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Ketteler

[867] Ketteler (Kettler), 1) Gotthard von, Heermeister des Schwertordens, trat um 1540 in den Orden, begab sich 1559, von den Russen bedrängt, mit den Ordensländern Esthland, Kurland und Livland, die evangelisch geworden waren, unter den Schutz Polens, überließ 1561 dem König Siegmund II. August von Polen Livland und behielt für sich selbst Kurland und Semgallen als weltliches, von Polen zu Lehen gehendes Erbherzogtum. Er vermählte sich 1566 mit Anna von Mecklenburg, unterwarf den Adel unter Gesetz und Recht, gründete zahlreiche evangelische Kirchen und Schulen und starb 17. Mai 1587. Kurland blieb bei seinen Nachkommen bis 1737, wo die russische Kaiserin Anna die Kurländer zwang, ihren Günstling Biron zum Herrn zu wählen. Die von Gotthard gegründete Linie starb zu Anfang des 19. Jahrh. aus; dagegen blüht das Geschlecht der K. noch in Westfalen in zwei Linien, einer protestantischen und einer katholischen. Letzterer gehörte an:

2) Wilhelm Emanuel, Bischof von Mainz, geb. 25. Dez. 1811 in Münster, gest. 13. Juli 1877, wurde in der Jesuitenanstalt zu Brig in der Schweiz erzogen, studierte die Rechte, war 1834–38 Referendar in Münster, schied aber infolge des Kölner Bischofstreites aus dem Staatsdienst, studierte in München und Münster Theologie, erhielt 1844 die Priesterweihe und wurde 1846 Pfarrer. 1848 in die Frankfurter Nationalversammlung gewählt, erregte er Aufsehen durch eine freimütige Rede, die er am Grabe des ermordeten Fürsten Lichnowski hielt. 1849 Propst an der Hedwigskirche in Berlin geworden, im Juli 1850 auf den Bischofssitz zu Mainz berufen, verfolgte er konsequent das Ziel, die Staatsgewalt zur Dienerin der Kirche zu machen. Durch Einführung von Schulbrüdern und Schulschwestern, die Errichtung von katholischen Waisen- und Rettungshäusern, eines Priesterseminars und Knabenkonvikts brachte er die Jugenderziehung in die Gewalt des Klerus, durch Stiftung klösterlicher Institute, auch einer Jesuitenniederlassung in Mainz (1858), und mannigfaltiger religiöser Vereine erzog er die Bevölkerung in ultramontanem Geiste. Die rechtlichen Zustände in der oberrheinischen Kirchenprovinz bekämpfte er in der Schrift »Das Recht und der Rechtsschutz der katholischen Kirche in Deutschland«. Von der katholischen Großherzogin unterstützt, errang er von dem reaktionären Minister Dalwigk in einer geheimen Konvention vom 23. Aug. 1854 bedeutende Zugeständnisse: der Staat verzichtete auf seine Patronatsrechte, seine Mitwirkung bei der Besetzung des Bistums, das Placet, das Aufsichtsrecht über das katholische Vereinswesen und die geistlichen Lehranstalten, überließ dem Bischof die Heranbildung des Klerus allein (die katholisch-theologische Fakultät in Gießen ging ein), gestattete freien Verkehr mit Rom und die Herstellung einer geistlichen Gerichtsbarkeit. Daneben suchte K. durch eine vielseitige Beteiligung an der sozialen Bewegung (z. B. »Die Arbeiterfrage und das Christentum«, 4. Aufl., Mainz 1890) dem Einfluß der Kirche auf den Arbeiterstand die Wege zu bahnen. Auch fügte er sich rasch und mit Geschick in die 1866 in Deutschland eingetretene Wendung der politischen Verhältnisse (»Deutschland nach dem Krieg von 1866«, 6. Aufl., Mainz 1867). Als treuer Anhänger des Papsttums wohnte er 1854 der Publikation des Dogmas von der unbefleckten Empfängnis in Rom bei, feierte im Juni 1855 mit großem Pomp das 1100jährige Säkularfest des heil. Bonifatius und war 1860 und 1867 wieder in Rom. Auf dem Konzil 1870 bekämpfte er das Unfehlbarkeitsdogma als nicht zeitgemäß, tat noch 15. Juli einen (vergeblichen) Fußfall vor Pius IX., unterwarf sich aber schon im August und verteidigte das Dogma in verschiedenen Hirtenbriefen. Seitdem stand er an der Spitze der ultramontanen Partei im Kampfe gegen das Deutsche Reich und die preußische Kirchengesetzgebung, ward 1871 in den deutschen Reichstag gewählt, legte aber sein Mandat bald zugunsten seines Domkapitulars Moufang nieder. An den Versammlungen der preußischen Bischöfe in Fulda nahm er regelmäßig teil und vertrat hier die Politik des unbedingten Widerstandes gegen die staatliche Gesetzgebung, untersagte 1874 sogar in den Kirchen seiner Diözese die Feier des Sedantages und nannte den Rhein einen katholischen Strom. Er starb auf der Rückreise von Rom im Kloster Burghausen in Oberbayern. K. besaß bedeutende Gelehrsamkeit, große geistige Begabung, Gewandtheit und Schlagfertigkeit im mündlichen wie schriftlichen Gebrauch der Rede und hielt als hartköpfiger Westfale zäh an seinen Zielen fest, bis er sie erreichte. Von seinen zahlreichen Schriften sind noch zu erwähnen: »Freiheit, Autorität und Kirche« (7. Aufl., Mainz 1862); »Die wahren Grundlagen des religiösen Friedens« (3. Aufl. 1868); »Die Katholiken im Deutschen Reiche, Entwurf zu einem politischen Programm« (5. Aufl. 1873); »Das allgemeine Konzil und seine Bedeutung« (5. Aufl. 1869); »Die Zentrumsfraktion auf dem ersten deutschen Reichstage« (Mainz 1872). Kettelers »Predigten« (Mainz 1878, 2 Bde.), »Briefe von und an W. E. Freih. v. K.« (das. 1879) und »Hirtenbriefe« (das. 1904) gab Raich heraus. Vgl. Pfülf, Bischof von K., 1811 bis 1877 (Mainz 1899, 3 Bde.); Greiffenrath, Bischof K. und die deutsche Sozialreform (Frankf. 1893); Kannengießer, K. et l'organisation sociale [867] en Allemagne (Par. 1894); Girard, K. et la question ouvrière (Bern 1896); Lionnet, Un évêque social (Par. 1903).

3) Klemens, Freiherr von, Diplomat, geb. 22. Nov. 1853 in Potsdam, gest. 16. Juni 1900 in Peking, war für die militärische Laufbahn bestimmt, nahm aber als Leutnant den Abschied und trat zur Diplomatie über. 1883 zeichnete er sich zu Kanton als stellvertretender Dolmetsch und Konsulatsverweser während der gegen die europäischen Kaufleute in Szene gesetzten Unruhen durch Entschlossenheit und Geistesgegenwart aus und wurde Legationssekretär in Peking. 1893 nach Washington versetzt, verwaltete er später die kaiserliche Gesandtschaft in Mexiko und wurde 15. Juli 1899 als Nachfolger v. Heykings Gesandter in Peking. Seine Warnungen, daß hier eine Katastrophe unvermeidlich sei, blieben unbeachtet, als es noch Zeit war, Gegenmaßregeln zu treffen, und so wurde er als eins der ersten Opfer des im Juni 1900 ausgebrochenen großen Boxeraufstandes 16. Juni in den Straßen Pekings ermordet. K. ist in Münster i. W. beigesetzt. Im Frühjahr 1903 wurde das in Peking von der chinesischen Regierung für K. errichtete Sühnedenkmal enthüllt und im Herbst auch Denkmäler in Berlin und Münster (beide von Hidding).

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 10. Leipzig 1907, S. 867-868.
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