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Fabel

[241] Fabel (lat. fabula) ist einerseits die Bezeichnung für die poetische Handlung einer erzählenden oder dramatischen Dichtung und bildet in diesem Sinne den Gegensatz zu den Charakteren, anderseits die Bezeichnung für eine bestimmte in Urzeiten zurückreichende Gattung der Poesie, in der das erzählende und didaktische Element in engster Verbindung erscheinen. Die echte F. ist, wie Mythus und Märchen, ein Erzeugnis des Gesamtbewußtseins und reicht in Zeiten zurück, in denen eine primitiv volkstümliche Auffassungsweise herrscht und eine Trennung verschiedener Bildungsschichten noch nicht eingetreten ist. In der F. macht sich die-beseelende oder personifizierende Apperzeption (s. Ästhetische Apperzeptionsformen) geltend, die in dem primitiven Bewußtsein vorwaltet, und sie erstreckt sich insbes. auf die Tiere, die als Menschen oder menschengleiche Wesen angesehen werden. So ist die ursprüngliche F. Tierfabel; sie wird nach ihrem vermeintlichen Erfinder Äsopos auch die Äsopische F. genannt. Das didaktisch-reflektierende Element kommt in der Tierfabel um so leichter und deutlicher zum Ausdruck, als wir hergebrachtermaßen jedem Tier eine bestimmte hervorstechende Eigenschaft beilegen. Erzählung und Moral sind in der F. noch unlösbar verbunden, und es ist nicht notwendig, aber schon seit alter Zeit beliebt, daß die letztere am Schluß (hier und da auch schon zu Anfang) in einer besondern Formel zusammengefaßt wird. In der modernen F. sind das erzählende und reflektierende Element in der Regel deutlicher voneinander geschieden, und die Erzählung dient nur zur überraschenden Darlegung einer bestimmten Wahrheit. Die Entstehung der F. ist ebenso wie die des Mythus und des Märchens in der Urgeschichte aller Völker vorauszusetzen; zunächst nachweisbar ist sie im Orient, und von hier aus hat die F. die Wanderung durch alle Kulturländer angetreten. Berühmt sind die indischen Fabeln, die man gewöhnlich dem Bidpai beilegt (s. Pantschatantra), und die Fabeln des Arabers Lokman. Auch die Entstehung der F. in der griechischen Literatur weist nach dem Orient: Äsopos war ein Sklave aus Phrygien. Durch die Griechen wurde sie den Römern bekannt, Phädrus übertrug die griechischen Fabeln ins Lateinische. Als die alte Literatur unterging, erhielt sich das Andenken an die Äsopischen Fabeln bei Spaniern und Franzosen (im »Maître Pathelin«). Im Mittelalter interessierten sich vorzüglich die Deutschen dafür; deutsche Fabeln aus der Zeit der Minnesinger gab Bodmer heraus (Zürich 1757). Der älteste deutsche Fabeldichter scheint Stricker (um die Mitte des 13. Jahrh.) zu sein; Boner (zu Anfang des 14. Jahrh.) ist als treuherziger Fabeldichter durch seinen »Edelstein« bekannt. Italiener und Spanier beschäftigten sich am wenigsten mit dieser Gattung. Bei den Franzosen hat Lafontaine durch das äußerst gelungene Streben nach Witz und Eleganz den kindlichen Ton der F. etwas verwischt. Die besten englischen Fabulisten sind Gay und Moore. Die deutsche Nation nahm sich auch ferner mit Liebe dieser Dichtungsart an. Im 16. Jahrh. lebte der treffliche Fabulist Burkhardt Waldis. Hagedorn erzählte Fabeln in der Manier des Phädrus und in der Lafontaines; Gellerts Fabeln wurden mit Enthusiasmus aufgenommen. Gleim, Lichtwer, Willamov folgten. Lessings Fabeln sind in Prosa, geistvoll, kurz, treffend, ohne poetische Ausschmückung und beziehen sich zum Teil auf literarische Verhältnisse. Pfeffels Fabeln sind teils satirisch, teils sentimental. In neuer Zeit ward die F. wenig angebaut, nur der Schweizer Fröhlich verdient Erwähnung; trefflich für das Kindesalter sind Heys Fabeln (mit O. Speckters Zeichnungen). Eine »Fabellese« gab Ramler heraus (Leipz. 1783–90, 3 Bde.).

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 6. Leipzig 1906, S. 241.
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