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Normannen

[784] Normannen (»Nordmannen«), die germanische Bevölkerung Skandinaviens, vorzugsweise aber jene kühnen Seeräuberscharen, die von den skandinavischen Küsten aus geraume Zeit die Küsten des Abendlandes heimsuchten und von den Deutschen und Franzosen N., von den Engländern Dänen, von den Iren Ostmannen genannt wurden. Die Veranlassungen zu jenen Raubzügen, welche die normannischen »Wikingar«, d.h. Krieger, unter Anführern (See- oder Heerkönigen) in kleinen Schiffen (s. Tafel »Schiffstypen I«, Fig. 5 u. 6) über das Meer unternahmen, waren die Unfruchtbarkeit der Heimat, das Erbrecht, das die jüngern Söhne auf Seeraub und Heerfahrten anwies, dann auch die angestammte Lust an Waffenruhm, Abenteuern und Beute, endlich auch Unzufriedenheit mit der Begründung der zentralisierenden Königsherrschaften in Skandinavien. Ihre Schiffe, die »Wellenrosse« oder »Meeresdrachen«, waren so klein, daß die N. auf ihnen die Flüsse hinauszufahren vermochten; und auf diesen winzigen, selbst des Verdecks entbehrenden Fahrzeugen trotzten sie den Gefahren der nordischen Meere. Bald begannen sie an den Mündungen der Flüsse und auf Inseln feste Niederlassungen zu gründen, und, zu größern Kriegsheeren vereinigt, wurden sie kühne Eroberer und Gründer neuer Reiche.

Schon zu Karls d. Gr. Zeiten suchten sie die Küsten des Frankenreichs heim, wie der berühmte Normannenheld Ragnar Lodbrok, der in England in einer Schlangengrube endete. Besonders wurden die Niederlande und Frankreich von den Raubzügen der N. betroffen, und zwar drangen diese die Flüsse hinauf tief in das Innere des Landes ein, plünderten Städte und Dörfer aus und schleppten deren Bewohner als Sklaven mit sich fort oder mordeten sie. Die innern Zwistigkeiten im fränkischen Reich und die Schwäche der karolingischen Könige, namentlich Karls des Kahlen, erleichterten ihnen ihre Unternehmungen. Unter diesem faßten sie zuerst an verschiedenen Stellen in Frankreich festen Fuß, auf der Insel Oissel an der Seinemündung, auf Noirmoutier an der Loiremündung; dreimal eroberten sie Paris (845, 857 und 861), drangen auf der Garonne bis Toulouse vor und liefen 859 auch in die Rhone ein. Mit großen Summen mußte Karl ihren Abzug erkaufen. Unter Karl dem Dicken errichteten sie auch in Deutschland, bei Aschloh an der Maas, eine Verschanzung und[784] plünderten von da aus weit umher das Land, namentlich die Städte Aachen, Köln, Trier, Metz, Bingen, Mainz und Worms. Karl der Dicke erkaufte 886 ihren Abzug durch Geld und Gebietsabtretung. Hierdurch nur zu neuen Unternehmungen angelockt, erlitten sie erst durch Arnulf bei Löwen an der Dyle eine Niederlage (891), die wenigstens Deutschland vor ihren fernern Raubzügen sicherstellte. Um so schlimmer hausten sie nun in Frankreich. Seit 900 drang eine Schar N. unter einem Häuptling, Rollo (Rolf) aus Möre in Norwegen, auf der Seine zu wiederholten Malen bis Paris vor und setzte sich in Rouen fest. Um sich vor ihnen zu sichern, vermählte Karl der Einfältige 911 seine Tochter Gisela mit Rollo und überließ diesem zugleich das Gebiet der untern Seine zur Niederlassung (s. Normandie), nachdem derselbe den Lehnseid geleistet und mit dem Christentum den Namen Robert angenommen hatte. Fortan nahmen die N. sehr rasch französische Sprache und Sitten an. Vgl. Depping, Histoire des expéditions maritimes des Normands et leur établissementen France an X. siècle (2. Aufl., Par. 1843).

Länger als Frankreich hatte England von den Raubzügen der N. zu leiden. Nach dem Tode des angelsächsischen Königs Egbert (836) setzten sie sich in Northumberland und Mercia fest. Die Tapferkeit und Weisheit des Königs Alfred d. Gr. (871–901) beseitigte dies Übergewicht der fremden Eindringlinge, doch brachen sie unter seinen Nachfolgern von neuem herein. Der dänische König Sven entriß nach der großen Niedermetzelung der N. in England in der St. Bricciusnacht (13. Nov.) 1002 dem angelsächsischen König Ethelred (978–1016) den größten Teil des Landes, und Svens Sohn Knut d. Gr., der schon König von Dänemark und Norwegen war, ward 1016 alleiniger Herrscher von England. Nach seinem Tod 1035 ward von der Nation Ethelreds Sohn Eduard der Bekenner auf den Thron von England erhoben. Dieser aber, der keinen Leibeserben hatte, ernannte den ihm befreundeten und verwandten Herzog Wilhelm von der Normandie, einen Nachkommen Rollos, zu seinem Nachfolger, der 1066 mit 60,000 normannischen Kriegern in England landete, den von den Angelsachsen auf den Thron erhobenen König Harald bei Hastings 14. Okt. besiegte und England der Herrschaft der französischen N. unterwarf. Die Sachsen verfielen einer untergeordneten Stellung, bis im Lauf der Zeit beide Völker in eins verschmolzen. Vgl. Wheaton, History of the Northmen from the earliest times to the conquest of England (Lond. 1831); Worsaae, Dänen und Nordmänner in England etc. (deutsch, Leipz. 1852); Thierry, Histoire de la conquête de l'Angleterre par les Normands (neue Ausg., Par. 1883, 4 Bde.); Freeman, History of Norman conquest of England (3. Aufl., Lond. 1879, 6 Bde.).

Ins Mittelmeer waren die N. bereits im 9. Jahrh. vorgedrungen, hatten die Küsten bis nach Griechenland und Kleinasien hin mit Raub und Mord heimgesucht. Im Anfang des 11. Jahrh. unterstützte eine normannische Pilgerschar aus Frankreich, welche die heilige Grotte am Berg Garganus besucht hatte, die Fürsten von Capua, Neapel, Benevent und Salerno in ihren Kämpfen widereinander und gegen die Griechen und Sarazenen und erlangte durch ihre Tapferkeit und Klugheit allmählich großen Einfluß. 1027 verlieh diesen N. Herzog Sergius von Neapel einen fruchtbaren Landstrich, wo sie Aversa bauten und unter dem Grafen Rainulf eine unabhängige Grafschaft gründeten. Durch Zuzug aus der Heimat verstärkten sie sich, und namentlich unter den zehn Söhnen Tancreds von Hauteville dehnten sie ihre kriegerischen Unternehmungen aus. Durch ihre ritterliche Tapferkeit gelang es ihnen, die Sarazenen zu überwinden; als aber die Griechen ihren tapfern Bundesgenossen allen Anteil an der Beute verweigerten, bemächtigten sich diese mit Waffengewalt Apuliens (1040–43) und teilten es als erobertes Land unter sich, wobei sie den tapfern Wilhelm Eisenarm zum Grafen von Apulien erwählten. Bald traten die apulischen N. in enge Beziehungen zum Papst; von Leo IX. wurden sie 1053 gegen Zusicherung eines Erbzinses an den apostolischen Stuhl mit allen Ländern Unteritaliens, die sie bereits erobert oder noch erobern würden, belehnt. Robert Guiscard (1056–85) eroberte das ganze Festland und nahm den Herzogstitel an, während sein Bruder Roger I. Sizilien den Sarazenen entriß. Rogers Sohn, Roger II., vereinigte nach seines Vetters Bohemund Tod das gesamte normannische Gebiet und ward 1130 von Papst Anaklet II. in Palermo als König von Neapel und Sizilien gekrönt. Seine Nachkommen haben bis 1189 das Reich beherrscht, das dann an die Hohenstaufen überging. Vgl. Delarc, Les Normandsen Italie (Par. 1883); Barlow, History of the Normans in South Europe (Lond. 1886); Palomes, La storia di li Nurmanni 'n Sicilia (Palermo 1883 bis 1887, 4 Bde.); Graf Schack, Geschichte der N. in Sizilien (Stuttg. 1889, 2 Bde.); v. Heinemann, Geschichte der N. in Unteritalien und Sizilien (Leipz. 1894, unvollendet); Kehr, Die Urkunden der normannisch-sizilischen Könige (Innsbr. 1902).

Nach dem Osten gingen die Züge der N. aus dem Land »Rhos« (Schweden), und früh hatten sie sich die das Baltische Meer umwohnenden Völker, Finnen, Esthen, Slawen, zinspflichtig gemacht. Sie wurden hier »Eidgenossen« (oder »Schutzbürger«), Varinger (Waräger), genannt. Die slawischen Stämme im Südosten des Finnischen Meerbusens, unter sich uneins, beschlossen im 9. Jahrh., sich freiwillig unter die Herrschaft der N. zu stellen. Die Russen, unter Führung der drei Brüder Rurik, Sineus und Truwor, folgten dem Ruf, und nach dem Tode seiner Brüder wurde Rurik (gest. 879) der alleinige Gebieter des neuen, »Rußland« genannten Reiches, über das seine Nachkommen 700 Jahre geherrscht haben. Die Varinger bildeten den bevorzugten Kriegerstand, der sich durch neue Zuzüge aus der Heimat immer wieder verstärkte, die Chasaren unterwarf, Kiew (Kiänugard) eroberte und bereits 860, auf 200 Ruderbooten den Dnjepr hinabfahrend, über das Schwarze Meer bis in den Bosporus vordrang und Konstantinopel bedrohte; Oleg und Igor wiederholten diese Kriegszüge gegen das griechische Kaiserreich, die dortigen Kaiser nahmen die kühnen Seeräuber endlich in Sold, um sich zu schützen, und die »Baranger« waren seitdem die tapfersten und treuesten Truppen des kaiserlichen Heeres. Als unter Wladimir d. Gr. (980–1015) in Rußland das Christentum eingeführt wurde, verloren die Waräger ihre Vorrechte und verschmolzen mit den Slawen, deren Sprache und Sitten sie annahmen. Vgl. Russisches Reich (Geschichte).

Von höchstem Interesse sind auch die Fahrten der N. im nördlichen Atlantischen Ozean. Nachdem sie die Orkney- und Shetlandinseln besetzt hatten, entdeckten sie die Färöerinseln, und von hier gelangte um 860 Naddodd zuerst nach Island, das durch norwegische Auswanderer rasch bevölkert wurde. Erich der [785] Rote siedelte sich 983 in Grönland an, und sein Sohn Leif besuchte von hier »Vinland«, die Küste Nordamerikas (Neuengland), die wegen der dort vorgefundenen wild wachsenden Reben so genannt wurde. Andre Isländer kolonisierten Neubraunschweig und Neuschottland, denen sie den Namen Großisland gaben. Allein diese Ansiedelungen wie die in Grönland gingen im 14. und 15. Jahrh. durch die Angriffe der Eskimo und Indianer zugrunde. Nur in Island entwickelte sich die Kolonie zu einer bedeutenden Kultur. Vgl. außer den angeführten Werken noch: Strinnholm, Wikingszüge, Staatsverfassung und Sitten der alten Skandinavier (deutsch, Hamb. 1839–41, 2 Bde.); Munch, Das heroische Zeitalter der nordisch-germanischen Völker etc. (deutsch, Lübeck 1854); Steenstrup, Normannerne (Kopenh. 1876–82, 4 Bde.); K. Wilhelmi, Island, Hvitramannaland, Grönland und Vinland (Heidelb. 1842); Beauvais, La Norambègue (Brüss. 1880); Dondorff, Die N. und ihre Bedeutung für das europäische Kulturleben im Mittelalter (Berl. 1875); de Lagrèze, Les Normands dans les deux mondes (Par. 1890); Fischer, Die Entdeckungen der N. in Amerika (Freib. i. Br. 1902); Schjöth im 6. Band von Helmolts »Weltgeschichte« (Leipz. 1906).

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 14. Leipzig 1908, S. 784-786.
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