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Urteil

[968] Urteil, im logischen Sinne die Grundfunktion des Denkens, durch die zwei Vorstellungsobjekte (Subjekt und Prädikat) in bewußte Beziehung zueinander gesetzt werden. Die Sprachform des Urteils ist der (einfache) Satz, dessen Grundgliederung (in Subjekt, Prädikat und die beide verbindende Kopula) durch die Natur des Denkens bedingt ist. Indem in jedem U. Subjekt und Prädikat als voneinander verschieden, aber doch zugleich als zusammengehörig anerkannt werden, so bekundet sich darin gleichzeitig eine zerlegende und eine beziehende Tätigkeit des Denkens. In den einfachsten, den primären Urteilen, in denen eine als Ganzes gegebene Vorstellung oder Wahrnehmung in ihre Bestandteile zerlegt wird, tritt zunächst bloß die erstere hervor, und erst auf einer höhern Entwickelungsstufe bringt das Denken ursprünglich getrennte Vorstellungen oder Begriffe in Beziehung zueinander (sekundäres U.). Je nachdem im ersten Falle von einem Gegenstand (als dem Subjekt des Urteils) eine Eigenschaft oder ein Zustand (als Prädikat) unterschieden wird, ist das primäre U. ein beschreibendes (z. B. Der Himmel ist blau) oder ein erzählendes (Der Hund läuft). Das sekundäre U. spricht als Resultat der Vergleichung zweier Begriffe entweder die Identität beider aus (Identitätsurteil, z. B. Platin ist das schwerste der bekannten Metalle), oder es ordnet als Subsumtionsurteil den Subjektsbegriff dem Prädikatsbegriff unter, wobei die Unterordnung eine vollständige (allgemein-subsumieren des U., z. B. Alle Rehe sind Wiederkäuer) oder nur eine teilweise sein kann (partikuläres U., z. B. Einige Parallelogramme sind gleichseitige Figuren). Diesen Formen des in der scholastischen Logik sogen. kategorischen Urteils stehen zur Seite die disjunktiven Urteile, in denen der Umfang eines Begriffes in eine Mehrzahl von Unterarten eingeteilt wird (z. B. Die Himmelskörper sind entweder Fixsterne oder Planeten oder Kometen) und die Abhängigkeits- (hypothetischen) Urteile, die ein Abhängigkeitsverhältnis ausdrücken, wobei Subjekt und Prädikat häufig selbst durch eine Konjunktion verbundene besondere Urteile sind (z. B. Wenn Wasser erhitzt wird, kommt es zum Sieden). Handelt es sich in diesen Fällen um verschiedene Arten der Beziehung zwischen Subjekt und Prädikat, so zerfallen die Urteile mit Rücksicht auf die Beschaffenheit des erstern in Einzelurteile (Subjekt ein einzelner konkreter Gegenstand), Mehrheitsurteile (Subjekt eine Mehrzahl gleichartiger Gegenstände) und unbestimmte Urteile (Impersonalien). Alle Urteile können außerdem bejahend oder verneinend (Unterschiede der Qualität) und, je nachdem sie als tatsächlich richtig, als zweifelhaft oder als notwendige Ergebnisse eines Schlusses hingestellt werden, assertorisch, problematisch oder apodiktisch sein (Unterschiede der Modalität). Mit allen Urteilen lassen sich ferner gewisse Umformungen (Transformationen) vornehmen, deren wichtigste die Bildung äquipollenter, d. h. mit einem gegebenen sachlich identischer und nur in der Form verschiedener Urteile, die Konversion (s. d.) und Kontraposition (s. d.) sind. Je nachdem ein U. auf Erfahrung oder auf reine Anschauung (wie in der Geometrie), bez. reines Denken gegründet ist, wird es nach Kant ein U. a posteriori oder a priori genannt. Über den Unterschied analytischer und synthetischer Urteile s. Analytisch. Vgl. Jerusalem, Die Urteilsfunktion (Wien 1895).

U. (auch Erkenntnis, Rechtsspruch, Sentenz) wird im gewöhnlichen Leben häufig jede gerichtliche Entscheidung (s. d.) genannt. U. im engern Sinne heißt aber nur der auf Grund vorgängiger Verhandlung ergangene Richterspruch. Dies gilt insbes. auch für die deutsche Zivilprozeßordnung (§ 300 ff.), die zwischen U. und andern Entscheidungen streng unterscheidet. Die Urteile sind mündlich zu verkünden und zwar in der Regel sofort nach dem Schluß der mündlichen Verhandlung. Wird die Verkündung auf einen spätern Termin verschoben, so soll dieser nicht über eine Woche hinaus anberaumt werden. Das U. muß enthalten: 1) die Bezeichnung der Parteien, ihrer gesetzlichen Vertreter und der Prozeßbevollmächtigten; 2) die Bezeichnung des Gerichts und die Namen der Richter, die bei der Entscheidung mitgewirkt haben; 3) einen Tatbestand (s. d.); 4) die Entscheidungsgründe (s. d.); 5) die von der Darstellung des Tatbestandes äußerlich zu sondernde Urteilsformel. Die Urteile im Zivilprozeß zerfallen in Endurteile, zu denen auch die Teilurteile (s. d.) gehören, und in Zwischenurteile (s. d.). Die Endurteile schließen den Rechtsstreit ganz oder teilweise ab. Die Zwischenurteile erledigen nur eine Vor- oder Zwischenfrage oder ergehen unter Vorbehalt der endlichen Entscheidung. Dann heißen sie auch Vorbehaltsurteile. Je nachdem das U. nach (»kontradiktorischer«) Verhandlung beider Teile oder nur auf Antrag eines Teiles gegen den abwesenden Gegner erlassen wird, ist es ein kontradiktorisches U. oder ein Versäumnisurteil (s. d.). Bedingtes Endurteil heißt das U., das die Entscheidung von einer Eidesleistung abhängig macht (s. Eid). Die Urteile sind rechtskräftig, wenn sie durch kein Rechtsmittel (s. d.) mehr angefochten werden können. Die Rechtskraft des Urteils ist die regelmäßige Voraussetzung ihrer Zwangsvollstreckung (s. d.). Die österreichische Zivilprozeßordnung enthält in den § 390 ff. ähnliche Vorschriften wie die deutsche; sie kennt keine bedingten Endurteile, weil an Stelle des Schieds- und Noteides die Parteienvernehmung getreten ist; auch weicht sie in einzelnen Richtungen von der deutschen ab.

Auch die deutsche Strafprozeßordnung (§ 33 ff.) unterscheidet zwischen Urteilen, Beschlüssen und Verfügungen. Das nach Schluß der Hauptverhandlung ergehende U. lautet entweder auf Freisprechung oder auf Verurteilung oder auf Einstellung des Verfahrens. Letzteres ist dann der Fall, wenn bei einer nur auf Antrag zu verfolgenden strafbaren Handlung der erforderliche Antrag nicht vorliegt, oder rechtzeitig zurückgenommen wurde. Das U. muß die Urteilsformel und Urteilsgründe enthalten. Bei einer Freisprechung des Angeklagten muß aus den Urteilsgrüngen ersichtlich sein, ob er für nicht überführt oder ob und aus welchen Gründen die für erwiesen angenommene Tat für nicht strafbar erachtet worden ist. Bei[968] einer Verurteilung des Angeklagten müssen die Urteilsgründe die für erwiesen erachteten Tatsachen, in denen die gesetzlichen Merkmale der strafbaren Handlung gefunden wurden, angeben. Außerdem müssen sie sich über die vom Strafgesetz besonders vorgesehenen, die Strafbarkeit ausschließenden, vermindernden oder erhöhenden Umstände aussprechen, sofern solche in der Verhandlung behauptet worden sind. Endlich müssen die Gründe das zur Anwendung gebrachte Strafgesetz und die Umstände anführen, die für die Zumessung der Strafe bestimmend waren. Am Schluß der Verhandlung wird das U. in öffentlicher Sitzung verkündet und zwar durch Verlesung der Urteilsformel und Eröffnung der Urteilsgründe (s. Öffentlichkeit). Die Eröffnung der Urteilsgründe geschieht entweder durch Verlesung oder durch mündliche Mitteilung ihres wesentlichen Inhalts. Daß die Urteilsgründe vor der Verkündigung niedergeschrieben worden sind, ist nur erforderlich, wenn die Verkündung des Urteils ausgesetzt war. Im schwurgerichtlichen Verfahren ergeht das U. auf Grund des Wahrspruchs der Geschwornen; es ist stets am Schlusse der Verhandlung zu verkünden (s. Schwurgericht). Die § 258 ff. der österreichischen Strafprozeßordnung enthalten ähnliche Vorschriften, nur erfolgt im Falle des Rücktrittes jedes Anklägers freisprechendes U. Ein die Einstellung des Verfahrens aussprechendes U. ist dem österreichischen Strafprozeß unbekannt.

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 19. Leipzig 1909, S. 968-969.
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