Verschiedene: Die Gartenlaube (1876) | |
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vorüber und ist bei Ebbe und schlechtem Wetter nur mit Gefahr zu passiren. Die vor dem Hafen liegenden Sandbänke wechseln sehr in ihrer Form und Höhe, und tiefgehende Schiffe bedürfen der größten Aufmerksamkeit der Lootsen. Die Einfahrt durch den anderen Zugang ist möglich durch Eintritt der Schiffe an dem nordöstlichen Ende von Long-Island, wo sie dann durch den zwischen dem Festlande und jener Insel liegenden Sund New-York erreichen können.
So fahrbar nun auch der langgestreckte Sund selbst für die tiefstgehenden Schiffe sein mag, so bietet diese Passage doch dicht vor New-York bedeutende Schwierigkeiten. Eine Anzahl größerer und kleinerer Inseln verengen dort die Straße, und neben sichtbaren Gneisriffen drohen verborgene Felsenuntiefen Gefahr. In wildem Wechsel ebben und fluthen die Wasser durch die Enge zwischen Ward’s-Island und Long-Island, und selbst Dampfer haben dort oft ihre Noth. Viele, viele Schiffe sind da schon gescheitert: der Ort ist verrufen und heißt nicht umsonst „Hellgate“ – das ist: „Höllenthor“. Als eines der allerfatalsten Riffe war Hallett’s-Reef bekannt, ein Felsenkopf, der sich gerade am diesseitigen Ende des Hellgate von dem Long-Island-Ufer in den engen Fahrcanal hinein erstreckte. Dieses Riff war auch zur Ebbezeit mit Wasser bedeckt; es hatte eine Ausdehnung von siebenhundert Fuß, dem Ufer entlang, und von dreihundert Fuß nach Norden, unter dem Wasser hin.
Hatte man nun auch im Laufe des letzten Jahrzehnts schon eine Anzahl der umliegenden Riffe durch Sprengungen von außen her auf passabele Tiefe gebracht, so konnten doch an dieser gewaltigen Felsmasse solche Mittel nicht verfangen. Beseitigt aber mußte sie werden, denn sie war nicht nur ein direct gefahrdrohendes Hinderniß, sondern sie gab auch den nach dem Sunde ebbenden Wassern eine gefährliche Richtung nach Ward’s-Island hin.
Eine vollständige Beseitigung jenes Riffes wurde beschlossen und mit den Arbeiten im Juli 1869, unter Leitung des General Newton, begonnen. Es handelte sich darum, der Felsenmasse von innen beizukommen, und die Verfahrungsweise war folgende: Zunächst wurde in dem Theile des Felsens, der über der Wasserhöhe an das Land stößt, eingebrochen und da bis auf die gewünschte Tiefe von dreiunddreißig Fuß unter der Ebbemarke in möglichster Breite niedergegangen. Nach der Wasserseite nahm man so viel, wie man bekommen konnte, und so entstand eine schluchtartige Vertiefung von hundertfünfundvierzig Fuß Breite und neunzig Fuß Entfernung vom Lande zum Wasser. Hier wurde die Grenze durch einen halbringförmigen Kofferdamm gegen besonders hohe Fluthen geschützt. In diesen Raum blickte man dann wie in einen tiefen Hof hinunter. In die anstehende Felsenwand wurden nun hallenartige Stollen getrieben, welche, fächerförmig auseinanderstehend, so weit geführt wurden, wie die Nähe des außenstehenden Wassers es erlaubte, und so hoch, wie das Dach es erforderte, welches zum Schutze stehen bleiben mußte.
Durch tausende vorher vorgenommener sorgfältiger Lothungen hatte man sich einen genauen Plan der äußeren Gestalt des Felsens verschafft und sorgte dafür, sechs bis zehn Fuß von seiner Begrenzung fern zu bleiben. Solcher Stollen mündeten zehn in den Hof, sie waren etwa zwanzig Fuß hoch, bei einer Breite von zehn Fuß. Die zwischen ihnen gelassenen Pfeiler waren vier bis fünf Fuß stark, das am Rande sichtbare Dach acht bis zehn Fuß.
Da es sich darum handelte, so viel Gestein wie nur immer möglich zu entfernen, wurden nun diese natürlichen Pfeiler wieder allenthalben durchbrochen, und zwar in Bogenlinien, welche mit der äußeren Begrenzung der Felsmasse parallel liefen und so dicht beisammen lagen, daß die Pfeiler als unregelmäßige Säulen von etwa vier Fuß im Quadrat stehen blieben und so das Dach trugen. Solcher Säulen blieben hundertzweiundsiebzig stehen. Auf diese Weise hat man den ganzen Felsen ausgehöhlt und in eine Art von luftigen Keller verwandelt, über dessen Gewölbe die strudelnden Wasser des Meeres in Ebbe und Fluth hin- und herfuhren.
Freilich traf man häufig genug auf Klüfte und undichte Stellen, aber es ist immer gelungen, sie zu verkeilen, und in der That war am Schlusse der Arbeiten die durchsickernde Wassermenge so gering, daß eine kleine Dampfpumpe genügte, die Grube trocken zu halten.
Gewiß hat gutes Glück hier mitgespielt, eine einzige große Kluft im Dache hätte noch in den letzten Tagen der Sprengarbeit in wenig Stunden den kostbaren Bau füllen können, und die ganze Mühe wäre vergebens gewesen.
Die große Sprengung von Hellgate war den New-Yorkern längst zu einer Art Fabel geworden. Seit ein paar Jahren war das Wort nur immer kurz vor dem vierten Juli genannt worden, dem Tage der Unabhängigkeitserklärung, wo ganz Amerika mit Feuer spielt, Jung und Alt. Man erwartete, daß diese Hellgatebombe an diesem Tage platzen müsse. Doch die Arbeiten waren mehrfach liegen geblieben, weil der Congreß mit dem Gelde geknickert hatte und stets nur zögernd die zum Fertigbau nöthigen Summen bewilligte.
Da endlich kam vor etlichen Wochen die Kunde: Hellgate ist fertig; das Sprengmaterial ist zur Hand, und bald wird mit dem Laden begonnen werden. Die große Grube wurde jetzt ein vielbesuchter Ort, und da konnte man denn sehen, wie jeder Pfeiler, und ebenso die Decke, vielfach angebohrt war mit Sprenglöchern, welche die Patronen aufzunehmen hatten, die Alles zerreißen sollten. Und nun begann eine Pilgerfahrt von neugierigen New-Yorkern nach dem Hellgate – respective Astoria, einem neuangelegten Städtchen auf dem Landvorsprunge, dessen äußerstes Ende Hallett’s-Reef bildet.
Da konnten wir denn sehen, was im Laufe der Jahre für eine Million Dollars geschehen war, und die beiliegende Skizze giebt vollkommen treu das wieder, was der Besucher von der Landseite aus sah: die niedergesprengte Schlucht mit einigen der unter das Wasser hingehenden Stollen.
Wer immer das Innere des Felsenkellers betreten wollte, konnte es thun. Gegen die Erlegung eines Viertel-Dollars wurde ihm von dem alten Custos der Sprengstätte ein Regenschirm und die an einem Stecken schwingende Oellampe überreicht. Auf einem ziemlich bequemen Treppchen stieg er hinunter in den Hof und durfte dann in die Gallerien treten.
Hier fand es jeder Sachverständige wunderbar trocken; wohl rieselte und träufte Wasser aus tausend Klüften, aber man begriff alsbald, daß die Hauptwassermassen klüglich abgefangen waren und daß kundige Leute da gewirthschaftet hatten. Nach Norden, der Wasserseite zu, neigte sich der schlüpfrige Weg und führte schließlich nach sackartigen Kammern, von denen man annahm, daß sie gründliche Ladungen aufzunehmen bestimmt waren. Jeder Pfeiler war von drei zu vier Fuß mit einem halben Dutzend Bohrlöcher versehen, und in jedem dieser steckte ein Brettchen mit einer Nummer darauf. Nach jedem Brettchen lief eine Schnur: diese Schnüre waren die Ariadnefäden, nach welchen sich die Leute zu richten hatten, welche in wenigen Tagen anfangen sollten, die Patronen einzuführen und diese dann mit der galvanischen Leitung in Verbindung zu setzen.
Es waren im Ganzen 3680 Bohrlöcher, welche, in Gruppen zu je zwanzig getheilt, ihre Verbindungsdrähte noch oben senden sollten. Bald wurde ein Befehl des leitenden Herrn, des General Newton, angeschlagen, bedeutend, daß fernerer Besuch untersagt sei; die Füllung der Sprenglöcher begann.
Mit größter Vorsicht wurden die Dynamitpatronen in den Schacht oder Hof geschafft und dann an Ort und Stelle getragen. Ihre Größe wechselt, denn man richtet sich da nach Härte des Gesteins, Masse, Klüftigkeit u. dgl. Die größten Patronen sind vierundzwanzig Zoll lang und haben drei Zoll im Durchmesser. Die Patronenhülsen bestehen aus wasserdichtem, starkem Papier, und jede hat am vorderen Ende einen Kupferdrahtring, welcher vier Stachelenden herausstreckt. Beim Einführen in’s Bohrloch sperren sich diese am Gestein und halten so die Hülse in Position. Auf die Patrone kommt schließlich die Zündkapsel zu sitzen; sie ist einem großen Zündhütchen gleich, aus Kupfer und zunächst mit Knallquecksilber, dann mit Dynamit gefüllt. Aus jeder stehen zwei Drahtenden hervor, die bestimmt sind, mit den Leitungsdrähten der Batterien verbunden zu werden.
Es ist sehr begreiflich, daß ein Hauptaugenmerk darauf zu richten war, alle Sprenglöcher mit einem Schlage loszulassen, denn eine theilweise einseitige Explosion hätte leicht die Drähte zerreißen und so das ganze Werk ohne Rettung verderben können.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1876). Leipzig: Ernst Keil, 1876, Seite 775. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1876)_775.jpg&oldid=- (Version vom 29.12.2019)