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Orientalische Philologie

[118] Orientalische Philologie. Das Studium der Sprachen u. Literaturen der Kulturvölker des Orients, insbes. Vorder- und Mittelasiens, verdankt seine Begründung der Ausbreitung des Christentums in Europa; doch wurde während des ganzen Mittelalters das Hebräische, als die Sprache des Urtextes der Bibel und, wie man annahm, die Ursprache der Menschheit, zwar hoch verehrt, aber die Beschäftigung damit meist den Juden überlassen, die, unterstützt durch die trefflichen Arbeiten arabischer Grammatiker über das nahe verwandte Arabische, den Grund zur wissenschaftlichen Bearbeitung des Hebräischen gelegt haben. Erst die Reformation veranlaßte auch die Christen, sich eingehender mit der Sprache der Bibel zu beschäftigen, bald auch mit dem Syrischen, Chaldäischen, Äthiopischen und dem Arabischen, auf das schon früher die Berührung mit der arabischen Kultur in Spanien, Sizilien und Palästina und das dadurch erweckte Interesse an der reichen Literatur der Araber, besonders an ihren Übersetzungen Aristotelischer Schriften, hingeführt hatte. Ebenfalls in das 16. Jahrh. fällt der großartige Aufschwung der Missionstätigkeit, die in die europäische Wissenschaft einen noch viel weitern Kreis von orientalischen Sprachen einführte. Papst Gregor XIII. stiftete eine Missionsanstalt mit vier Kollegien für morgenländische Nationen in Rom, Urban VIII. ebendaselbst 1627 das berühmte Collegium de propaganda fide zur Ausbildung von Missionaren und Anleitung derselben zum Studium orientalischer Sprachen, das auch das Verdienst hat, eine Menge wichtiger orientalischer Werke veröffentlicht zu haben. Noch heute sind die Missionare, besonders die englischen, an der Entwickelung der orientalischen Philologie in hervorragender Weise beteiligt. Weitere Förderung brachten ihr der rasch zunehmende Handelsverkehr mit dem Orient, die Eroberung Ostindiens durch die Engländer, die gegen Ende des 18. Jahrh. die reiche alte Sprache und Literatur Indiens der europäischen Wissenschaft erschloß, Napoleons I. Feldzug nach Ägypten und wissenschaftliche Reisen, besonders in der neuesten Zeit die verschiedenen gelehrten Expeditionen nach Assyrien (s. Keilschrift). Das Studium des Sanskrits und die Entdeckung seiner Verwandtschaft mit den Kultursprachen Europas sowie mit dem Persischen und Zend führte im Anfang des 19. Jahrh. in Deutschland zur Begründung der vergleichenden Sprachwissenschaft (s. d.), die dann auf alle orientalischen Studien erweiternd und vertiefend zurückwirkte. Mit dem Studium der Semitischen Sprachen (s. d.) wird jetzt gewöhnlich das des Neupersischen und Türkischen wegen deren vielfachen Beziehungen zum Arabischen verbunden; die Sanskritisten trieben aus ähnlichen Gründen meistens auch noch die ältern iranischen Sprachen, namentlich Zend und Altpersisch. Die Untersuchung des Altägyptischen geht mit dem Studium des Koptischen und andrer neuern Sprachen Afrikas, wie auch des Hebräischen u.a. Hand in Hand. Die Sprachen Chinas und die übrigen Indochinesischen Sprachen (s. d.) erforscht die Sinologie, der einstweilen auch noch die Bearbeitung der von China beeinflußten Sprachen und Literaturen: des Japanischen, Korea nischen, Annamitischen u.a., obliegt. Die finnisch-ugrischen Sprachen werden besonders in Finnland und Ungarn studiert, die uralaltaischen, die malaiisch-polynesischen, die drawidischen und andre asiatische Sprachen ohne hervorragende Literatur und Kultur sind noch am wenigsten untersucht. Am meisten werden seit Beginn des 19. Jahrh. die orientalischen Studien von deutschen Gelehrten getrieben; außerdem sind in der Gegenwart glänzend vertreten: Italien durch Guidi, Ascoli, de Gubernatis, Schiaparelli, Severini u.a., Frankreich durch Schefer, Menant, Barth, Senart, Reignaud, Bréal, Maspero, Rosny u.a., England durch Sayce, Legge, Davids, Monier Williams, Grierson, Bendall, Macdonell, Fleet u.a., Holland durch Kern und de Goeje, Belgien durch de Harlez, Dänemark durch Fausböll, Ungarn durch Vambéry, die Schweiz durch Naville etc. An der Erforschung des indischen Altertums nehmen jetzt auch geborne Hindu lebhaften Anteil. England besitzt die reichsten Sammlungen an Handschriften des Orients, namentlich diejenige des India Office in London und der Bodleiana in Oxford; das Britische Museum in London, das ebenfalls reich an indischen, persischen etc. Handschriften ist, besitzt zugleich die größte Sammlung assyrischer Kunstwerke, die meist mit Keilschriften bedeckt sind. Die Pariser Bibliothek ist besonders reich an[118] chinesischen, die Madrider des Escurial an arabischen Handschriften; in Deutschland sind die Bibliotheken von Berlin, München, Dresden, Gotha, Leipzig, Tübingen, in Österreich ist Wien reich an orientalischen Manuskripten. Höchst förderlich als Sammelpunkte dieser Studien wirken seit langem die Asiatischen Gesellschaften (s. d.). Besondere Lehranstalten für orientalische Sprachen gibt es in Rom, Paris, Wien (orientalische Akademie), Oxford, London, Petersburg und Berlin (Orientalisches Seminar, seit 1887, s. Seminar für orientalische Sprachen). Einen Vereinigungspunkt für die Orientalisten aller Länder bilden die internationalen Orientalistenkongresse, deren dreizehnter 1902 in Hamburg stattfand.

Abgesehen von der Begründung der Sprachwissenschaft im Beginn des 19. Jahrh., ist das Aufblühen der orientalischen Studien von besonderer Bedeutung für die vergleichende Religionswissenschaft geworden. Bei allen Literaturen des Orients steht das religiöse Interesse im Vordergrund, und das Studium der heiligen Schriften des Morgenlandes, das von alters her der Schoß aller großen religiösen Bewegungen gewesen ist, namentlich die erst neuerdings angebahnte Kenntnis der Wedas, des Zendavesta, der buddhistischen und der chinesischen Religionsbücher, ermöglicht jetzt eine wahrhaft unbefangene, universalhistorische Auffassung vom Wesen der Religion. Auch für die Urgeschichte der Menschheit bildet die orientalische Literatur die Hauptquelle, und die Leistungen der Völker des Ostens auf dem Gebiete der Philosophie, des Rechts, der Grammatik, der Dichtkunst sind nicht minder vom höchsten geschichtlichen Interesse. Vgl. Benfey, Geschichte der Sprachwissenschaft und der orientalischen Philologie in Deutschland (Münch. 1860); Zenker, Bibliotheca orientalis (Leipz. 1846–61, 2 Bde.); Friederici, Bibliotheca orientalis (das. 1877–84, 8 Bde.); Trübners »Literary Record« (Lond. 1865 ff.); »Orientalische Bibliographie« (1887 begründet von A. Müller, jetzt hrsg. von Scherman, Berl.).

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 15. Leipzig 1908, S. 118-119.
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