Verschiedene: Die Gartenlaube (1876) | |
|
Ein zweites Mal war diesem Felsen vom Lande aus nicht beizukommen.
Die Arbeit schritt munter vorwärts – da explodirte auf dem Flusse ein kleines Boot mit Dynamit. Niemand weiß wie – und drei Arbeiter wurden nach allen Winden geblasen.
Jetzt erst fingen die Leute, respective die Zeitungen, an aufmerksam zu werden auf den Umstand, daß ungeheuere Mengen von bedenklichem Material so nahe der Stadt und noch näher den Ortschaften bei Hallett’s-Reef aufgespeichert seien. Doch fort und fort wurden die Bohrlöcher geladen und schließlich vom General Newton die Kunde erlassen, daß die Sprengung am 24. September, Sonntag Nachmittag um 1 Uhr 50 Minuten vor sich gehen würde. Wie in ein Pulverfaß schlug die Nachricht in das Lager der Sensationspresse sowohl, wie in das mancher frommen Leute. „Fünfzigtausend Pfund Nitroglycerin losschießen – kaum dreitausend Fuß von New-York entfernt – dicht bei Astoria – das ist ein furchtbares Wagniß,“ so riefen die Einen, und – „am Sonntag solche Dinge vornehmen, ist ein Verbrechen,“ die Andern. Direct und indirect hatten die leitenden Ingenieure ihre Meinung verbreiten lassen: daß die Sache absolut ungefährlich sei für die Umgegend, daß die ganze Grube vor der Explosion mit Wasser gefüllt würde, daß man jeder Patrone hinlänglich Arbeit zugetheilt habe, um sicher sein zu können, daß das Ganze harmlos verlaufen müsse, und dergleichen. Von Häuptern des Muckerthums wurde der General durch Briefe wegen des Sonntags gelangweilt, denen er ziemlich grob antwortete. Er hatte den Sonntag gewählt, weil ihm der gerade in den Weg fiel, denn vor Samstag Abend konnten die Arbeiten nicht beendet sein, und dann war der Sonntag doppelt bequem, weil da weniger Fahrzeuge unterwegs sind. Die Aengstlichen schrieben sich die Finger lahm und prophezeiten den Untergang von halb New-York. Diesen antwortete der General mit einer beruhigenden Notiz und empfahl den dicht bei Hallett’s-Reef Wohnenden, Fenster und Thüren offen zu halten und während der Explosion mit den Ihrigen in’s Freie zu gehen. Dieses wurde natürlich als eine ernsthafte Befürchtung des Generals aufgefaßt, und die Aufregung stieg von Minute zu Minute.
Endlich wurde es gestern, das heißt Sonntag, den 24. September. Ein widriger Nordost hatte schon am Tage vorher Regen gebracht, und er zerriß Tausende von freundschaftlichen Verabredungen für den andern Tag. Herbstlich dünn und unverdrossen tröpfelte es vom Himmel, und wer die Abneigung der New-Yorker gegen Regen kennt, wird die Bedeutung der Thatsache begreifen, daß trotzdem alle nordwärts führenden Straßen mit beschirmten Fußgängern bedeckt waren. Ihr Referent befand sich auf der New-Yorker Seite. Unter uns war der Fluß oder Meeresarm, gegenüber im Grau des Regentages Astoria und die Landzunge von Hallett’s-Reef. Der directe Abstand mochte fünf- bis sechstausend Fuß sein. Hunderttausend Regenschirme allumher auf den leeren Baugründen und Gneisfelsen. Es regnete etwa so, wie ein langweiliger Schwätzer das thut. Dienstthuende Dampfer fuhren hin und wieder und wiesen freche Segelboote zurecht.
Zwei Uhr war vorüber und sichtlicher Ernst kam in den unübersehbaren Congreß von Regenschirmen. Alle kecken Segler und Ruderer waren beseitigt worden und trübselig hingen die nassen Flaggen von den Masten der Dienstschiffe, die jeden weiteren Zugang versperrten.
Die verschiedenen kleinen Felseninseln, welche in der kaum dreitausend Fuß breiten Fahrstraße liegen, ragten düster aus dem Grau des Wassers in das Grau der Luft, und drüben lag still und schlafend Hallett’s Point, als ob es mit der ganzen Affaire nichts zu thun hätte. Doch in wenigen Minuten wird der zarte Finger eines Kindes, geleitet von dem tapfern General, den bedeutungsvollen Contact herstellen – in demselben Augenblicke werden 3680 Platindrähtchen glühend, und fünfzigtausend Pfund des furchtbarsten Sprengmittels werden mit einem Schlage explodiren. Was wird die Folge sein? Werden die Häuser schwanken und den Leuten auf die Köpfe fallen? Wird eine wüthende Luftwelle entstehen, die Dächer fortfegt und Regenschirme raubt? Wer kann’s wissen! So etwas ist noch nie probirt worden, und die Folgen sind unberechenbar, selbst für einen amerikanischen General und seine trefflichen technischen Adjutanten, die zufällig noch sogar Deutsche sind.
Jetzt fällt ein Signalschuß – noch fünfzehn Minuten! Ein zweiter – noch fünf Minuten – und dann ein dritter. Kaum ist sein Donner verhallt, da steigt drüben eine weiße Wand aus dem Wasser empor. Sie ist wirklich so lang, wie wir wissen, daß das unterminirte Riff es ist, und sie erhebt sich etwa fünfzig Fuß. Ehe wir des Eindrucks recht gewahr werden, steigt über
Verschiedene: Die Gartenlaube (1876). Leipzig: Ernst Keil, 1876, Seite 776. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1876)_776.jpg&oldid=- (Version vom 29.12.2019)