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Kriegskunst

[669] Kriegskunst und Kriegführung sind nicht voneinander zu trennen. Letztere ist vom Stande der Kultur im weitesten Sinn abhängig, und ihre jeweiligen Grundsätze kann sich der Truppenführer durch Lernen zu eigen machen: um aber Kriegskünstler, genialer Feldherr zu sein, bedarf er einer angebornen Gabe: der intuitiven Auffassung der jeweiligen Verhältnisse bei sich und beim Feind, und der Fähigkeit, diesem dem Geiste stets gegenwärtigen Gesamtbild entsprechend schnell und entschieden zu handeln, trotz der schwersten Verantwortung und der furchtbarsten von außen auf den fühlenden Menschen einstürmenden Eindrücke. Dieser hindernden Momente wegen ist die Kriegskunst wohl als die höchste der Künste zu bezeichnen, und wie alle andern Künste tief in das Gesamtleben des Volkes[669] eingreifen, so ist wohl die Bezeichnung des Krieges als Akt des menschlichen Verkehrs (Clausewitz) voll berechtigt. Die großen Kriegskünstler, die sich nur im Kriege selbst offenbaren, sind äußerst selten in der Geschichte, und man kann vielleicht Friedrich d. Gr. und Hannibal an ihre Spitze stellen, da sich ihre Größe im Glück wie im Unglück gleichermaßen bewährt hat.

Das Ziel des Feldherrn ist die Wehrlosmachung des Feindes, die Art der Erreichung dieses Zieles stets verschieden, endgültige Entscheidung nur durch Kampf möglich, und da abwartendes Verhalten dem Feinde die freie Wahl der Handlung läßt, so sind alle großen Feldherren stets von offensivem Geiste beseelt gewesen. Wenn nun auch mit schlechten Truppen durch geniale Feldherren Großes erreicht wurde, so ist doch sicher, daß eine tüchtige Truppenausbildung und Organisation der Wehrmacht von gar nicht hoch genug zu schätzendem Werte sind.

Im alten Griechenland erreichte die Kriegskunst ihre höchste Vollendung durch Alexander d. Gr., bei den Römern durch Cäsar. Bei den Völkern, die das römische Weltreich vernichteten, ist wohl mehr von instinktivem Kampftrieb als von geregelter Kriegführung und bewußter Kriegskunst die Rede. Im Mittelalter tritt sowohl in der Staatsverfassung als im Kriegswesen der Nachteil des Feudalismus-zu starke Betonung des Individuums und zu geringer Sinn für das Wohl des Ganzen-stark zutage, so daß auch hier wenig geregelte Kriegskunst im großen zu finden ist. Auch im ausgehenden Mittelalter und noch zur Zeit des Dreißigjährigen Krieges ist mehr eine die eigne Persönlichkeit in den Vordergrund schiebende Künstelei als wahre Kunst in der Kriegführung zu finden. Wallenstein, Bernhard von Weimar, Gustav Adolf, Torstenson waren die größten Feldherren jener Zeit, doch bleibt zu bedenken, daß die Schwerfälligkeit der damaligen Wehrverfassungen, die hohen Kosten der Heere, die Schwierigkeit in der Behandlung des Söldners und die politische Zerrissenheit des Deutschen Reiches großzügige Kriegsunternehmungen, wie wir sie heute kennen, ausschlossen. Günstigere Vorbedingungen für die Kriegführung schuf die Entwickelung der stehenden Heere und des absoluten Fürstentums, im großartigsten Maßstab unter Ludwig XIV. in Frankreich. Sodann entwickelte sich besonders Brandenburg-Preußen zu einer imposanten Militärmacht, zuerst unter dem Großen Kurfürsten und Friedrich Wilhelm I., worauf dann in Friedrich d. Gr. einer der größten Feldherren aller Zeiten erstand. Aber die Kurzsichtigkeit der folgenden Zeit schrieb den Formen seiner Heerführung die Erfolge zu, die eben seiner Unabhängigkeit von jeder schematischen Form zu danken waren. Dies erklärt Napoleons Erfolge, der, ebenfalls ein Feldherr ersten Ranges, folgerichtig und rücksichtslos die durch die Revolution ins Leben gerufenen neuen Kriegsmittel – unter anderm Aufbietung möglichst großer Massen gegenüber den kleinen Heeren der Lineartaktik, Einführung des Requisitionssystems – ausnutzte, durch Vereinigung großer Massen am entscheidenden Punkte bei stets offensivem Verfahren den Sieg zu erringen und durch schonungslose Verfolgung auszubeuten verstand. – Die Napoleonische Kriegskunst ist die Grundlage der modernen, wenn auch die total veränderten Streitkräfte und Streitmittel (allgemeine Wehrpflicht, Vermehrung der Heere, Einführung von Volksvertretungen und Konstitutionen und infolge hiervon sowie infolge der Fortschritte der Maschinentechnik völlig veränderte soziale Verhältnisse, Erfindung det Eisenbahnen und Telegraphen etc.) den Charakter der Kriegführung völlig geändert haben. Bestehen bleibt der Grundsatz, mit stärksten Kräften die feindliche Hauptmacht aufzusuchen, anzugreifen und zu schlagen, nur versäumte Napoleon, der aus Egoismus niemand neben sich aufkommen ließ, seine Unterführer zu selbständigem Handeln im Sinne der höchsten Führung zu erziehen, während gerade das selbstlose Überlassen freien Handelns an die Unterführer Moltkes größter Charakterzug war. Überhaupt muß die Freiheit des Feldherrn von jeder egoistischen Regung als eine Hauptvorbedingung wahrer Größe gelten.

Wenn auch nur der Angriff die Entscheidung bringt, so sind doch stets gültige Regeln über Anwendung von Angriff und Verteidigung, Feld- und Festungskrieg etc. nicht zu geben, und man kann ohne weiteres behaupten, daß, unter der Einwirkung des Volkscharakters, der politischen, sozialen, finanziellen und örtlichen Verhältnisse in irgend einer Beziehung stets zuviel oder zuwenig getan wird, z. B. von seiten Frankreichs durch seine übermäßige Landesbefestigung nach dem Kriege 1870/71, in der Überschätzung der Verteidigung im südafrikanischen Kriege durch die Buren etc. Nur der Takt des wahren Feldherrn vermeidet es, sich zum Sklaven gegebener Verhältnisse zu machen, die er vielmehr unter seinen Willen zwingt. Für die Tätigkeit, die bei mehreren gleichzeitig von einer Macht geführten Kriegen die Operationen auf allen Schauplätzen unter dem höchsten Gesichtspunkte der Staatswohlfahrt einheitlich beherrscht und die bei idealen Verhältnissen vom Herrscher selbst ausgeübt werden sollte, schlägt Jähns den Namen »Imperatorik« vor. S. auch Krieg, Strategie. Vgl. v. Clausewitz, Vom Kriege (5. Aufl., Berl. 1905); Jähns, Geschichte der Kriegswissenschaften (Münch. 1892), Handbuch einer Geschichte des Kriegswesens von der Urzeit bis zur Renaissance (Leipz. 1880, mit Atlas) und Über Krieg, Frieden und Kultur (Berl. 1893); v. d. Goltz, Das Volk in Waffen (5. Aufl., bas. 1899); v. Scherff, Kriegslehren in kriegsgeschichtlichen Beispielen (das. 1894–97,5 Hefte) und Die Lehre vom Kriege auf der Grundlage seiner neuzeitlichen Erscheinungsformen (das. 1899); Delbrück, Geschichte der Kriegskunst im Rahmen der politischen Geschichte (das. 1900–02, 2 Bde.); v. Freytag-Loringhoven, Studien über Kriegführung auf Grundlage des nordamerikanischen Sezessionskrieges (das. 1901–03,3 Hefte); v. Alten, Kriegskunst in Aufgaben (das. 1902 ff.).

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 11. Leipzig 1907, S. 669-670.
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