder Belästigung selbst für die nächste Nachbarschaft vorgenommen werden kann und zwar in einer Form, die der Pietät vollkommen Rechnung trägt, daß die Verbrennung bei allgemeiner Einführung sich billiger stellen wird als die Beerdigung, und daß die Hinterbliebenen das Andenken der Verstorbenen durch Beisetzung der Asche in Urnen, in monumentalen Gebäuden (Kolumbarien, Urnenhallen, s. d.) oder im Freien (Urnenhainen, s. d.), die häufig mit den Einäscherungsanstalten (Krematorien, Brandtempeln, vgl. Tafel, Fig. 1 u. 2) verbunden sind, in einer dem ästhetischen Gefühl entsprechenden Weise ehren können. Zur Ausführung der L. sind viele Öfen konstruiert worden, von denen der Siemenssche zuerst allen Anforderungen genügte. Bei Versuchen in Dresden bewährte sich der Ofen 1874 sehr gut. In fünf Stunden wurde er auf etwa 850° angeheizt, und in[362] zwei Stunden wurde ein Leichnam vollkommen verbrannt. Dieser Ofen besteht aus einem Generator, in dem aus dem Heizmaterial brennbares Gas erzeugt wird. Dies strömt in einen Regenerator, verbrennt hier unter Zuführung von Luft und erhitzt dabei das Ziegelmaterial des Regenerators auf Weißglut. Die heißen Verbrennungsgase durchströmen dann noch den Raum, der die Leiche aufnimmt, und entweichen in die Esse. Kurz vor Einführung der Leiche wird die Gaszufuhr abgesperrt, den Regenerator durchströmt nur Luft, die sich nahezu auf Weißglut erhitzt und die Leiche verbrennt. Die Verbrennung verläuft ohne Bildung von Rauch und übeln Gerüchen, und es bleibt weiße Asche zurück (1,52 kg), die leicht gesammelt werden kann. Das Krematorium in Hamburg (Fig. 1) ist von Gartenanlagen umgeben, in denen die Beisetzung stattfindet. Im Hauptgebäude gelangt man durch eine Vorhalle in den für die Beisetzungsfeierlichkeiten kirchenartig eingerichteten Mittelraum, hinter dem sich Sezierraum und Leichenkammern befinden. Nach Beendigung der Zeremonie wird der auf dem Katafalk stehende Sarg durch eine hydraulisch betriebene Versenkung (Fig. 3) nach dem Vorraum vor dem Ofen hinabgelassen, während sich die Öffnung alsbald wieder schließt. Der von Schneider in Dresden angegebene Ofen (Fig. 3 u. 4) ist eine Modifikation des Siemensschen Ofens. Der Verbrennungsraum ist überwölbt und unten begrenzt durch einen Rost aus Schamottestäben. An ihn schließt sich der Aschenraum an, der vorn durch eine eiserne Platte mit dem Sammelkasten S für die Asche abgeschlossen wird. Unterhalb des Aschenraumes beginnen die schlangenartig gebogenen Kanäle, durch welche die Verbrennungsgase nach der Esse abziehen. Das in dem Generator unterhaltene Koksfeuer erhält Luftzufuhr durch die regulierbaren Öffnungen C. Aus dem Wasserbehälter W steigt Wasserdampf auf, der mit den glühenden Koks Kohlenoxyd und Wasserstoff bildet. Die Generatorgase strömen durch den Kanal H in den Verbrennungsraum, in den Aschenraum und von dort in die Esse. Sobald der Verbrennungsraum auf Rotglut erhitzt ist, wird die Leiche durch die Tür T hineingebracht und die Tür wieder geschlossen. Man stellt dann die Zufuhr der Luft durch die Löcher C ab und läßt dagegen Luft in die erhitzten Kanäle eintreten, durch die bis dahin die Verbrennungsgase abzogen. In diesen Kanälen erhitzt sich die Luft auf ca. 1000°, sie mischt sich im Kanal H mit den aus dem Generator stammenden Heizgasen und verbrennt die Leiche in etwa 60100 Min. zu Asche. Soll die Asche ganz weiß werden, so bedarf sie noch einer längern Erhitzung. Die Verbrennung in reiner, stark erhitzter Luft ist viel kostspieliger als die Verbrennung in einer Mischung von Luft mit Heizgasen. In Deutschland, England, Schweden wird die Leiche in einem Sarg (meist Zinksarg) in den Verbrennungsraum gebracht, in Italien und Nordamerika hüllt man die Leiche häufig nur in ein mit Alaunlösung getränktes Tuch. Die zurückbleibende Asche (1,52 kg) nimmt einen Raum von etwa 2 Lit. ein und wird teils in Blechkapseln der Erde übergeben oder in Urnen oder Cinerarien (von Sargform) in Urnenhallen (Kolumbarien) aufgestellt. Vereinzelt wird die Asche dem Wasser oder den Winden übergeben. Das deutsche Reichsgericht hat sich 29. Mai 1902 für die Zulassung der Beisetzung der Asche von Leichen auf Friedhöfen ausgesprochen.
Eine lebhaftere Bewegung für die Einführung der L. begann 1873 in Italien, England, Deutschland und der Schweiz und hatte die Errichtung von Krematorien in vielen Ländern zur Folge. Im allgemeinen aber machte die L. bis zum Schluß des 19. Jahrh. nur geringe Fortschritte, obwohl sich zahlreiche kompetente Stimmen, unter andern die medizinischen Kongresse von London 1891, Budapest 1894, Moskau 1897, sehr entschieden zugunsten der Feuerbestattung ausgesprochen haben. Vom Standpunkte der Sanitätspolizei wurde zwar zugegeben, daß irgendwelche Gründe gegen die Zulassung der L. nicht bestehen, aber man leugnete auch die Vorzüge der Feuerbestattung, da bei gutem Betrieb der Begräbnisplätze Schäden für die menschliche Gesundheit nicht oder nur mit verschwindenden und wenig sichern Ausnahmen entstehen. Die Justiz erhebt den Anspruch auf die posthume Leichenuntersuchung, hat sich aber zumeist für befriedigt erklärt, wenn von den Anhängern der Feuerbestattung die Vornahme der Leichenuntersuchung vor jeder Verbrennung als unerläßlich erklärt wurde. Niemals ist von den Regierungen der Staaten, welche die L. nicht gestatten, Einspruch dagegen erhoben worden, daß Leichen zur Verbrennung in benachbarte Staaten gebracht werden. Vor allem scheint das religiöse Bedürfnis bei einem großen Teil der Menschheit durch das Erdbegräbnis mehr befriedigt zu werden als durch die L. Jedenfalls verhält sich die Kirche der L. gegenüber bisher zumeist ablehnend. Die römische Kirche hat sie ihren Gläubigen 1886 kurzweg untersagt. Die protestantische Kirche erkennt zwar an, daß mit der L. antichristliche Tendenzen nicht ohne weiteres verbunden zu sein brauchen, doch haben auch hier die meisten Behörden und synodalen Körperschaften, die bisher der Sache nahegetreten sind, den Geistlichen die amtliche Mitwirkung bei der L. untersagt. Der evangelische Oberkirchenrat in Berlin hat entschieden, daß die Geistlichen weder berechtigt noch verpflichtet sind, bei Feierlichkeiten für solche Verstorbene, die behufs der Verbrennung aus der Gemeinde weggeführt werden, Amtshandlungen vorzunehmen. Ein auf der Generalsynode von 1903 gestellter Abänderungsantrag ist unberücksichtigt geblieben. Auch in Anhalt ist den Geistlichen 1888 jede Beteiligung verboten und eine Milderung dieser Verfügung noch kürzlich abschlägig beschieden worden. In Hannover sind dagegen bei Untersagung amtlicher Beteiligung die Geistlichen ausdrücklich an die ihnen auch im Falle der L. obliegende Pflicht erinnert worden, sich der Hinterbliebenen seelsorgerlich anzunehmen, und es ist eine im Familienkreis zu haltende Hausandacht für zulässig erklärt worden, »wenn diese in keinerlei Zusammenhang mit der Wegführung der Leiche steht, und der Geistliche weder im Chorrock auftritt noch einen liturgischen Akt vornimmt«. Noch weiter ist man in Bayern gegangen, wo die Aussegnung eines zur Verbrennung bestimmten Leichnams im Trauerhaus gestattet ist, und der badische Oberkirchenrat hat die Geistlichen sogar zur amtlichen Beteiligung bei der sogen. Feuerbestattung ermächtigt unter der Voraussetzung, »daß ihnen eine würdige Stellung dabei eingeräumt wird«. Ähnlich steht es in Württemberg und Hessen, überhaupt in allen Staaten, in denen die Feuerbestattung zugelassen ist.
Da die L. heutzutage an die Errichtung sehr vollkommener Öfen gebunden ist, so würde die Einführung der Feuerbestattung auf dem platten Lande große Schwierigkeiten darbieten. Ganz anders liegen die Verhältnisse in großen Städten, wo die Beschaffung der Begräbnisplätze außerordentlich hohe Kosten verursacht, während die Kosten der Feuerbestattung, wenn der Ofen in beständigem Betrieb erhalten werden kann,[363] auf einen sehr geringen Betrag herabsinken. Der Transport der Asche auf Eisenbahnen unterliegt keinen Beschränkungen, es wird nur verlangt, daß die Versendung in gut verschlossenen Behältern erfolgt. Den Konsularbehörden ist eröffnet worden, daß es sich zur Vermeidung von Weitläufigkeiten an der Grenze empfiehlt, den Sendungen ein ihren Inhalt beglaubigendes konsularisches Attest beizufügen. Die L. ist zugelassen in Italien, Frankreich, England, Schweiz, Spanien, Dänemark, Schweden, Norwegen und in fast allen Staaten Nord- und Südamerikas, in Deutschland in Koburg-Gotha, Weimar-Eisenach, Meiningen, Baden, Hessen, Württemberg, Hamburg, Bremen, Lübeck. Die Zulassung steht unmittelbar bevor in Sachsen und Anhalt.
In Deutschland wurde das erste Krematorium 1878 in Gotha eröffnet, dann folgten 1891 das in Heidelberg, 1892 in Hamburg, 1898 in Jena und von damit etwa Jahresfrist Abstand Offenbach a. M., Mannheim, Eisenach, Mainz, Karlsruhe i. B. und Heilbronn. Im Bau sind (im Juli 1905) Krematorien in Stuttgart, Ulm und Bremen. Die Betriebsergebnisse der deutschen Krematorien sind aus der folgenden Zusammenstellung ersichtlich:
Das erste Halbjahr 1905 weist mit 902 Einäscherungen gegen 663 im gleichen Zeitraum des Vorjahres eine weitere bemerkenswerte Steigerung auf. In außerdeutschen Ländern betrug die Anzahl der Feuerbestattungen, soweit zuverlässige Nachrichten vorliegen, bis einschließlich 1903: in Italien (28 Krematorien) 5051, in England (12 Krematorien) 3840, in der Schweiz (4 Krematorien) 1424, in Frankreich (11 Krematorien, davon eins in Reims, noch nicht benutzt) 3169, ferner wurden im Krematorium zu Paris 34,736 sogen. Anatomieleichen und 29,793 Embryos eingeäschert, in Schweden (2 Krematorien) 915, in Dänemark (ein Krematorium) 275, in den Vereinigten Staaten von Nordamerika (27 Krematorien) 20,432. In Japan wird nahezu die Hälfte sämtlicher Verstorbenen feuerbestattet. In den Quarantänestationen von New York, Rio de Janeiro und Buenos Aires findet obligatorische Verbrennung der an ansteckenden Krankheiten Verstorbenen statt; ebenso wurden in Rußland, wo die Feuerbestattung als freiwillig gewählte Bestattungsform noch nicht zugelassen ist, 1879 die im Dorfe Wetljanka an der Pest Verstorbenen zwangsweise verbrannt. Mehrfach haben Massenleichenverbrennungen im Krieg stattgefunden, z. B. wurden die Leichen der bei Sedan Gefallenen später verbrannt, 1894 im japanisch-chinesischen, 1898 im amerikanisch-spanischen, 1904´05 im russisch-japanischen Kriege. Auch die Leichen der beim Ausbruch des Mont Pelée auf Martinique Umgekommenen sind verbrannt worden. Vgl. Jak. Grimm, Über das Verbrennen der Leichen (Berl. 1850); Wegmann-Ercolani, Über L. als rationelle Bestattungsart (4. Aufl., Zür. 1874); F. Siemens, Die Feuerbestattung, System Fr. Siemens (Dresd. 1882); Küchenmeister, Die Feuerbestattung (Stuttg. 1875) und Die Totenbestattungen der Bibel und die Feuerbestattung (das. 1893); Goppelsroeder, Über Feuerbestattung (Mülh. i. E. 1890); Wernich, Leichenwesen einschließlich der Feuerbestattung (Jena 1893); Wettig, Die L. und der Feuerbestattungsapparat in Gotha (4. Aufl., Gotha 1902); Brackenhoeft, Die Feuerbestattung in Hamburg (Hamb. 1894) und Die Beisetzung der Aschenüberreste Feuerbestatteter (das. 1904); E. Müller, Die Feuerbestattung vom allgemeinen und kirchlichen Standpunkt aus betrachtet (Hannov. 1897); Bahnsen, Die Stellung der evangelischen Kirche zur Feuerbestattung (Berl. 1898); »Kunst und Architektur im Dienst der Feuerbestattung«, mit Text von Haupt und Dorovius (hrsg. vom Verbande der Feuerbestattungsvereine deutscher Sprache, Berl. 190103, 3 Bde.); Pauly, Die Feuerbestattung (Leipz. 1904); Weigt, Katechismus der Feuerbestattung (2. Aufl., Hannov. 1901); Heepke, Die modernen Vernichtungsanlagen organischer Abfallstoffe, 1. Teil: Die Leichenverbrennungsanstalten (Halle 1904); Zeitschriften: »Die Flamme« (Berlin, seit 1884), »Phönix« (Wien), »Phönix« (Darmstadt, seit 1888).
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