Gelegentlich tauchen in der Musikgeschichte Werke auf, die wie ein klingender Reiseführer daherkommen. Smetanas „Mein Vaterland“ etwa oder die „Alpensinfonie“ von Richard Strauss. Dazu zählen auch die „Années de Pèlerinage“, die „Pilgerjahre“, von Franz Liszt. Dabei handelt es sich um drei Bände mit Klavierstücken, die vor allem durch die Schweiz und nach Italien führen. Jetzt hat der französische Pianist Roger Muraro diese Werke aufgenommen – nicht als „Abenteuer-Trip“, sondern als „eine Reise des genauen Beobachtens und Verweilens“.
Nur mit der Ruhe
Pianist Roger Muraro ist hierzulande weniger bekannt als in seiner Heimat Frankreich. Mit Blick auf seine neue Liszt-Aufnahme fragt man sich: Warum eigentlich? Denn Muraro erweist sich als ein umsichtiger, hellhöriger Reiseführer. Er ist kein Athlet, der die einzelnen Stationen auf sportive Weise ansteuert.
Wenn er uns beispielsweise an den „Rand einer Quelle“ führt, wählt er nicht nur ein verhaltenes Tempo – wodurch die einzelnen Stimmen gut erkennbar bleiben – sondern signalisiert: Hier wie dort lauern wertvolle Details am Rande – wer aber zu eilig unterwegs ist, wird sie übersehen bzw. überhören.
Nach den Landschafts-Erkundungen in der Schweiz zu Beginn des Albums führt der zweite Band von Liszts „Années de pèlerinage“ nach Italien. Hier stehen ausschließlich die Künste im Fokus: mit Raffael und Michelangelo als Vertretern der Bildenden Künste, außerdem die Literatur, besonders Petrarca mit drei seiner Sonette.
Der Anti-Virtuose
Auch hier horcht Roger Muraro tief in diese Musik hinein, er legt ihre Harmonien frei und rückt unermüdlich den gesanglichen Charakter in den Mittelpunkt – selbst in einem so virtuosen Stück wie „Après une lecture de Dante“, die Fantasie nach einer Lektüre von Dantes „Göttlicher Komödie“.
Etwas provozierend ausgedrückt: Roger Muraro gibt den Anti-Virtuosen. Er sucht nicht das pianistische Risiko und erliegt nicht der Versuchung einer musikalischen Entfesselung; er arbeitet vielmehr den erzählerischen Charakter dieser Musik heraus. Die Fantasie als Ballade.
Muraro bevorzugt eine bildhaft-plastische Darstellung. Die findet sich denn auch im letzten der drei – später dem Italien-Band zugefügten – Stücke „Venezia e Napoli“. In „Tarantella“ agiert der Franzose mit leicht angezogener Handbremse. Das Ergebnis: ein auffallend transparentes und ausdrucksstarkes Klavierspiel.
Klavier und Harmonium
Nach den Stationen in Venedig und Neapel veröffentlicht Liszt rund 25 Jahre später einen dritten Teil der „Wanderjahre“, teils mit, teils ohne konkreten Ortsbezug. Meist sind diese Stücke vom Spätstil des Komponisten geprägt. Sie sind deutlich karger, dafür harmonisch kühner.
Beim ersten Stück überlässt Liszt es seinen Interpreten, ob sie auf dem Klavier oder auf dem Harmonium spielen wollen. Roger Muraro entscheidet sich für das Harmonium.
Verweilen mit Franz Liszt
Das wohl bekannteste Werk aus diesem dritten Band sind die „Jeux d’eaux à la Villa d’Este (Die Wasserspiele der Villa d’Este)“. Wir hören kein vordergründiges Glitzern; vielmehr erinnern die oberen Töne an einzelne, springende Wassertropfen.
Wer einen sehr betriebsamen, forschen, zum Aufbrausen neigenden Franz Liszt schätzt, wird mit dieser Aufnahme nicht glücklich. Roger Muraro wählt ganz bewusst einen anderen Weg. Statt Abenteuer-Trip bilden seine „Wanderjahre“ eine Reise des genauen Beobachtens, des Verweilens.
Wenn Muraro im Beiheft die ‚universelle Intimität‘ von Liszts Musik hervorhebt, so deutet das auf die Essenz dieser Aufnahme hin. Erst durch den Mut zur Entschleunigung bietet sich der Blick auf manche Feinheiten, die andere Aufnahmen nicht zu bieten haben.
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