John Richardson (Kunsthistoriker)

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Sir John Richardson, KBE (* 6. Februar 1924 in London; † 12. März 2019 in New York City[1]) war ein britischer Kunsthistoriker, Kunstkritiker, Kurator und Picasso-Biograf.

John Patrick Richardson wurde als ältester Sohn von Sir Wodehouse Richardson, D.S.O., K.C.B., Quarter-Master General im Burenkrieg und Gründer des British Empire’s Army & Navy Store, geboren.[2] Zunächst wollte er Künstler werden;[3] aus dieser Zeit stammt seine Bekanntschaft mit Francis Bacon[4] und Lucian Freud[5], die ihn beide später porträtierten.[6] Er schrieb sich mit knapp 17 Jahren an der Slade School of Fine Art ein, wurde einberufen, erkrankte jedoch bald und verbrachte den Rest des Krieges mit Mutter und Geschwistern in London.[7] Tagsüber arbeitete er als Industriedesigner, gab den Gedanken an ein Künstlerdasein jedoch bald auf und arbeitete schließlich als Rezensent für The Observer.[8] 1950 lernte er den englischen Kunsthistoriker und Sammler Douglas Cooper kennen, mit dem er die folgenden zehn Jahre zusammenlebte.

Liaison mit Douglas Cooper

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1952 verlegte er seinen Wohnsitz in die Provence, wo Cooper das Château de Castille in der Nähe von Avignon erworben und seine Sammlung dorthin transferiert hatte, wodurch das heruntergekommene Schloss den Charakter eines Privatmuseums für den frühen Kubismus erhielt.[9] Cooper war schon vor dem Zweiten Weltkrieg in der Pariser Kunstszene zu Hause und hatte sich auch im Kunsthandel betätigt;[10] nicht zuletzt durch den Aufbau seiner eigenen Sammlung lernte er viele Künstler persönlich kennen und stellte seinen Freund diesen vor. So wurde auch Richardson ein enger Freund von Pablo Picasso,[11] Fernand Léger und Nicolas de Staël. Schon in dieser Zeit interessierte er sich für Picassos Porträts und dachte daran, darüber zu publizieren; daraus entstand schließlich mehr als 20 Jahre später seine vierteilige Picasso-Biografie A Life of Picasso, deren letzter Band noch nicht erschienen ist.[11][12]

1960 trennte sich Richardson von Cooper und siedelte nach New York um. 1962 organisierte er eine Picasso-Retrospektive in neun Galerien,[13] 1964 eine Braque-Retrospektive. Anschließend wurde er für neun Jahre Direktor von Christie’s für die USA.[14] 1973 wechselte er als Vizepräsident für Gemälde des 19. und 20. Jahrhunderts zur Galerie M. Knoedler & Co., Inc., und wurde später Manager eines auf Kunstwerke spezialisierten Funds namens Artemis[12] (was Cooper zu hintertreiben suchte).[15] 1980 zog er sich aus dem Geschäftsleben zurück, um sich auf das Schreiben vornehmlich seiner Picasso-Biografie zu konzentrieren. Daneben verfasste er Beiträge für die Zeitschriften The New York Review of Books[16], The New Yorker[17] und Vanity Fair[18]. 1993 wurde Richardson in die British Academy gewählt, 1995 hatte er die Position des Slade Professor of Fine Art in Oxford inne.[14] 2014 lebte er in einer 460 m² großen Wohnung in Manhattan, im siebten Stock des Hauses Broadway-Ecke 15th Street.[19]

Picasso-Biografie

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Die Picasso-Biografie sollte zunächst in einem Band erscheinen, dann in zweien;[12] schließlich entschied er sich, vier Bände daraus zu machen. Der erste erschien 1991 und wurde mit dem Whitbread Award ausgezeichnet; er umfasst 25 Jahre von Picassos Geburt bis 1906. Der zweite Band erschien im November 1996 und beschreibt die zehn Jahre von 1907 bis 1916, die Geburt des Kubismus, der dritte erschien 2007 und beschreibt die nächsten 16 Jahre bis 1932, als Picasso gerade 50 geworden war.[20]

Derzeit arbeitet er am vierten Band, der den Rest des Lebens bis 1973 und damit 41 Jahre umfassen soll.[12][21] In dieser Arbeit wird er durch Marilyn McCully unterstützt; wegen seines hohen Alters und seiner zunehmenden Sehschwierigkeiten suchte er für den letzten Band ein oder zwei Mitstreiter[12] und hat in Gijs van Hensbergen[22] einen Autor gefunden, der sich selbst durch eine Spezialstudie über Picassos legendäres Bild Guernica einen Namen gemacht hat.[23]

Im Vergleich zur Picasso-Biografie von Roland Penrose,[24] den Richardson als loyalen Freund bezeichnet und die zu Picassos Lebzeiten erschien, weshalb Penrose ihn auch ohne Schatten darstelle, wollte Richardson offen die Seiten seines Lebens und seiner Persönlichkeit besprechen, über die Picasso stets Stillschweigen bewahrt hatte. Insbesondere ging es ihm darum, die paradoxe Seite der Persönlichkeit Picassos und seines Schaffens herauszuarbeiten. Dabei berief er sich auf die wiederholt geäußerte Behauptung Picassos, sein Werk sei wie ein Tagebuch.[13]

Cooper-Biografie

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15 Jahre nach Douglas Coopers Tod veröffentlichte er 1999 dessen Biografie (The Sorcerer’s Apprentice: Picasso, Provence, and Douglas Cooper),[25] allgemein gelobt und von Andrew Anthony als „wunderbar respektlos“ bezeichnet[21], die nicht zu Unrecht im Untertitel Picasso nennt und sich in weiten Strecken auch auf diesen bezieht, sowie 2001 eine Sammlung von früher veröffentlichten, weniger akademischen, teils peinlich enthüllenden Essays (Sacred Monsters, Sacred Masters), die mit gemischten Gefühlen aufgenommen wurden.[26]

Diese Arbeiten dienten in erster Linie dazu, die Picasso-Biografie zu finanzieren, die vor allem wegen der Kosten für die Bildrechte sämtliche Einnahmen der sich gut verkaufenden ersten beiden Bände mehr als auffraßen.[13] Richardson beschwerte sich insbesondere über die „halsabschneiderischen“ Forderungen der Erben Picassos und die „besonders gierigen“ Ansprüche der russischen Museen.[27] Er sah sich schließlich gezwungen, einen Großteil der persönlichen Geschenke Picassos zu verkaufen und Freunde anzusprechen, die eine Stiftung zur Finanzierung der weiteren Arbeit (John Richardson Fund for Picasso Research) ins Leben riefen.[13]

2009 kuratierte er eine Ausstellung in der New Yorker Gagosian Gallery aus dem Spätwerk Picassos mit dem Titel Mosqueteros; die Frage nach der Korrumpierbarkeit durch den Wechsel zwischen Kommerz und akademischer Arbeit verneinte er schlicht.[28] Für die Londoner Gagosian Gallery kuratierte Richardson im Jahr darauf Picasso – The Mediterranean Years (1945–1962), 4. Juni – 28. August 2010.[29]

  • Pablo Picasso: Aquarelle und Gouachen. Deutsche Buch-Gemeinschaft, Berlin 1956.
  • Edouard Manet: Gemälde und Zeichnungen. Phaidon Verlag, Köln 1959.
  • Juan Gris. Museum am Ostwall, Dortmund 1965.
  • mit Dorothy M. Kosinski: Douglas Cooper und die Meister des Kubismus. Kunstmuseum Basel, Basel 1987, ISBN 978-3-7204-0052-7.
  • mit Marilyn McCully: A Life of Picasso: The Prodigy, 1881–1906 (Vol. 1). Random House, New York 1991, ISBN 978-0-375-71149-7.
  • mit Marilyn McCully: Picasso, Leben und Werk, in 4 Bdn., Hld, Bd. 1, 1881–1906. Kindler, München 1991, ISBN 3-463-40159-2.
  • mit Marilyn McCully: A Life of Picasso: The Cubist Rebel, 1907–1916 (Vol. 1). Random House, New York 1996, ISBN 978-0-375-71150-3.
  • mit Marilyn McCully: Picasso, Leben und Werk, in 4 Bdn., Hld, Bd. 2, 1907–1917. Kindler, München 1997, ISBN 3-463-40143-6.
  • The Sorcerer’s Apprentice: Picasso, Provence, and Douglas Cooper. 1999, ISBN 0-226-71245-1.
  • Sacred Monsters, Sacred Masters: Beaton, Capote, Dalí, Picasso, Freud, Warhol, and More. Random House, New York 2001, ISBN 978-0-679-42490-1.
  • John Richardson, Marilyn McCully: A Life of Picasso: The Triumphant Years, 1917–1932 (Vol. 3). Alfred A. Knopf, New York 2007, ISBN 978-0-307-26665-1.
  • mit Brenda Richardson: Warhol from the Sonnabend Collection. Rizzoli, 2009, ISBN 0-8478-3277-5.
  • mit Memory Holloway, Dakin Hart, Jeff Koons, Helene Parmelin: Picasso Mosqueteros: The Late Works 1962–1972. 2009, ISBN 978-0-8478-3299-6.
  • Literatur von und über John Richardson im Katalog der Deutschen Nationalbibliothek
  • Alfred Welti: Picassos Werk ist ein verschlüsseltes Tagebuch mit einer Menge Lügen. In: art – Das Kunstmagazin. 04/1998, S. 32–35, archiviert vom Original am 2. Februar 2014; (Interview mit John Richardson).

Einzelnachweise

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  1. Brook Mason: Picasso biographer John Richardson dies, aged 95. In: The Art Newspaper. 12. März 2019, abgerufen am 13. März 2019 (englisch).
  2. The Sorcerer’s Apprentice. ISBN 0-226-71245-1, S. 4.
  3. The Sorcerer’s Apprentice. S. 9
  4. The Sorcerer’s Apprentice. S. 11
    Charlotte Higgins: Demons and beefcake – the other side of Francis Bacon. In: The Guardian. 22. November 2009, abgerufen am 13. August 2010 (englisch).
    Charlotte Higgins: Sado-masochism and stolen shoe polish: Bacon’s legacy revisited: Art historian John Richardson’s revelations on the troubled artist he knew as a young man. In: The Guardian. 22. November 2009, abgerufen am 13. August 2010 (englisch).
  5. The Sorcerer’s Apprentice. S. 14.
  6. Charlie Rose: A rebroadcast of a conversation with John Richardson. (Video) In: Current Affairs. 26. Juli 2000, archiviert vom Original am 13. April 2009; abgerufen am 13. März 2019 (englisch).
  7. The Sorcerer’s Apprentice. S. 9/10
  8. The Sorcerer’s Apprentice. S. 15.
  9. The Sorcerer’s Apprentice. S. 87ff.
  10. John Richardson: The Sorcerer's Apprentice: Picasso, Provence, and Douglas Cooper. S. 23–24
  11. a b Charlotte Higgins: Picasso nearly risked his reputation for Franco exhibition: Had he accepted it would have been major coup for Falangists and destroyed Picasso’s status as hero of left, says biographer. In: The Guardian. 28. Mai 2010, abgerufen am 13. August 2010 (englisch).
  12. a b c d e David Grosz: The AI Interview: John Richardson. In: Blouin Artinfo. 29. Mai 2008, S. 1, abgerufen am 13. August 2010 (englisch).
  13. a b c d David Grosz: The AI Interview: John Richardson. In: Blouin Artinfo. 29. Mai 2008, S. 2, abgerufen am 13. August 2010 (englisch).
  14. a b John Richardson. In: randomhouse.ca. Archiviert vom Original am 21. August 2012; abgerufen am 13. März 2019 (englisch).
  15. The Sorcerer’s Apprentice. S. 297.
  16. John Richardson. In: The New York Review of Books. Abgerufen am 13. August 2010 (englisch).
  17. Search Results: John Richardson. In: The New Yorker. Abgerufen am 13. August 2010 (englisch).
  18. John Richardson. In: Vanity Fair. Abgerufen am 13. August 2010 (englisch).
  19. Downtown Abbey. In: Welt am Sonntag. 18. Mai 2014, Seite 58.
  20. Michiko Kakutani: More on the Career of the Genius Who Boldly Compared Himself to God. In: The New York Times. 6. November 2007, abgerufen am 13. März 2019 (englisch).
    Patricia Zohn: Culture Zohn: John Richardson’s Definitive Picasso Biography Shows How to Get it Done. In: The Huffington Post. 9. November 2007, abgerufen am 19. August 2010 (englisch).
  21. a b Andrew Anthony: Master chronicler of a flawed genius. In: The Observer. 7. Oktober 2007, abgerufen am 13. August 2010 (englisch).
  22. Pablo Picasso – New Discoveries with Gijs van Hensbergen. In: Dillington House. 2009, archiviert vom Original am 21. Januar 2013; abgerufen am 13. März 2019 (englisch).
  23. Gijs van Hensbergen: Guernica: Biographie eines Bildes. Siedler Verlag, München, 2007, ISBN 978-3-88680-866-3.
  24. Roland Penrose: Portrait of Picasso. Museum of Modern Art, New York 1971, ISBN 978-0-87070-536-6
  25. Michael Peppiatt: Trompe l’Oeil. John Richardson’s memoir revisits his years with Douglas Cooper in the south of France. In: The New York Times. 12. Dezember 1999, abgerufen am 24. August 2010 (englisch).
  26. Peter Conrad: Privates on parade. In: The Observer. 16. Dezember 2001, abgerufen am 24. August 2010 (englisch): „John Richardson takes a sadistic pleasure in divulging the intimate lives of the modernists in Sacred Monsters, Sacred Masters“
    Alfred Hickling: Rogue’s gallery. In: The Guardian. 1. Dezember 2001, abgerufen am 24. August 2010 (englisch): „Alfred Hickling enjoys a grand tour of modern art’s masters and madmen in John Richardson’s eye-opening Sacred Monsters, Sacred Masters“
  27. Andrew Anthony: Master chronicler of a flawed genius. In: The Observer. 7. Oktober 2007, abgerufen am 13. August 2010 (englisch): „Picasso’s family demanded ‘extortionate’ permission costs, Richardson complained, while ‘Russian museums were particularly greedy’“
  28. ‘Picasso Mosqueteros’; Adria and Andrés. In: CharlieRose.com. 30. März 2009, abgerufen am 29. August 2019.
    Picasso: The Mediterranean Years (1945–1962) – June 4 – August 28, 2010. In: Gagosian Gallery. 19. Februar 2009, archiviert vom Original am 2. Juni 2010; abgerufen am 13. August 2010 (englisch).
    Carol Vogel: A Personal Lesson in Late-Period Picasso. In: The New York Times. 25. März 2009, abgerufen am 13. August 2010 (englisch).
  29. Picasso: The Mediterranean Years (1945–1962) – June 4 – August 28, 2010. In: Gagosian Gallery. 19. Februar 2009, archiviert vom Original am 2. Juni 2010; abgerufen am 13. August 2010 (englisch).
    Jonathan Jones: Picasso shows a softer face in London. In: The Guardian. Abgerufen am 13. August 2010 (englisch): „The artist’s later statues and ceramics, on show at the Gagosian gallery’s Mediterranean Years, reveal a tender family man“
    A reminder of what all the fuss is about. In: The Economist. 11. August 2010, abgerufen am 19. August 2010 (englisch).