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Tier

[635] Tier (lat. animal, gr. zôon) heißt ein organisches Wesen, das sich von organischen Substanzen ernährt und das zu dem Vermögen der Selbsterhaltung und Fortpflanzung auch das Vermögen der Bewegung und Empfindung besitzt. Das Leben der Tiere wird durch den Stoffwechsel erhalten; die aufgenommenen Stoffe, teils vegetabilisch, teils animalisch, immer aber organisch, sind vorwiegend stickstoffhaltig. Die Fortpflanzung geschieht durch Teilung, Knospung, Sporogonie, Konjugation und durch Eier. Die Bewegung des Tieres ist teils Ortsbewegung, die je nach den Verhältnissen durch verschiedenartige Mittel geschieht (Beine, Arme, Flossen, Flügel, Saugnäpfe usw.), teils dient sie dem Ergreifen, Festhalten und Verschlingen der Nahrung, teils dem Lebensgenuß. Seelenleben tritt bei den meisten[635] Tieren hervor; bei den niederen nur Triebleben und Empfindung, bei den höheren eine Art von Intelligenz. Jene haben nur ein primitives Gangliensystem, diese ein vom Gehirn ausgehendes Nervensystem. Alle Tiere haben Sinneswerkzeuge, je höher hinauf, desto kompliziertere und zahlreichere. Die höchsten Tiere haben fünf Sinne, von denen meist einer besonders entwickelt ist, die jedoch bei keinem Tiere in so harmonischerem Verhältnis stehen wie beim Menschen. Daher ist der Grundcharakter des Tieres im Vergleich mit dem Menschen die Einseitigkeit seiner Lebensweise. Der Mensch entwickelt sich auch langsamer als das Tier. Er hat eine Jugend, eine Reife, ein Alter. Seine Vorstellungen können sich daher vertiefen, verschmelzen, bereichern; dadurch kommt Einheit, Ruhe und Klarheit in sein Seelenleben. Das Tier ist hierin zum größeren Teil dem Menschen unterlegen. Was beim Menschen die bewußte Willensentscheidung tut, erfüllt bei den Tieren der Instinkt (s. d. W.). Höhere Tiere haben jedoch auch eine Art von bewußtem Handeln. Denn sie empfinden Lust und Unlust, sie haben Gedächtnis, sie machen Erfahrungen, sie sind fähig, aufzumerken, Vorstellungen zu haben und Pläne zu machen. Darin unterscheiden sie sich aber vom Menschen, daß ihnen die Sprache fehlt. Sie erkennen wohl, aber sie denken nicht; allgemeine Begriffe, Ideen, Ideale fehlen ihnen. Daher haben sie keine Geschichte, keine Theorie, keine Wissenschaft, keine Kunst. Sie machen weder Beobachtungen noch Experimente, weder Entdeckungen noch Erfindungen. Da sie keine Ideen zu bilden vermögen, gibt es für sie weder Wahrheit, noch Schönheit, noch Gottheit, noch Sittlichkeit. Sie können wohl für uns schädlich, aber nie eigentlich böse handeln. Denn da sie keine Vernunft haben, geht ihnen die praktische Freiheit und somit die Verantwortlichkeit ab. Auch sind sie des Lachens und Weinens und des Selbstmordes nicht wie der Mensch fähig.

Aristoteles (384-322) schrieb den Tieren zwar nur eine ernährende und empfindende Seele zu, aber in der letzteren Gemeinsinn und die Fähigkeit, zu vergleichen und zu urteilen. Cartesius (1596-1650) hingegen, von seinem schroffen Dualismus bestimmt, drückte sie zu bloßen Maschinen herab; er behauptete, sie seien von den Nervengeistern getriebene Automaten; sein Schüler Malebranche (1638-1715) sprach ihnen Lust, Schmerz, Furcht, überhaupt jede Perzeption ab. Ähnlich[636] dachten Spinoza (1632-1677) und Locke (1632-1704). Aber Leibniz (1646-1716) erkannte, daß die Tiere Seelen, Sinnesempfindung und Gedächtnis hätten, Vorstellungen bildeten und sie aneinander reihten; nur hätten sie anstatt des Denkens die Erfahrung, sie seien reine Empiriker. Wolf (1679-1754) und Kant (1724-1804) sprachen ihnen die Fähigkeit, zu urteilen, ab. Hegel (1770-1831) nannte den Unterschied zwischen ihnen und dem Menschen einen absoluten. Erst Schelling (1775-1854) erkannte in jeder Tierklasse eine Entwicklungsstufe des Naturganzen, und Schopenhauer (1788-1860) bezeichnete das Erkennen mit der durch dasselbe bedingten Bewegung aus Motiven als den eigentlichen Charakter der Tierheit. Durch den Verstand unterscheide sich das Tier von der Pflanze, wie durch die Vernunft der Mensch vom Tiere. Es habe anschauliche, aber keine abstrakte Erkenntnis und denke eigentlich nicht. Er behauptete demnach, daß die Tiere im wesentlichen dasselbe seien, wie wir, und daher unser Mitleid verdienen. Die neuere Psychologie hat besonders infolge des Einflusses der Darwinschen Hypothese diese Behauptungen vielfach bestätigt. Vgl. Pflanze, Organismus. Carus, Vergleichende Psychol. 1866. Fr. Kirchner, Über die Tierseele. Halle 1890.

Quelle:
Kirchner, Friedrich / Michaëlis, Carl: Wörterbuch der Philosophischen Grundbegriffe. Leipzig 51907, S. 635-637.
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