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böse

[106] böse heißt das Gegenteil von gut. Da nun unter gut bald das Nützliche, bald das Angenehme, bald das Schöne, bald das Sittliche verstanden wird, so hat auch der Begriff des Bösen verschiedene Bedeutung angenommen, und man spricht z.B. von einem bösen Geschwür, einer bösen Nachricht, einem bösen Gesicht und einem bösen Menschen. Im engeren Sinne ist aber böse soviel als unsittlich. Das Wesen des Bösen besteht, soweit unser Verhältnis zu den Mitmenschen in Betracht kommt, vor allem in der Selbstsucht, in der rücksichtslosen Verfolgung des Selbsterhaltungstriebes. Dieser ist an sich natürlich; er äußert sich auch auf natürliche Weise in den [106] Trieben nach Existenz, Nahrung, Ruhe, Eigentum, Schmuck, Ehre, Macht usw. Solange wir diesen Trieben mit Maß, mit Vernunft und mit Berücksichtigung unserer Nebenmenschen folgen, kann unser Handeln nicht böse heißen. Erst die egoistische Selbstbehauptung, welche den Forderungen der Sympathie und Gerechtigkeit widerspricht, ist böse. Weiter besteht das Sittlich böse in allen Schwächen und Irrungen, die die menschliche Anlage zu normaler Entfaltung und Vervollkommnung hemmen und ablenken. – Den Ursprung des Bösen hat die Religion und Philosophie auf verschiedene Weise zu erklären versucht. Der Parsismus leitet das Böse aus einem Weltprinzip ab und stellt dem guten Ormuzd den bögen Ahriman als von Anfang an existierend gegenüber. Dadurch wird aber der Begriff der Gottheit wesentlich eingeschränkt. Der Parsismus und der vom Parsismus beeinflußte und im 3. Jahrh. n. Chr. entstandene Manichäismus, der das Böse als selbständiges Prinzip ansieht, sind daher unvereinbar mit der allein haltbaren Idee des Göttlichen. – Auch die Ableitung des Bösen durch Platon (427-347) aus der Materie hylê befriedigt nicht, weil dadurch das Böse zu einem Negativen verflüchtigt und in den Stoff gelegt wird, während es doch positiv ist und, vor allem in der Gesinnung, in der verkehrten Richtung des Willens liegt. – Ebensowenig genügt die Herleitung des Bösen aus der menschlichen Freiheit, mag man sie mit Origenes (254), Kant (1804) und Schelling (1854) als transscendentalen Akt in einen Zustand vor der Geburt setzen, oder mit Augustin (430), Schleiermacher (1834) und Jul. Müller (1875) in das Diesseits. Denn die Freiheit reicht nicht aus, zu erklären, wie ein faktisch gutes Wesen böse werden konnte. Auch die Ableitung des Bösen aus einem Abfall von Gott, wie sie Plotin (270) und Augustin (430) lehren, kann nicht als angemessen gelten; ebensowenig die Auffassung des Thomas von Aquino (1274), der im Bösen ein Mittel zum Guten sieht. – Ein andrer Versuch der Ableitung des Bösen findet sich in der indisch-neuplatonischen Ansicht, nach der zwar die gesamte Welt durch Emanation aus Gott hervorgeht, aber das einzelne unberechtigt ist, sich als solches zu behaupten. Ähnlich behauptet Leibniz (1646-1716), in seiner Theodicee (1710), das Böse sei bei der Unvollkommenheit der Geschöpfe unvermeidlich, es habe mithin seinen Ursprung nicht in Gott, sondern in der Beschränktheit der endlichen Wesen. –[107] Hieran anknüpfend kann man den Ursprung des Bösen im Endlichen und Menschlichen suchen. Das Endliche ist unvollkommen, und der Mensch ist selbstsüchtig von Natur. Aber so wenig der Naturzustand auf sozialem Gebiete festgehalten, sondern zur Kultur veredelt wird, so wenig bleibt der ethische Naturzustand (vgl. Bildung, Humanität). Von Natur ist der Mensch noch nicht das, was seine Entwicklung aus ihm machen kann. Dies lehrt uns die Betrachtung der menschlichen Entwicklung. Jedes Kind ist, solange es ohne Selbstbewußtsein ist, weder gut noch böse. Sobald aber der Selbsterhaltungstrieb erwacht, zeigen sich schlechte Eigenschaften, Selbstsucht, Trotz, Grausamkeit, Ungehorsamkeit usw. Da sich nun die Sinnlichkeit jahrelang entwickeln kann, ehe die Vernunft durch die Erziehung ausgebildet wird, so findet sich der zum Selbstbewußtsein erwachte Mensch zu seinem Schrecken in einem Zustande vor, den Kant das »radikale Böse« genannt hat. Diesen Namen verdient es wenigstens insofern, als es mit der menschlichen Entwicklung unvermeidlich verknüpft ist. Nun beginnt in dem Menschen der sittliche Kampf gegen das Böse. – Das Böse ist ein ethischer Begriff, der daneben auch seine kulturhistorische Bedeutung hat. Was auf einer noch unerzogenen Stufe menschlicher Entwicklung erklärlich und entschuldbar ist, wird auf einer höheren Unsittlichkeit. Der verwandte metaphysische Begriff ist das Übel (s. d.). Vgl. Herbart, Gespräche ü. d. Böse, Königsb. 1818. Blasche, das Böse im Einklang mit der Weltordnung. Leipzig 1827. Jul. Müller, Christl. Lehre v. d. Sünde. 3. Aufl. Breslau 1849. Fr. Paulsen, System der Ethik. 6. Aufl. 1903.

Quelle:
Kirchner, Friedrich / Michaëlis, Carl: Wörterbuch der Philosophischen Grundbegriffe. Leipzig 51907, S. 106-108.
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