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Liebe

[329] Liebe (lat. amor, gr. erôs) heißt das Wohlgefallen an einem anderen mit dem Bestreben, es zu besitzen, ihm sich zu widmen, sich mit ihm zu vereinigen und zu identifizieren. Die Liebe hat Wohlgefallen am Wohlsein eines andern. Zuerst entsteht im Menschen die Freude an dem Objekt, an einer Sache oder an einer Person; er legt dem Objekt einen Wert bei und fühlt sich zu ihm hingezogen, so daß der Besitz desselben ihm als hohes Glück, der Verlust als unerträglich erscheint. Damit verbindet sich dann bald die Illusion, daß sich im geliebten Gegenstand dasselbe Gefühl rege, selbst wenn er unbeseelt ist. Denn die Liebe beseelt selbst das Tote, wie man an der Naturanschauung der Kinder, der kindlichen Menschen und der Dichter sehen kann. Diese Illusion der Liebe im Verhältnis des Menschen zum Menschen bringt z.B. Goethe zum Ausdruck in dem Gedichte: Warum gabst du uns die tiefen Blicke? mit den Worten: »In dem andern sehen, was er nie war, immer frisch auf Traumglück auszugehen und zu schwanken auch in Traumgefahr.« Da die Liebe ihre Befriedigung in der Gegenwart des Geliebten findet, so spricht sich die Nichtbefriedigung ihres Begehrens als Sehnsucht aus. Wie jede Neigung, so erwächst auch die Liebe zunächst aus der Gewohnheit, dem Verkehr, dem Umgang, wie man aus der Liebe zu Eltern, Geschwistern, Spielkameraden und zur Heimat erkennt. Anderen, gleichartigen Personen gegenüber wird sie zum Streben nach dauernder Vereinigung. Liebe will im andern leben; sie hat ihr reinstes Selbstgefühl im Mitgefühl mit dem anderen und hebt am höchsten über den Egoismus empor. In diesem Streben nach völliger Erhebung über den Eigennutz und tiefer Durchdringung mit dem anderen liegt freilich auch der Anspruch auf Alleinbesitz. Hierin unterscheidet sie sich von der Freundschaft, die selten einseitig, aber oft nicht ohne egoistische Beimischung ist. Augustinus ( 430) nennt die Liebe »vita quaedam, duo aliqua copulans vel copulare appetens« Trin. 8, 10; Thomas von Aquino ( 1274) »complacentia appetibilis[329] seu boni« Summa I, 2 qu. 26. – Nach Veranlassung, Individualität, Charakter und Bildungsgrad ist natürlich die Liebe verschieden. Die Wurzel der Liebe ist wohl die den Menschen mit den Menschen verbindende Sympathie, welche in der Eltern-, Geschwister- und Verwandtenliebe ihre Ausbildung findet und sich dann zur Liebe gegen Stamm, Volk, Vaterland und Menschheit ausdehnt. Am leidenschaftlosesten und weitesten ist die Menschenliebe, aber sie ist auch ein selten erreichtes Ideal. Die stärkste Liebe dagegen ist die Geschlechtsliebe, die aus einem Bedürfnis und Triebe entspringt, sich aber durch die Dauerhaftigkeit und Konzentrierung desselben auf ein Individuum veredelt; sie hat für Kultur und Moral die größte Bedeutung. Je enger sie sich beschränkt, desto intensiver ist sie. Sie hängt an der Existenz des Individuums, an seinem dauernden Besitz und Genüsse. Die Geschlechtsliebe ist zwar nie von der Weite und Abgeklärtheit der Nächstenliebe, sie ist persönlich und gibt das eigene Ich nicht auf, sondern ringt nach eigener Glückseligkeit; und wird ihr ihr Ziel versagt, so entwickelt sie sich leicht zur Leidenschaft; aber sie ist andrerseits der größten Opfer fähig, wie es z.B. poetisch in dem freiwilligen Tode der Alkestis (der gynê hyperbeblêmenê) für Admetos von Euripides dargestellt ist. Wo der liebende Mensch sich selbst vergißt, sich für andere aufopfert, da tritt die schönste Art der Züge der Menschheit hervor. – Die Liebe zur Menschheit, Wahrheit, Freiheit, Kunst u. dgl. setzt voraus, daß man diesen Begriffen Realität beilegt, wobei freilich Enttäuschungen nicht ausbleiben. Die Liebe zu Gott (amor dei) ist nach Platon, Spinoza und J. G. Fichte der höchste moralische Affekt; sie entspringt aus dem Streben des Menschen nach Vollkommenheit. Die sog. platonische Liebe ist vom Streben nach Geschlechtsgenuß völlig frei. Liebe zu den Feinden ist das Wohltun auch gegen die, welche uns schaden, weil sie Menschen sind wie wir. – Empedokles (484-424) sah in Liebe und Haß (philia und neikos) die bewegenden Weltkräfte (Arist. Met. I, 4 p. 985 a. 29). Zum philosophischen Begriff ist die Liebe, der Eros, vor allem durch Platon (427-347) umgeschaffen worden. Platon nennt den philosophischen Trieb Eros und drückt damit aus, daß die Philosophie nicht nur aus einem Erkenntnistrieb entspringt, sondern die praktische Verwirklichung, die Erzeugung der Wahrheit erstrebt. Die sterbliche Natur des Menschen ermangelt[330] der göttlichen Unveränderlichkeit; sie fühlt daher das Bedürfnis, durch immer neue Erzeugung ihrer selbst sich zu erhalten. Dieser Trieb der Erhaltung ist der Eros, der aus der höheren gottverwandten Natur des Menschen entspringt und ein Streben ist, Gott ähnlich zu werden. Da dieser Eros nur ein Streben nach Besitz, nicht ein Besitz ist, also einen Mangel voraussetzt, andrerseits die Fülle begehrt, macht Platon den Eros zum Sohne der Penia (Armut) und des Poros (Reichtum). Das Ziel dieses Strebens ist der dauernde Besitz des Guten, die Glückseligkeit, die Unsterblichkeit. Der Eros ist also überhaupt das Streben des Endlichen, sich zur Unendlichkeit zu erweitern. Die äußere Bedingung für die Betätigung des Eros ist die Gegenwart des Schönen, und der Eros richtet sich stufenweise auf die schöne Gestalt, die schöne Seele, die Wissenschaft und die Idee und strebt nach der Darstellung des absolut Schönen. (Vgl. Platon, Symposion; Zeller, die Philosophie der Griechen II, S. 384 ff.) Dieser platonische Begriff des Eros ist vielfach in der Neuzeit von Dichtern und Philosophen wieder aufgenommen worden. Vgl. Dualismus.

Quelle:
Kirchner, Friedrich / Michaëlis, Carl: Wörterbuch der Philosophischen Grundbegriffe. Leipzig 51907, S. 329-331.
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