Otfried Nassauer
Otfried Nassauer (* 20. August 1956 in Siegen; † 1. Oktober 2020 in Berlin) war ein deutscher Journalist und Friedensforscher, der an der Schnittstelle von Zivilgesellschaft, Medien und Politik rund vierzig Jahre lang den Diskurs über die deutsche und internationale Militär- und Sicherheitspolitik maßgeblich prägte.[1][2]
Leben
BearbeitenNassauer studierte in Hamburg evangelische Theologie.[3] Bereits kurz nach Gründung der Grünen 1980 wurde er als Parteiloser in deren Fachgruppe „Frieden und Internationales“ sowie in der Bundarbeitsgemeinschaft „Frieden“ aktiv. Nachdem 1983 der Koordinationsausschuss der Friedensbewegung formiert wurde, engagierte Nassauer sich auch dort als sicherheitspolitischer Berater.[4] Als 1987 die Grünen-Politikerin Angelika Beer erstmals zum Mitglied des Deutschen Bundestages gewählt wurde, agierte er als ihr enger Berater, insbesondere mit Blick auf ihre Arbeit im Verteidigungsausschuss des Parlaments.[5]
Schon kurz nach dem Fall der Berliner Mauer organisierte er ein Treffen zwischen Offizieren der Nationalen Volksarmee von der Militärakademie „Friedrich Engels“ in Dresden und solchen von der Führungsakademie der Bundeswehr in Hamburg.[6] Mit ostdeutschen Militärs und Friedensengagierten nahm er sowohl an Veranstaltungen im Hauptquartier der NATO wie auch des neuen russischen Generalstabs teil.[7] 1991 gründete Nassauer zusammen mit Friedensforschern aus der Bundesrepublik und der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik (DDR) das Berliner Informationszentrum für Transatlantische Sicherheit (BITS) im ehemaligen Ostberlin.[4][7] Im darauf folgenden Jahr gab er mit seinem Co-Direktor Siegfried Fischer, einem ehemaligen Stabsoffizier der Volksmarine und Militärdozenten, den Sammelband Satansfaust. Das nukleare Erbe der Sowjetunion mit Beiträgen von Fachleuten aus West und Ost heraus.[8] Als Leiter des BITS befasste er sich über die folgenden fast drei Jahrzehnte mit dem gesamten Spektrum an Entwicklungen im sicherheitspolitischen Sektor. Ein Schwerpunkt blieb dabei die Rüstungskontrolle von Atomwaffen, vor allem die nukleare Teilhabe Deutschlands über die Stationierung von Atombomben der USA auf dem Fliegerhorst Büchel.[9] Ein weiterer Fokus war die Analyse von deutschen Rüstungsexporten. So beschäftigte er sich intensiv mit der Lieferung von deutschen Unterseebooten an Israel und andere Staaten.[10] Auch im Bereich der Kleinwaffen engagierte er sich, insbesondere zu den Kampagnen des pazifistischen Friedensaktivisten Jürgen Grässlin gegen den Gewehrproduzenten Heckler & Koch.[11] Nach der Gründung des Deutschen Initiativkreises für das Verbot von Landminen 1995 unterstützte er dieses mit einer Studie über Landminen Made in Germany.[12]
Als sich Bündnis 90/Die Grünen in den 1990er Jahren für Auslandseinsätze der Bundeswehr öffnete, beriet Nassauer zunehmend die Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS) und ihre Nachfolgerin, Die Linke.[13]
Nassauer veröffentlichte im Print- und Onlinebereich unter anderem in der taz,[14] dem Neuen Deutschland, dem Spiegel, dem Friedensforum,[15] der Jungen Welt,[16] The European[17] und in Das Blättchen.[18]
Im Hörfunk prägte Nassauer mit mehr als 150 Beiträgen ab 1993 insbesondere die NDR-Info-Sendereihe Streitkräfte und Strategien.[6]
Im Fernsehbereich wirkte er mit Hintergrundrecherchen an zahlreichen Beiträgen vor allem der investigativen ARD-Magazine Report Mainz und Monitor mit.[19]
Am 30. September 2020 informierte der Vorstand der Internationalen Liga für Menschenrechte Nassauer darüber, dass das Kuratorium des Vereins beschlossen hatte, ihn mit der Carl-von-Ossietzky-Medaille 2020 auszuzeichnen.[20] Am darauf folgenden Tag, in der Nacht auf den 2. Oktober, verstarb Nassauer im Alter von 64 Jahren in seiner Berliner Wohnung.
Wie sehr Nassauer als Experte wie als Mensch über fast das gesamte politische Spektrum geschätzt wurde, belegt die Tatsache, dass zahlreiche Trauerbekundungen nicht nur aus der Friedensbewegung erfolgten,[4][21][22][23][24][11][25][26][27][28][29][30][7][31][32][33] sondern auch in mehreren Leitmedien[34][35] von Politikern verschiedener Parteien[36][5][37] sowie aus Kreisen der Bundeswehr.[38] Die taz-Chefredakteurin Ulrike Winkelmann beschrieb Nassauer in ihrem Nachruf als „unersetzlich“ und als wandelnde Enzyklopädie:
„Otfried aber kannte jede verdammte Schraube an den Kampfdrohnen, die die Bundeswehr beschaffen wollte, an den U-Booten, die nach Israel geliefert wurden, an den Leopard-Panzern, die Saudi-Arabien von Krauss-Maffei Wegmann kaufen wollte.“[39]
Veröffentlichungen
Bearbeiten- Intervenieren für eine neue Weltordnung?, in: Gibt es in der Frage Krieg oder Frieden noch den Westen? Beiträge zum 12. Dresdner Friedenssymposium am 14. Februar 2004. (Hrsg.) Dresdener Studiengemeinschaft Sicherheitspolitik (DSS) e. V.: DSS-Arbeitspapiere, Dresden 2004, Heft 69, S. 14–29.
- Wird Europa technisch ausgetrickst? Der letzte Text des Friedensforschers Otfried Nassauer: Die USA sind dabei, ihre militärischen Verbündeten in Sachen Nuklearstrategie kaltzustellen. In: nd. Der Tag vom 16. November 2020, S. 3 (ganzseitiger Beitrag)
- 50 Jahre Nuklearwaffen in Deutschland (BPB)
- Otfried Nassauer: Atomwaffen: Rechentricks lassen Abrüstung größer erscheinen – Spiegel Online, 22. April 2010
- Otfried Nassauer: Bomben in Europa: US-Ministerium will Alt-Atomwaffen modernisieren – Spiegel Online, 15. März 2010
Weblinks
Bearbeiten- Literatur von und über Otfried Nassauer im Katalog der Deutschen Nationalbibliothek
- Otfried Nassauer (Direktor) Porträt bei BITS
- Transatlantische Sicherheit „Die deutsche Außenpolitik muss aufpassen“, Deutschlandfunk 17. Februar 2017, Otfried Nassauer im Gespräch mit Susanne Schrammar
- Angekündigter US-Ausstieg aus Atomabrüstungsvertrag: Das Wanken der europäischen Sicherheitsarchitektur, SWR 2 22. Oktober 2018, Otfried Nassauer in „Das Politische Interview“
Einzelnachweise
Bearbeiten- ↑ Michael Brzoska: Vorkämpfer für den Frieden – Nachruf auf Otfried Nassauer. In: Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg. 5. Oktober 2020, abgerufen am 5. Oktober 2020.
- ↑ Christian Dewitz: Otfried Nassauer: Militärexperte, Friedensforscher, Journalist. In: bundeswehr-journal. 5. Oktober 2020, abgerufen am 7. Oktober 2020 (englisch).
- ↑ Otfried Nassauer. Der Mann, die Vision. Die Tageszeitung, 13. Oktober 2001, abgerufen am 14. November 2017.
- ↑ a b c Wolfgang Biermann, Inga Blum, Peter Brandt, Ute Finckh-Krämer, Uli Frey, Burkhard Zimmermann: Wir trauern um Otfried Nassauer. In: Entspannungspolitik Jetzt! – INEP. Initiative „Neue Entspannungspolitik“, 8. Oktober 2020, abgerufen am 9. Oktober 2020.
- ↑ a b Angelika Beer: Otfried Nassauer ins tot! Ein Brief an Otfried. In: angelika-beer.de. 16. Oktober 2020, abgerufen am 17. Oktober 2020.
- ↑ a b Andreas Flocken: Nachruf auf Otfried Nassauer. In: Streitkräfte und Strategien. NDR Info, 5. Oktober 2020, abgerufen am 5. Oktober 2020.
- ↑ a b c Wolfgang Schwarz, Siegfried Fischer, Dmitri Trenin, Wilfried Schreiber: In memoriam Otfried Nassauer (1956 – 2020). In: Das Blättchen. 9. Oktober 2020, abgerufen am 10. Oktober 2020 (deutsch).
- ↑ Otfried Nassauer, Siegfried Fischer: Satansfaust Das nukleare Erbe der Sowjetunion. Aufbau-Verlag, Berlin 1992, ISBN 978-3-351-02401-7.
- ↑ Otfried Nassauer: Stichwort: Atomwaffenstandort Büchel. In: Berliner Informationszentrum für Transatlantische Sicherheit (BITS). 31. August 2011, abgerufen am 8. Oktober 2020.
- ↑ Otfried Nassauer: Sechs Dolphin-U-Boote für Israels Abschreckung. (PDF) In: Berliner Informationszentrum für Transatlantische Sicherheit (BITS). 31. Dezember 2011, abgerufen am 8. Oktober 2020.
- ↑ a b Jürgen Grässlin, Stephan Möhrle: Das RüstungsInformationsBüro trauert um Otfried Nassauer – RüstungsInformationsBüro. In: RüstungsInformationsBüro e. V. 5. Oktober 2020, abgerufen am 8. Oktober 2020 (deutsch).
- ↑ Thomas Küchenmeister, Otfried Nassauer: 'Gute Mine' zum bösen Spiel? Landminen made in Germany. KOMZI-Verlag, Idstein 1997, ISBN 978-3-929522-31-0.
- ↑ Christian Baron: Otfried Nassauer ist tot – Möge er Frieden finden. In: der Freitagdigital. 7. Oktober 2020, abgerufen am 8. Oktober 2020.
- ↑ Otfried Nassauers TAZ Artikel
- ↑ Publications: sorted by date. Liste. bits.de, abgerufen am 15. November 2017.
- ↑ Otfried Nassauer: Struck zuck. Zu den Verteidigungspolitischen Richtlinien: Nichts ist unmöglich. Junge Welt, 23. Mai 2003, abgerufen am 15. November 2017.
- ↑ Otfried Nassauers Artikel in The European
- ↑ Schlagwort-Archiv: Otfried Nassauer (in 33 Beiträgen). In: Das Blättchen. Abgerufen am 11. Oktober 2020 (deutsch).
- ↑ MONITOR trauert um Otfried Nassauer. In: Das Erste. WDR, 5. Oktober 2020, abgerufen am 8. Oktober 2020.
- ↑ Carl-von-Ossietzky-Medaille 2020 an Otfried Nassauer (verstorben am 1.10.2020) | Internationale Liga für Menschenrechte. Abgerufen am 10. Dezember 2020 (deutsch).
- ↑ Thomas Ruttig: RIP Otfried Nassauer (1956-2020). In: Afghanistan Zhaghdablai. 4. Oktober 2020, abgerufen am 9. Oktober 2020 (deutsch).
- ↑ Wir trauern um Otfried Nassauer. In: Aktion Aufschrei – Stoppt den Waffenhandel! 5. Oktober 2020, abgerufen am 8. Oktober 2020.
- ↑ Michael Schmid: Trauer um Friedensforscher Otfried Nassauer (1956–2020) | Lebenshaus Schwäbische Alb. In: Lebenshaus Schwäbische Alb e. V. 7. Oktober 2020, abgerufen am 8. Oktober 2020.
- ↑ Sabine Müller-Langsdorf, Wolfgang Burggraf: Evangelische Friedensarbeit trauert um Otfried Nassauer | Evangelische Friedensarbeit. In: Gegen Rüstungsexporte und Migrationsabwehr. Evangelische Arbeitsgemeinschaft für Kriegsdienstverweigerung und Frieden (EAK), 5. Oktober 2020, abgerufen am 8. Oktober 2020.
- ↑ pax christi-Deutsche Sektion: Pax Christi – Meldungen – pax christi trauert um Otfried Nassauer. 5. Oktober 2020, abgerufen am 8. Oktober 2020.
- ↑ Martin Böttger: Ein Guter weniger. In: Beueler Extradienst. 4. Oktober 2020, abgerufen am 8. Oktober 2020 (deutsch).
- ↑ Barbara Happe: Nachruf auf Otfried Nassauer. In: Dachverband der Kritischen Aktionärinnen und Aktionäre. 5. Oktober 2020, abgerufen am 8. Oktober 2020 (deutsch).
- ↑ Xanthe Hall, Jens-Peter Steffen: Die IPPNW betrauert den Verlust eines ganz engen Freundes – Nachruf für Otfried Nassauer. In: ippnw.de. Deutsche Sektion der Internationalen Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges/Ärzte in sozialer Verantwortung e. V. (IPPNW), 9. Oktober 2020, abgerufen am 9. Oktober 2020.
- ↑ „Kannte jede verdammte Schraube“ – Stimmen zum Tod von Otfried Nassauer. In: Ohne Rüstung Leben. 9. Oktober 2020, abgerufen am 9. Oktober 2020.
- ↑ Martina Fischer: Zum Tod von Otfried Nassauer. In: Brot für die Welt. 8. Oktober 2020, abgerufen am 9. Oktober 2020.
- ↑ Marianne Zepp: Nachruf Otfried Nassauer. In: diAk e. V. 12. Oktober 2020, abgerufen am 12. Oktober 2020 (deutsch).
- ↑ Wolfgang Schlupp-Hauck: Seine Unterstützung wird uns fehlen: Nachruf auf Otfried Nassauer. In: Netzwerk Friedenskooperative. 14. Oktober 2020, abgerufen am 14. Oktober 2020.
- ↑ Ulrich Frey: Nachruf auf den Friedensforscher Otfried Nassauer. In: Koordinationskreis der Ökumenischen Konsultation Gerechtigkeit und Frieden. Evangelische Akademie im Rheinland, 15. Oktober 2020, abgerufen am 16. Oktober 2020.
- ↑ Süddeutsche Zeitung: Otfried Nassauer gestorben. In: Süddeutsche Zeitung. 5. Oktober 2020, abgerufen am 9. Oktober 2020.
- ↑ Max Bauer: Friedensforscher Otfried Nassauer ist tot: „Ein ganz präziser Blick auf Krieg und Frieden“. In: SWR2 Journal am Mittag. 5. Oktober 2020, abgerufen am 9. Oktober 2020.
- ↑ Karl-W.: Otfried Nassauer gestorben. In: Grüne Linke. 5. Oktober 2020, abgerufen am 8. Oktober 2020 (deutsch).
- ↑ Kristian Golla: Wir nehmen Abschied von unserem Freund, Kollegen und Mitstreiter Otfried Nassauer. In: Netzwerk Friedenskooperative. taz, 17. Oktober 2020, abgerufen am 17. Oktober 2020.
- ↑ Otfried Nassauer: Militärexperte, Friedensforscher, Journalist – … In: bundeswehr-journal. 5. Oktober 2020, abgerufen am 8. Oktober 2020 (englisch).
- ↑ Ulrike Winkelmann: Nachruf auf Otfried Nassauer: Beharrlich für den Frieden. In: taz. 4. Oktober 2020, abgerufen am 4. Oktober 2020.
Personendaten | |
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NAME | Nassauer, Otfried |
KURZBESCHREIBUNG | deutscher Journalist und Friedensforscher |
GEBURTSDATUM | 20. August 1956 |
GEBURTSORT | Siegen |
STERBEDATUM | 1. Oktober 2020 |
STERBEORT | Berlin |