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Erbsünde

[898] Erbsünde (Peccatum s. Vitium originis, Peccatum originale), ein wesentliches Stück sowohl der katholischen als auch besonders der protestantischen Dogmatik. In der alten Kirche liefen über 300 Jahre lang bezüglich des zu erklärenden Tatbestandes der allgemeinen Sündhaftigkeit zwei im Prinzip entgegengesetzte Auffassungsweisen friedlich nebeneinander her. Die morgenländischen und griechischen Kirchenväter betonten, unter dem Einfluß einer philosophischen Ethik stehend, durchaus das Moment der Freiwilligkeit, Selbsttätigkeit u. Selbstverantwortlichkeit: der Mensch erzeugt vermöge seiner sinnlichen Neigungen die Sünde selbst, jeder eigentlich wieder neu, und jeder sündigt lediglich auf seine Rechnung. Zugeständnisse an den Begriff der E. werden hier und da nur zugunsten der biblischen Sage vom Sündenfall gemacht. Dagegen nahm das dogmatische Denken des Abendlandes von letzterer seinen Ausgangspunkt, und Augustinus (s. d. 1) schritt endlich dazu vor, das Sündigen in erster Linie als Naturnotwendigkeit zu fassen, verschuldet und vererbt von Adam her. Im pelagianischen Streit siegte die letztere Anschauung und wurde namentlich die geschlechtliche Lust als das Fortpflanzungsmittel der E. dargestellt. Gleichwohl hat sich nicht nur in der griechischen Kirche eine mildere Ansicht in Geltung erhalten, wonach bloß eine gewisse Schwäche des menschlichen Willens und das Todeslos des Leibes im naturnotwendigen Gefolge des Sündenfalls liegen, sondern auch die katholische Kirche selbst huldigte schon in der scholastischen Theorie, noch mehr aber in der Praxis einer dem Pelagius näher als dem Augustinus kommenden Auffassungsweise[898] (Semipelagianismus), und vollends die moderne jesuitische Dogmatik hat die E. so gut wie ganz auf den bloß negativen Begriff der Entziehung eines übernatürlichen Gnadengeschenks, in dessen Besitz Adam gewesen sei, reduziert. Dagegen haben Luther und Calvin aus demselben Grunde, dem die katholische Kirche Raum gab, indem sie den Begriff der E. abschwächte, ihn in seiner ganzen augustinischen Strenge festgehalten: weil unter Voraussetzung totaler Verderbnis des natürlichen Menschen eine verdienstliche Mitwirkung desselben bei seiner Bekehrung ausgeschlossen erscheint. Nur Zwingli machte aus der E., die nach den reformatorischen Bekenntnissen volle Schuld und Verdammnis aller Ungetauften begründet, eine bloße Erbkrankheit, wie auch die Sozinianer, Arminianer und die neuern Dogmatiker den Begriff der E. meist in den des Erbübels umsetzten. Doch hat selbst die orthodox-lutherische Dogmatik den Satz des Flacius, daß durch den Sündenfall die E. zur Substanz des Menschen geworden sei, als manichäische Übertreibung verworfen.

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 5. Leipzig 1906, S. 898-899.
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