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Kunst der Naturvölker

[806] Kunst der Naturvölker (hierzu die gleichnamige Tafel I u. II). Die einfachsten Formen der bildenden Kunst und die ersten Stufen ihrer Entwickelung lassen sich am besten bei den heutigen Naturvölkern studieren. Man darf hoffen, auf diesem Wege manche Grundgesetze des ästhetischen Schaffens festzustellen, wenn auch dabei stets zu bedenken ist, daß alle Kunst vom Unvollkommenen und Ungeschickten zu höhern Zielen strebt, und daß es also nicht möglich ist, aus den stammelnden Anfängen das Wesen der ganzen gewaltigen Erscheinung abzuleiten.

Die herkömmliche Zerlegung der bildenden Kunst in Plastik und Malerei gilt auch für die K. d. N., doch sind die Grenzen nicht scharf; so bilden für die Kunst der europäischen Paläolithiker bemalte Reliefs ebenso die Regel wie für die Kunst des modernen Buschmanns (Tafel II, Fig. 1, 2, 13 u. 14); außerdem kann man die massenhaft vorkommenden geflochtenen (Tafel I, Fig. 12 u. 13) und gewebten Darstellungen nur mit Vorbehalt zur Plastik oder zur Flächenkunst rechnen. Vorteilhafter geht man daher von der Unterscheidung einer konkreten oder freien und einer abstrakten oder unfreien Kunst auch hier aus. Für jene ist bezeichnend, daß ihre besten Leistungen sich gerade bei den kulturärmsten Völkern finden, den unsteten Sammlern unsrer Vergangenheit, eben den Paläolithikern Südfrankreichs und der Schweiz (Tafel II, Fig. 1 u. 2) und den Randvölkern der Ökumene: den Australiern (Tafel II, Fig. 3 u. 4) und Buschmännern (Tafel II, Fig. 13, 14 u. Textabbildung), außerdem den Eskimo und andern Hyperboreern (Tafel II, Fig. 25–27, 15); Stilisierung tritt hier kaum auf, im Gegenteil ist die Naturwahrheit wahrhaft staunenswert. Erklärt wird sie vollauf aus dem innigen Verhältnis dieser Jäger zur umgebenden Natur. Auch das fast ausschließliche Vorherrschen von Tier und Mensch als Darstellungsobjekte findet aus diesem Verhältnis seine ungezwungene Erklärung; aus den ungemein zahlreichen Felsenzeichnungen der Buschmänner könnte man ohne große Fehler die gesamte jagdbare Tierwelt Südafrikas herauslesen, bis zu einem gewissen Grad auch die Ethnographie dieses Gebiets, zeigt doch eins der berühmtesten ihrer Gemälde, das hier wiedergegebene Höhlenbild von Hermon (s. Textabbildung), den Unterschied zwischen den kleinwüchsigen, eine geraubte Viehherde mit Bogen und Pfeil verteidigenden Buschmännern und den großgewachsenen, mit Schild und Speeren verfolgenden Kaffern aufs deutlichste. Mit ganz ebenderselben Genauigkeit geben dann auch die Australier und die Eskimo ihre Sitten und Gewohnheiten wieder.

An diese Höhe reicht in unsrer Vergangenheit, was die freie Kunst anbelangt, weder die neolithische noch auch die bronzezeitliche Kunst heran: eine genaue Wiedergabe der Körperformen wird in keiner der beiden Perioden erreicht. Unter den Naturvölkern von heute, die man billig etwa unsern jüngern Steinzeitmenschen gleichsetzen kann, also den Ozeaniern (Polynesiern, Melanesiern, Mikronesiern) und den Indianern Amerikas, ist die künstlerische Befähigung ziemlich ungleich verteilt, doch fördert sie durchweg Eigenartiges zutage. Alle diese Völker haben einen äußerst regen Sinn für Ornamentik (Tafel I, Fig. 2–5, 8, 13, 15, 19 u. 21); er übertrifft die Neigung zur freien Kunst bei weitem, doch fehlt diese nicht ganz; sie beschränkt sich jedoch in der Hauptsache auf bloße Umrißzeichnungen einzelner Lebewesen; die Abbildungen Tafel II, Fig. 5–8,10–12,17–19, sind Kunstleistungen von Melanesiern; sie haben alle bis auf die Saurier und den Tausendfuß (ein Ornament) Profilstellung; für Tafel II, Fig. 10, ein dem englischen Forscher Haddon von einem Eingebornen ins Skizzenbuch gezeichnetes Kriegerporträt, ist außerdem bemerkenswert, daß der Zeichner die rechte Hälfte der Figur mit der rechten Hand, die andre mit der linken ausführte. Die aus derselben Gegend stammende Zeichnung auf Tafel II, Fig. 9, ist eins der wenigen Landschaftsbilder, die wir von Naturvölkern besitzen. Sie stellt die in der Torresstraße gelegene Insel Mer (Murray Island) dar. Die Skizze zeigt deutlich die vulkanische Spitze der Insel mit einer grauen Wolke; an beiden Enden Hütten der Eingebornen; in der Mitte des rechten Abhanges eine jähe Wand, endlich mehrere Palmbäume, neben deren größtem eine Art Auge angebracht ist, das einer wirklichen Terrainfalte entspricht. Die Zeichnung stimmt überhaupt mit einer von Haddon aufgenommenen Skizze im wesentlichen überein, ist aber als Spiegelbild erfaßt und in ihrer Physionomie zu dem Antlitz einer Lokalgottheit ausgestaltet worden.

Zu den Amerikanern führt uns eine andre Landschaft (Tafel II, Fig. 24), eine Zeichnung der Payaguá am Paraguay. Hirsch und Ameisenbär stehen in richtigem Verhältnis zueinander und zu den Palmen (2 Fächerpalmen, 1 Fiederpalme), aber in welchem Mißverhältnis zu allem steht die nach dem Hirsch schnappende Schlange! Ebenso interessant, für das Studium der ursprünglichen Kunstentwickelung sogar grundlegend sind die Kunstleistungen der Bewohner des Schingu-Quellgebiets. Die Fig. 20–23 der Tafel II geben Proben aus jener Region wieder; sie sind[806] der zweiten Expedition v. d. Steinens ins Skizzenbuch gezeichnet und stellen dar: Fig. 20, Mann zu Pferde (Apiaka-Zeichnung), Fig. 23, Tapir und Hund (Bororo), Fig. 22, Affe (Mehinaku), Fig. 21, W. v. d. Steinen (Bororo). Die beiden ersten und die letzte sind noch überaus realistisch, bei aller Naivität der Auffassung und der Wiedergabe, die besonders bei Fig. 20 und 23 zutage tritt. Hier sind die drei kennzeichnenden Attribute Mütze, Hirschfänger und Pfeife; erst Fig. 22 bringt die Neigung aller amerikanischen Völker, zu stilisieren und zu geometrischen Mustern zu vereinfachen, zur Anschauung. Die Mehrzahl der im brasilischen Waldgebiete vorkommenden geometrischen Ornamente sind eckig stilisierte Nachahmungen von Tieren und Teilen von Tieren.

Buschmannzeichnung aus einer Höhle bei Hermon.
Buschmannzeichnung aus einer Höhle bei Hermon.

Als letzte Gruppe treten uns die metallkundigen Natur- und Halbkulturvölker entgegen, die Neger Afrikas und die Malaien. In der Wahl der Motive besteht ursprünglich kaum ein Gegensatz zwischen beiden; Mensch und Tier stehen auch bei ihnen im Vordergrund. Erst im Laufe der weitern Entwickelung macht sich ein schroffer Gegensatz geltend: beide stilisieren zwar gleich gern (Tafel II, Fig. 16); während aber der Neger das Vorbild fast immer zu einfachen Linien und Strichen verkümmern läßt, wächst es beim Malaien zu einem wahren Blütenstrauß von neuen Linien und Flächen aus (Tafel I, Fig. 16 u. 20). Daß diese leicht und häufig den Charakter wirklicher Pflanzenarabesken und -Ranken annehmen, ist indessen ohne Zweifel auf indischen Einfluß zurückzuführen.

Keins der gegenwärtigen und der alten Naturvölker ist zur Perspektive fortgeschritten. Sie fehlt auf den sonst so lebendigen Szenen aus dem Buschmannleben, bei den Australiern und auch auf all den zahllosen alten Felsenzeichnungen, die man in Schweden (s. Felsenbilder, vorgeschichtliche), in Italien, Kalifornien etc. entdeckt hat. Wie die alten Ägypter, so behelfen sich alle damit, die Dinge, die in Wirklichkeit hintereinander stehen (Tafel II, Fig. 4,3 u. 24), im Bilde nebeneinander zu stellen. Lediglich in Tafel II, Fig. 3, könnte man vielleicht unbeabsichtigte Perspektive vermuten.

Die Werke der unfreien Kunst sollen etwas versinnlichen, einen Gedanken oder Begriff mitteilen, sind aber die Keime der Bilderschrift und der meisten Schriftsysteme überhaupt; oder sie sollen nicht selbständig wirken, sondern nur als Ornament dienen. Damit verliert die Kunst sofort den Charakter des freien Spiels der schaffenden Kräfte, und damit unterliegt sie auch sofort den mannigfaltigsten Umbildungen und Entstellungen. Die K. d. N. ist sozusagen ein einziger Beweis dafür. Ein Beispiel der versinnlichenden unfreien Kunst, nämlich ein Anfang zur Bilderschrift, ist Tafel I, Fig. 2; die nur den Eingeweihten verständlichen Ornamente haben hier mit der Kunst kaum noch etwas zu tun. Gegenstand der Darstellung bei fast allen Naturvölkern sind dann mit Vorliebe phantastische Wesen, Ahnenfiguren, Gottheiten, Fabeltiere etc. Zu ihrer Darstellung führt nicht die reine Freude an der Kunst, sondern der Wunsch, die Seelen der Verstorbenen zu sich heranzuziehen, ihnen und den Göttern einen Wohnplatz zu geben u. dgl., so daß man sie durch Opfer und Beschwörungen erreichen kann. Der realistischen Kunst der untersten Kulturstufen sind derartige Darstellungen fremd; um so mehr sind sie auf der nächst höhern verbreitet. Ahnenbilder dieser Art sind Tafel I, Fig. 17 u. 18, wo die einzelnen Augenmuster noch ebenso viele Hinweise auf totemistische Tiergestalten oder Fabelwesen darstellen. Auch Tafel I, Fig. 4 und 19, sind solche Ahnenreihen.

Für unsre Ansichten über die Entwickelung der Ornamentik haben die letzten Jahrzehnte auf Grund zahlreicher ethnologischer Untersuchungen den Nachweis erbracht, daß das einfache geometrische oder sinnlose [807] Ornament durchaus nicht immer zu Anfang der Entwickelung steht, sondern daß es in den allermeisten Fällen sicherlich erst eine sekundäre Form ist, hergeleitet aus der figürlichen, sinnhaften Verzierung, die auffallenderweise in den allermeisten Fällen wieder die Tier- und Menschendarstellung zum Ausgangspunkt hat. So regelrecht geometrische Ornamente wie Tafel I, Fig. 9–12, und die Seitenteile in Fig. 8 sind in Wirklichkeit Darstellungen von Tieren (Fledermaus in Fig. 9, Mereschufisch in Fig. 8 u. 10, Kröte in Fig. 12, Grabwespe in Fig. 11). In Fig. 11 hat der Verfertiger die Form anscheinend nur deshalb gewählt, um den Zweck des Geräts (Grabholz) anzudeuten; ebenso wie dort Schwirrhölzer mit dem Bilde der zischenden Schlange verziert werden, Flöten mit dem Bilde des pfeifenden Affen etc. Den Zweck derartiger Andeutungen verfolgen auch Muster, wie Tafel I, Fig. 6 und 7, nur daß hier in der Tierdarstellung 1) wieder mehr totemistische Ideen hervortreten, 2) aber die Stilisierung mehr Raum gewinnt. In Tafel I, Fig. 1 und 16, sind auf diese Weise aus tierischen und menschlichen Figuren rein pflanzenartige Gebilde entstanden; in Fig. 16 erinnern lediglich die Vogelköpfe noch an die eigentliche Natur des Ornaments; in Tafel I, Fig. 5 und 21, ist der eigentliche Ausgangspunkt nur noch durch ein Zusammenstellen langer Reihen festzustellen; in Tafel I, Fig. 21 (links die untergehende Sonne in Wolken, rechts eine Palme darstellend) kann die Bedeutung wie in Fig. 9–12 nur erfragt werden. Daß im übrigen aber auch das rein geometrische Ornament als Ausgangspunkt nicht selten ist, liegt in Material und Technik vieler ursprünglicher Kunstübungen begründet; die Flechttechnik führt ohne weiteres zum geometrischen Ornament, ebenso hat auch die Bronzetechnik mit ihrem vielen Drahtschmuck sich fast nur in dieser Richtung entwickelt; und da die ersten Tongefäße ursprünglich meist in Körben geformt und gebrannt worden sind, so ist auch die Ornamentik der Keramik (vgl. Gefäße, vorgeschichtliche) vorwiegend geometrisch (Tafel I, Fig. 14). Bestimmend für die Ornamentik ist schließlich noch die Abhängigkeit vom Raume; sie bedingt Kümmerformen, wenn er eng ist, Wucherformen, wenn er geräumig ist. In diesem Falle kommt es entweder zur Ausfüllung mit sinnlosen, seltsamen Liniensystemen, wie in Tafel I, Fig. 3, oder in der Maorikunst, oder zur oftmaligen Wiederholung desselben Musters (Tafel I, Fig. 5,8–10,15). Diese bedingt entweder künstliche Vereinfachung und Symmetrie (Tafel I, Fig. 5,8–10), oder aber auch nur ein Hervorheben bestimmter Teile (Tafel II, Fig. 25).

Vgl. Hein, Die bildenden Künste bei den Dayaks (Wien 1890); Balfour, The evolution of decorative art (Lond. 1893); Schurtz, Das Augenornament (Leipz. 1895); Wilson, Prehistoric art (Washingt. 1898); Hoernes, Urgeschichte der bildenden Kunst in Europa (Wien 1898); Große, Die Anfänge der Kunst (Freiburg 1894); Schurtz, Urgeschichte der Kultur (Leipz. 1900); Haddon, Evolution in art (Lond. 1895) und The decorative art of British New Guinea (Dublin 1894); Andree, Ethnographische Parallelen und Vergleiche, neue Folge (Leipz. 1889); K. v. d. Steinen, Unter den Naturvölkern Zentralbrasiliens (Berl. 1894); Woermann, Geschichte der Kunst aller Zeiten und Völker (Bd. 1, Leipz. 1900); »Ethnologisches Notizblatt«, 1901; Riegl, Stilfragen, Grundlegungen zu einer Geschichte der Ornamentik (Berl. 1893); Evans, Primitive Pictographs (»Journal of Hellenic Studies, XIV«, Lond. 1894); Hoernes, Der diluviale Mensch in Europa (Braunschweig 1903).

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 11. Leipzig 1907, S. 806-808.
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