INRI
INRI (auch I.N.R.I. oder J.N.R.J.) sind die Initialen des lateinischen Satzes Iesus Nazarenus Rex Iudaeorum – „Jesus von Nazaret, König der Juden“. Dieser Satz stand nach Joh 19,19–20 EU in drei Sprachen auf einer Tafel, die der römische Statthalter Pontius Pilatus oben am Kreuz Jesu anbringen ließ. Alle vier kanonischen Evangelien nennen mit kleinen Varianten eine solche Tafelinschrift. Sie wird daher auch Kreuzestitel (titulus crucis) genannt.
Die Inschrift gab Jesu angebliches Vergehen, den Rechtsgrund seiner Kreuzigung, öffentlich bekannt. Nachdem damalige Anführer aufständischer Juden den Königstitel beansprucht hatten, hatten die römischen Herrscher jüdischen Vasallen das Tragen dieses Titels verboten. Darum verweist die Kreuzestafel auf ein historisches Todesurteil des Pilatus, das Jesus durch einen impliziten oder expliziten Messias-Anspruch veranlasst haben kann.
Die Historische Jesusforschung hat die Ursachen dieses Todesurteils (causae crucis) intensiv untersucht. Nach dem Neuen Testament (NT) bezeichnete Jesus sich nie als „König der Juden“, sondern verkündete durch Worte und Taten die Königsherrschaft Gottes. Dies brachte ihn von Beginn an in Konflikte mit den damaligen Führungsgruppen des Judentums und den römischen Besatzern. Für das Urchristentum bestätigte der Kreuzestitel die Würde Jesu Christi als Messias seines Volkes Israel und Sohn Gottes, der am Kreuz die Schuld aller Menschen auf sich nahm.
Neues Testament
Die vier Evangelien zitieren die Inschrift der Kreuzestafel wie folgt:
Mk 15,26 EU | Mt 27,37 EU | Lk 23,38 EU | Joh 19,19f. EU |
---|---|---|---|
Und eine Aufschrift gab seine Schuld an: Der König der Juden. | Über seinem Kopf hatten sie eine Aufschrift angebracht, die seine Schuld angab: Das ist Jesus, der König der Juden. | Über ihm war eine Aufschrift angebracht: Das ist der König der Juden. | Pilatus ließ auch eine Tafel anfertigen und oben am Kreuz befestigen; die Inschrift lautete: Jesus von Nazaret, der König der Juden. […] Die Inschrift war hebräisch, lateinisch und griechisch abgefasst. |
Die Version des Markusevangeliums (Mk) gilt als die älteste und als Vorlage der übrigen Versionen. Diese gelten als redaktionell erweitert. Alle vier Versionen enthalten die Worte „der König der Juden“. Sie benannten laut Mk und dem Matthäusevangelium (Mt) Jesu Schuld, den Grund seiner Kreuzigung. Mt und das Lukasevangelium (Lk) ergänzen, dass die Tafel „über seinem Kopf“ oder „über ihm“ angebracht wurde. Mt ergänzte Jesu Namen, das Johannesevangelium (Joh) ergänzte dazu das Attribut Nazoraios („der Nazoräer“).[1] Die lateinische Vulgata übersetzte es mit Nazarenos („der Nazarener“). Beides bezeichnet im NT Jesu Herkunftsort, das Dorf Nazareth in Galiläa.[2]
Die Abkürzung INRI geht auf die lateinisch übersetzte Johannesversion (Joh 19,19 VUL) zurück. Nur diese nennt die Inschrift titlos. Von dorther stammt der stehende lateinische Ausdruck titulus crucis.[3] Gemeint ist eine auf vergängliches Holz oder Papier aufgetragene, keine dauerhaft in Stein oder Metall eingravierte Schrift.[4]
Nur die Johannesversion nennt Pilatus als Urheber der Kreuzestafel, macht den römischen Statthalter also explizit für Jesu Kreuzigung verantwortlich. Nur sie ergänzt die dreisprachige Abfassung. Mit „hebräisch“ kann hier auch die Aramäische Sprache gemeint sein, die damalige Umgangssprache palästinischer Juden. Dann hätte der Satz Jeshua natsoraya malka dihudaye gelautet.[5] Der Zusatz betont, dass Pilatus Jesu angebliches Vergehen nicht nur Bürgern des Römischen Reichs, sondern auch den Juden offiziell bekannt machte. Römische Bekanntmachungen benutzten sonst nie die Sprache eines unterworfenen Volkes. Eventuell sollte die Kreuzestafel also besonders die jüdischen Zuschauer demütigen und ihre Befreiungshoffnungen verhöhnen.[4]
Historischer Hintergrund
„Der König der Juden“
Laut römischen Quellen machten Römer Vergehen von Straftätern vor oder nach deren Bestrafung manchmal mit einer Tafel bekannt, so einmal auch vor einer Kreuzigung: Laut Cassius Dio wurde der Verurteilte mit einer Aufschrift zum Grund dafür über den Marktplatz geführt. Diese Anekdoten belegen eher die grausame Willkür einzelner Kaiser als einen allgemeinen römischen Rechtsbrauch. Nur das NT erwähnt das Anbringen einer Tafel über dem Gekreuzigten: Gerade dieses besondere Detail spricht laut vielen Neutestamentlern für eine konkrete historische Erinnerung.[6]
Jüdische Vasallenherrscher durften von den Hasmonäern bis zu Herodes dem Großen den Titel „König der Juden“ tragen. Nach dessen Tod (4 v. Chr.) erhoben sich Juden in den römischen Provinzen Judäa, Idumäa und Galiläa gegen die herodianische und römische Herrschaft. Der römerfreundliche jüdische Historiker Flavius Josephus (Antiquitates Iudaicae 17,283-285) nannte die beteiligten Gruppen abwertend „Räuberbanden“, bestätigte aber ihre politische Absicht: Sie hätten jeweils einen Anführer zu ihrem „König“ gewählt, „der den Untergang der staatlichen Ordnung herbeiführen sollte“[7] und „Judäa schließlich in das Verderben des Krieges“ geführt habe.[8]
Roms Legat Publius Quinctilius Varus schlug die Aufstände bis 6 n. Chr. blutig nieder und ließ dabei tausende rebellische Juden kreuzigen. Danach verweigerten die Römer jüdischen Klientelfürsten bis zum Ende der Amtszeit des Pilatus (37 n. Chr.) den Königstitel und verwalteten die unruhigen jüdischen Provinzen direkt.[9] Für die nächsten 30 Jahre überliefert Josephus dort keine weiteren Unruhen. Doch bei Jesu Aufenthalt in Jerusalem (um 30 n. Chr.) kam es laut Mk 15,7 EU dort zu einem „Aufstand“. Laut Mk 15,27 EU wurden zwei Beteiligte als „Räuber“ (aufständische Juden) mit Jesus gekreuzigt.[10]
Nach dem von Kaiser Augustus erlassenen Gesetz lex Iulia de maiestate galt ein in römischen Provinzen erhobener Anspruch auf eine Königswürde ohne kaiserliche Erlaubnis als Aufruhr (seditio, perduellio) und Angriff auf den Kaiser selbst (crimen laesae maiestatis). Dies war seit der Amtszeit von Kaiser Tiberius (14–37 n. Chr.) mit Kreuzigung zu ahnden.[11] Dabei unterschieden die Römer einen religiösen nicht von einem politischen Führungsanspruch. Sie fassten einen nicht von ihnen erlaubten Königstitel als Staatsverbrechen ähnlich dem heutigen Hochverrat auf. Der Neutestamentler Karlheinz Müller hielt den Satz „der König der Juden“ daher für die strafrechtliche römische Bezeichnung für jüdische Rebellenanführer.[7]
Die Kreuzigung war die übliche römische Hinrichtungsmethode für Aufständische. Da auch außerchristliche antike Quellen zu Jesus von Nazaret seine Kreuzigung unter Pilatus belegen, gilt diese als historisch gesichert. Auch eine öffentliche schriftliche Bekanntgabe des Strafgrundes gilt als historisch,[6] meist im Wortlaut der Markusversion.[12][9] Von diesen beiden Tatsachen muss laut dem Historiker Paul Winter jede Rückfrage nach den Ursachen des Kreuzestodes Jesu ausgehen.[13]
Schon die Kreuzigung Jesu als solche schließt aus, dass Pilatus damit nur Interessen jüdischer Instanzen ausführte. Die Tafelinschrift belegt ein politisches Verfahren: Demnach ließ er Jesus als Thronanwärter eines von den Römern unabhängigen jüdischen Staates, also als Staatsfeind[14] und politischen Aufrührer hinrichten.[15] Das sollte die Juden, so Martin Karrer, von weiteren Aufständen für einen eigenen Staat abschrecken: „Jesu Hinrichtung statuierte für Judäer, Galiläer und nicht zuletzt die Nachkommen Herodes des Großen ein Exempel, sich mit der von Rom gewährten nichtköniglichen Verwaltungsstruktur zu bescheiden.“[9]
Anklage und Verhör durch Pilatus
Was den Hinrichtungsbefehl des Pilatus gegen Jesus auslöste, ist ungewiss. Denn dieser bezeichnet sich im NT nie als „König der Juden“; nur Nichtjuden nennen ihn dort so (in Mt 2,2 die Sterndeuter aus Babylonien, in den Passionstexten Pilatus und die Römer).[16] Der Ausdruck stammt nicht aus dem Tanach oder anderen jüdischen Schriften, sondern bezeichnete einen politischen Führungsanspruch aus römischer Sicht.[12]
Laut Mk 15,1-5 EU hatte der Sanhedrin, das damalige jüdische Religionsgericht in Jerusalem, zuvor beschlossen, Jesus an Pilatus auszuliefern, um ihn kreuzigen zu lassen. Daraufhin habe Pilatus Jesus verhört und direkt gefragt:
„Bist du der König der Juden? Er antwortete ihm: Du sagst es. Die Hohepriester brachten viele Anklagen gegen ihn vor. Da wandte sich Pilatus wieder an ihn und fragte: Willst du denn nichts dazu sagen? Sieh doch, wie viele Anklagen sie gegen dich vorbringen. Jesus aber gab keine Antwort mehr, sodass Pilatus sich wunderte.“
Die Anklagen gehen hier nur aus der Rückfrage des Pilatus hervor (Mk 15,12 EU): „Was soll ich dann mit dem tun, den ihr den König der Juden nennt?“ Demnach klagten die Tempelpriester (Sadduzäer) Jesus eines Anspruchs auf das politische Königsamt in Judäa an, also wegen Aufruhr und Hochverrat gegenüber Rom. Lk 23,2f. EU führte ihre Vorwürfe in direkter Rede aus und bestätigt, dass sie einen Messiasanspruch umfassten: Jesus behaupte, er sei der Christus und König. Darauf bezieht sich die folgende Verhörsfrage des Pilatus an Jesus.[17]
Jesu vieldeutige Antwort „Du sagst es“[18] entzog sich (so Klaus Haacker) der Fangfrage des Pilatus, die ihm (wie bei anderen römischen Prozessen belegt ist) wohl ein versehentliches Geständnis entlocken sollte. Ein Schweigen zur Anklage galt nach damaligem römischem Recht als deren Bestätigung. Dass Jesus im weiteren Verhör nicht mehr antwortete, musste Pilatus daher juristisch als Geständnis werten. Dieses ersetzte einen Schuldnachweis und zwang den römischen Richter zum Verhängen der für die Anklage vorgesehenen Strafe. Somit zog Jesus, falls das Verhör so wie dargestellt verlief, ein rechtsgültiges römisches Todesurteil auf sich.[19]
Doch laut Mk 15,9-15 EU bot Pilatus an, ihn freizulassen, da er ihn für unschuldig gehalten habe. Erst nach mehreren Freilassungsversuchen habe er den Forderungen der Menge nachgegeben, Jesus zu kreuzigen. Diese Darstellung gilt als ahistorisch: Nach allen sonst bekannten Quellen hätte ein römischer Statthalter kein Todesurteil gegen seine Überzeugung und Vorschriften gefällt, nur auf Verlangen einer unterworfenen Bevölkerung.[14] Laut Josephus und römischen Quellen genügte gerade unter Pilatus schon der bloße Verdacht aufrührerischen Verhaltens, um Juden nach einem kurzen polizeilichen Verhör (coercitio) ohne förmlichen Rechtsprozess kreuzigen zu lassen. Daher gelten die angeblichen Freilassungsversuche des Pilatus als redaktionelle Tendenz der Evangelien, die römische Besatzungsmacht zu entlasten und den jüdischen Sanhedrin zu belasten.[20]
Die späteren Evangelien führen das Verhör weiter aus und unterscheiden Jesu Messiasanspruch dabei stärker von einem politischen Führungsanspruch. Die Johannesversion (Joh 18,36-38 EU) betont die radikale Andersartigkeit seines Messiasanspruchs und seine himmlische Souveränität gegenüber den herrschenden irdischen Mächten. Während laut Mk 14,50 EU alle Jünger bei Jesu Festnahme fliehen, tritt er laut Joh 18,6–8 EU schützend für sie ein. Dagegen verteidigten jüdische Anhänger politischer Messiasanwärter diese laut zeitgenössischen Quellen todesmutig gegen die Römer.[21]
Beteiligung des Sanhedrin
Nach Joh 19,21f. EU protestierten die Tempelpriester bei Pilatus gegen die Tafelinschrift: Jesus habe nur behauptet, er sei „der König der Juden“. Doch Pilatus habe sie abgewiesen und die Inschrift beibehalten. Diese ergänzte Szene erfasst die damaligen Machtverhältnisse: Nur Roms Statthalter konnte rechtsgültige Todesurteile fällen. Der Sanhedrin unterstand ihm in der Rolle einer Hilfspolizei zum Bewahren von Ruhe und Ordnung. Dafür durften die Sadduzäer den einträglichen Tempelkult selbst verwalten. Um diese Teilautonomie zu wahren, hatten sie ein elementares Interesse daran, jüdischen Aufruhr gegen Rom rechtzeitig zu unterbinden und sich den Römern als Garanten des inneren Friedens nützlich zu erweisen. Pilatus wiederum stellte alle Juden ungeachtet ihrer gegensätzlichen Interessen mit der zynischen Kreuzesinschrift als potentielle Aufrührer unter Generalverdacht und führte ihnen ihre politische Ohnmacht vor.[22]
Der Protest der Ankläger verweist auf den vorherigen Prozess oder das Verhör Jesu vor dem Sanhedrin. Laut Mk 14,61-63 EU fällte dieser sein Todesurteil aufgrund Jesu Antwort auf die Messiasfrage des Hohenpriesters:
„Ich bin es. Und ihr werdet den Menschensohn zur Rechten der Macht sitzen und mit den Wolken des Himmels kommen sehen.“
Ein Messiasanspruch galt im Judentum nicht als todeswürdig, da der weitere Geschichtslauf ihn ohnehin beweisen oder entkräften würde. Jüdische Könige und Thronanwärter beanspruchten seit dem Untergang des jüdischen Königtums nie den Ehrentitel des von Gott Gesalbten (hebräisch maschiach, griechisch christos) für sich.[23] Auch Jesus tat dies nur an dieser einzigen Stelle der Evangelien, die stark von christlichen Verkündigungsabsichten geprägt ist.
Er hatte zuvor wie viele frühere Propheten, zuletzt Johannes der Täufer, nicht eigene Machtansprüche, sondern das Reich Gottes verkündet. Dieses wurde in der jüdischen Apokalyptik als jenseitiger Abbruch der Weltgeschichte, nicht als Ergebnis einer historischen Entwicklung verstanden. Dem entsprach Jesu überlieferte Reaktion auf den Jubel der Festpilger bei seinem Einzug in Jerusalem (Mk 11,9 f. EU; Mt 21,9 EU; vgl. Lk 19,38 EU):
„Gesegnet sei er, der kommt im Namen des Herrn! Gesegnet sei das Reich unseres Vaters David, das nun kommt.“
Dies drückte die damals verbreitete Erwartung eines politischen Befreiers im Gefolge König Davids aus, der die Römer aus Israel vertreiben würde. Diese Erwartung an Jesus teilten nach Lk 24,21 auch seine Jünger. Dagegen erinnerte Jesu Einritt auf einem jungen Esel an die Verheißung eines machtlosen Messias, der den Völkern vollständige Abrüstung aller Kriegsmittel gebieten werde (Sach 9,9 ff. EU; siehe auch Schwerter zu Pflugscharen). So weist diese Symbolhandlung die populäre davidische und zelotische Messiashoffnung zurück, bestätigt zugleich aber einen impliziten Messiasanspruch Jesu.
In Joh 12,13–16 fehlt der Bezug auf das Königtum Davids. Der Evangelist kann es weggelassen haben, um Jesus von damaligen messianisch-apokalyptischen Vorstellungen einer kommenden irdischen Königsherrschaft im Judentum abzurücken. Diese zeigten sich etwa in manchen Psalmen Salomos (17,1–4.21.42) und bei Lukas (Lk 19,38; Lk 23,2 f.; Lk 23,37 f.). Zugleich bezeichneten die Tempelpriester Jesu Anspruch laut Mk 15,32 gemäß weisheitlicher Königstradition (etwa in Weish 6,1–16; Jes 24,21–23; Mi 4,6–8; Zef 3,14 f.) als „König Israels“, der Gottes Königsherrschaft schon realisiert habe.[24]
Jesus provozierte seine Festnahme laut Mk 11,15 ff. durch seine Tempelreinigung, bei der er die Opferhändler aus dem Tempelvorhof für Nichtjuden vertrieben hatte. Dies mussten die sadduzäischen Tempelpriester – nicht die Römer – als Angriff auf den Tempelkult verstehen. Doch erst Jesu Selbstvorstellung als der kommende Menschensohn würde das überlieferte Todesurteil des Sanhedrin und Jesu Auslieferung an Pilatus erklären. Von allen in jüdischer Tradition vorgegebenen Hoheitstiteln kann Jesus den des apokalyptischen Menschensohns (Dan 7,14 EU) schon für sein irdisches Handeln beansprucht haben, da dieser etwa seine Vollmacht zum Sündenvergeben (Mk 2,10 EU) und sein Heilen auch am Sabbat (Mk 2,27 EU) begründet.[25] Dieser Anspruch ließ Jesu Tempelreinigung kurz vor dem Pessach als Gefährdung des Tempelkults erscheinen, so dass der Sanhedrin Jesus als politischen Aufwiegler an Pilatus überstellte.
Christliche Kunst
Wegen der Angaben „über seinem Kopf“ (Mt 27,37) oder „über ihm“ (Lk 23,38) nahmen Christen an, dass der Längsbalken des Kreuzes Jesu in Armhöhe über den Querbalken hinausragte, damit dort die Tafel befestigt werden konnte. Dies führte im Christentum dazu, das Kruzifix als lateinisches Kreuz anstelle des bei Römern üblichen Taukreuzes darzustellen.
Die Abkürzung INRI wurde seit dem 4. Jahrhundert Bestandteil von Kreuzigungsszenen in der christlichen Ikonographie. Sie begegnet dort in Form einer beschrifteten oder gravierten Holztafel oder als Text auf Pergament. In der ostkirchlichen Ikonographie lautet die Kreuzüberschrift meist „Der König der Welt“ in der jeweiligen Landessprache, einer theologischen Umdeutung.
Die Tradition einer mit der lateinischen Abkürzung INRI beschrifteten Kreuzestafel geht auf das Itinerar der geweihten Jungfrau Egeria von etwa 380 zurück. In diesem Reisebericht gab sie an, sie habe das Original des titulus mit dem lateinischen Satz in der Grabeskirche Jesu in Jerusalem mit eigenen Augen gesehen (Kapitel 37,1).[26]
In der Schriftart Renaissance-Kapitalis bzw. der frühhumanistischen Kapitalis wird der Buchstabe N oft seitenverkehrt als retrogrades N dargestellt.
Reliquie
Nach einer kirchlichen Überlieferung entdeckte Flavia Iulia Helena Augusta, die Mutter des römischen Kaisers Konstantin, im Jahr 325 in Jerusalem das Heilige Kreuz mitsamt drei Nägeln von der Kreuzigung und der Kreuzesinschrift. Sie soll den größten Teil des Fundes nach Rom in ihren Palast, genannt Sessorium, gebracht haben. Später schenkte sie diesen Palast der Kirche, die dessen Kapelle zur Basilika Santa Croce in Gerusalemme umwandelte. Im Jahr 1492 soll dort bei Umbauarbeiten die Kreuzestafel mit der Hälfte der Inschrift und dem Siegel von Papst Lucius II. wiederentdeckt worden sein. Seitdem wurde diese Reliquie als Originaltitel des Kreuzes Jesu gezeigt. Am 29. Juli 1496 erklärte Papst Alexander VI. sie mit der Bulle Admirabile Sacramentum für echt.
Die Tafel besteht aus Nussholz, ist 687 Gramm schwer, 25 Zentimeter lang, 14 Zentimeter breit und 2,6 Zentimeter dick. Sie ist mit drei Zeilen beschrieben. Die erste Zeile enthält sechs nur teilweise erhaltene hebräische Buchstaben. Besser erhalten sind die zweite und dritte Zeile mit der griechischen und lateinischen Inschrift, deren lesbare Wörter lauten:
- ΙϹ•ΝΑΖΑΡΕΝȢϹΒ (IS•NAZARENOUSB; das Ζ ist als einziger Buchstabe nicht gespiegelt, Ϲ ist das lunare Sigma, Ȣ ist die OY-Ligatur.)
- I•NAZARINVSRE (Es gab keine Unterscheidung zwischen U und V.)
Diese beiden Zeilen sind untypischerweise ebenso von rechts nach links geschrieben wie das Hebräische oder Aramäische, die beide eine linksläufige Schrift sind.
Am 25. April 1995 fotografierte und wog die Kirchenhistorikerin Maria-Luisa Rigato (Päpstliche Universität Gregoriana) in Rom die Tafel. Sie identifizierte die Buchstaben der ersten Zeile als aramäisch ישו נצר מ מ (Jeschu nazara m m) und deutete m m als Abkürzung für malkekem: „Jesus aus Nazareth, euer König“. Sie hält die Tafel für eine originalgetreue Kopie des ursprünglichen Kreuzestitels. Diesen habe ein jüdischer Lohnschreiber im Auftrag des Pilatus verfasst. Er sei somit das erste literarische Zeugnis über Jesus.[27]
1998 untersuchte Michael Hesemann die Holztafel und datierte den Schrifttyp der Inschrift in das 1. Jahrhundert. Er stellte seine Ergebnisse auch Papst Johannes Paul II. vor. Sieben Paläographen von drei israelischen Universitäten, Maria-Luisa Rigato und der Papyrologe Carsten Peter Thiede bestätigten seine Datierung.
Laut dem Althistoriker Werner Eck ist die Tafel ein späteres Produkt. Hesemann habe fundamentale epigrafische Methoden anzuwenden versäumt, daher sollten Wissenschaftler seine Untersuchung verwerfen.[28] Nach einer Radiokohlenstoffdatierung entstand die Tafel wahrscheinlich zwischen dem späten 10. und dem frühen 12. Jahrhundert.[29]
Siehe auch
Literatur
zum Neuen Testament
- Ingo Broer: Der Kreuzestitulus (Mk 15,26 parr.). In: Ulrich Busse, Michael Reichardt, Michael Theobald (Hrsg.): Erinnerung an Jesus: Kontinuität und Diskontinuität in der neutestamentlichen Überlieferung. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2011, ISBN 978-3-89971-883-6, S. 267–286
- Paul L. Maier: The Inscription on the Cross of Jesus of Nazareth. In: Hermes, Band 124, Heft 1, Franz Steiner, Stuttgart 1996, S. 58–75 (Download)
- Joseph Geiger: Titulus Crucis. In: Scripta Classica Israelica Band 15, Hebrew University of Jerusalem 1996, S. 202–207 (PDF-Download)
- Ekkehard Stegemann, Wolfgang Stegemann: König Israels, nicht König der Juden? Jesus als König im Johannesevangelium. In: Ekkehard Stegemann (Hrsg.): Messias-Vorstellungen bei Juden und Christen. Kohlhammer, Stuttgart 1993, ISBN 3-17-012202-9, S. 41–56.
zur Reliquie
- Michael Hesemann: Die Jesus-Tafel – Die Entdeckung der Kreuzesinschrift. Herder, Freiburg 1999, ISBN 3-451-27092-7.
- Carsten Peter Thiede, Jeffrey d’Ancona: The Quest for the True Cross. Palgrave Macmillan, London 2000, ISBN 1-4039-6212-X
- Johannes Röll: Bemerkungen zum Titulus Crucis in S. Croce in Gerusalemme in Rom. In: Thomas Weigel, Britta Kusch-Arnhold, Candida Syndikus (Hrsg.): Die Virtus in Kunst und Kunsttheorie der italienischen Renaissance. Festschrift für Joachim Poeschke zum 65. Geburtstag. Rhema, Münster 2014, ISBN 978-3-86887-022-0, S. 93–110
Weblinks
Einzelnachweise
- ↑ Joseph Geiger: Titulus Crucis. Jerusalem 1996, PDF S. 202
- ↑ Hans Heinrich Schaeder: Artikel Nazarenos, Nazoraios. In: Gerhard Kittel (Hrsg.): Theologisches Wörterbuch zum Neuen Testament 4. Band, Λ-N. (1942) Nachdruck: Kohlhammer, Stuttgart 1966, S. 879–884
- ↑ Christoph Niemand: Jesus und sein Weg zum Kreuz: Ein historisch-rekonstruktives und theologisches Modellbild. Kohlhammer, Stuttgart 2007, ISBN 978-3-17-019702-2, S. 433, Fn. 244
- ↑ a b David W. Chapman, Eckhard J. Schnabel: The Trial and Crucifixion of Jesus: Texts and Commentary. Hendrickson Publishers, Peabody (Massachusetts) 2019, ISBN 978-1-68307-266-9, S. 292
- ↑ Paul Winter: On the Trial of Jesus. De Gruyter, Berlin / New York 1974, ISBN 3-11-002283-4, S. 153
- ↑ a b Christoph Niemand: Jesus und sein Weg zum Kreuz, Stuttgart 2007, S. 434f. und Fn. 246; Ingo Broer: Der Kreuzestitulus (Mk 15,26 parr.), in: Ulrich Busse, Michael Reichardt, Michael Theobald (Hrsg.): Erinnerung an Jesus, Göttingen 2011, S. 276; Frank Schleritt: Der vorjohanneische Passionsbericht: Eine historisch-kritische und theologische Untersuchung zu Joh 2,13-22; 11,47-14,31 und 18,1-20,29. De Gruyter, Berlin 2012, ISBN 978-3-11-097861-2, S. 530 und Fn. 30
- ↑ a b Karlheinz Müller: Möglichkeit und Vollzug jüdischer Kapitalgerichtsbarkeit im Prozeß gegen Jesus von Nazaret. In: Karl Kertelge (Hrsg.): Der Prozess gegen Jesus: Historische Rückfrage und theologische Deutung. 2. Auflage, Herder, Freiburg im Breisgau 1989, ISBN 3-451-02112-9, S. 41–83, hier S. 81f.
- ↑ Peter Egger: «Crucifixus sub Pontio Pilato». Das «crimen» Jesu von Nazareth im Spannungsfeld römischer und jüdischer Verwaltungs- und Rechtsstrukturen. Aschendorff, Münster 1997, ISBN 3-402-04 780-2, S. 177, Fn. 153
- ↑ a b c Martin Karrer: Jesus Christus im Neuen Testament. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1998, ISBN 3-525-51380-1, S. 160f. und Fn. 255
- ↑ Christoph Niemand: Jesus und sein Weg zum Kreuz, Stuttgart 2007, S. 438–441
- ↑ Wolfgang Reinbold: Der Prozess Jesu. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2006, ISBN 3-525-61591-4, S. 84
- ↑ a b Peter Egger: „Crucifixus sub Pontio Pilato“, Münster 1997, S. 195f. und Fn. 245–248
- ↑ Paul Winter: On the Trial of Jesus. Berlin / New York 1974, S. 109
- ↑ a b Klaus Haacker: Wer war schuld am Tode Jesu? In: Klaus Haacker: Versöhnung mit Israel. Exegetische . Neukirchener Verlag, Neukirchen-Vluyn 2002, ISBN 3-7887-1836-6, S. 33–48, hier S. 43
- ↑ Thomas Söding: Gottesreich und Menschenmacht: Politische Ethik des Neuen Testaments. Herder, Freiburg 2024, ISBN 978-3-451-39870-4, S. 226; Klaus Wengst: Das Johannesevangelium. Kohlhammer, Stuttgart 2019, ISBN 978-3-17-033331-4, S. 251 f. und S. 524–528
- ↑ Joachim Gnilka: Das Evangelium nach Markus. Studienausgabe, Neukirchener Verlag, Neukirchen-Vluyn 2010, ISBN 978-3-7887-2392-7, S. 299f.
- ↑ Christoph Niemand: Jesus und sein Weg zum Kreuz, Stuttgart 2007, S. 431-433
- ↑ Christoph Niemand: Jesus und sein Weg zum Kreuz, Stuttgart 2007, S. 374; Max Küchler, Rainer Metzner: Die Prominenten im Neuen Testament: Ein prosopographischer Kommentar. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2008, ISBN 978-3-525-53967-5, S. 116, Fn. 413
- ↑ Klaus Haacker: Wer war schuld am Tode Jesu? In: Klaus Haacker: Versöhnung mit Israel, Neukirchen-Vluyn 2002, S. 45f. und Fn. 49
- ↑ Wolfgang Stegemann: Jesus und seine Zeit. Kohlhammer, Stuttgart 2010, ISBN 978-3-17-012339-7, S. 370–375
- ↑ Martin Hengel: Reich Christi, Reich Gottes und Weltreich im 4. Evangelium. In: Martin Hengel, Anna Maria Schwemer (Hrsg.): Königsherrschaft Gottes und himmlischer Kult im Judentum, Urchristentum und in der hellenistischen Welt. Mohr Siebeck, Tübingen 1991, ISBN 978-3-16-145667-1, S. 163–184, hier S. 167f.
- ↑ Christoph Niemand: Jesus und sein Weg zum Kreuz, Stuttgart 2007, S. 148 und 431-433
- ↑ Martin Karrer: Jesus Christus im Neuen Testament, Göttingen 1998, S. 135–138
- ↑ Eckart und Wolfgang Stegemann: König Israels, nicht König der Juden? Stuttgart 1993, S. 44 f., 53, 412.
- ↑ Bertold Klappert: Die Auferweckung des Gekreuzigten. Der Ansatz der Christologie Karl Barths im Zusammenhang der Christologie der Gegenwart. Neukirchener Verlag, Neukirchen-Vluyn 1971, ISBN 3-7887-0289-3, S. 114–118 (§ 7: Die Subjektsfrage im Kontext des Menschensohnproblems)
- ↑ Georg Röwekamp (Hrsg.): Egeria: Itinerarium, Reisebericht. Herder, Freiburg 1995, ISBN 3-451-22143-8, S. 272 f.
- ↑ Maria-Luisa Rigato: Il titolo della croce di Gesù. Confronto tra i Vangeli e la Tavoletta-reliquia della Basilica Eleniana a Roma. 2. revidierte Auflage, Pontificia Università Gregoriana, Rom 2005, ISBN 88-7652-969-1.
- ↑ Werner Eck: Judäa - Syria - Palästina: Die Auseinandersetzung einer Provinz mit römischer Politik und Kultur. Mohr Siebeck, Tübingen 2014, ISBN 978-3-16-153026-5, S. 128, Fn. 17
- ↑ Francesco Bella, Carlo Azzi: 14C Dating of the ‘Titulus Crucis’. In: RADIOCARBON, Band 44, Nr. 3, University of Arizona, 2002, S. 685–689 (PDF, 75 kB)