Konzil von Tours (813)

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Das Konzil von Tours (lateinisch Concilium Turonese) wurde im Mai 813 von Karl dem Großen in der Stadt Tours zur Wiederherstellung der kirchlichen Disziplin einberufen.[1]

Insgesamt wurden 51 Kanones beschlossen:[1]

«Visum est unanimitati nostrae, ut quilibet episcopus habeat omelias continentes necessarias ammonitiones, quibus subiecti erudiantur, id est de fide catholica, prout capere possint, de perpetua retributione bonorum et aeterna damnatione malorum, de resurrectione quoque futura et ultimo iudicio et quibus operibus possit promereri beata vita quibusve excludi. Et ut easdem omelias quisque aperte transferre studeat in rusticam Romanam linguam aut Thiotiscam, quo facilius cuncti possint intellegere quae dicuntur.»[2]

Das Hauptverdienst des Konzils von Tours war, dass in den Kapitularien erlaubt wurde, dass Bischöfe in der Kirche zu öffentlichen Zwecken die vor Ort und dem Volke, die in der Pastoralregel lateinisch grex[3] ‚Herde‘, verständliche Sprache für Predigten zu verwenden und nicht mehr nur in Latein. Damit wurden die durch Karl dem Großen angestoßene Forderung, dass der christliche Glaube von seinen Untertanen auch verstanden werden soll und daher in der Kirche «secundum proprietatem linguae praedicare, ut omnes intellegere posent» (deutsch: „in der jeweiligen Volkssprache zu predigen [ist], damit es alle verstehen können“). Diese Forderung formulierte Karl der Große bereits mit der Admonitio generalis von 789 und der Synode von Frankfurt 794. Mit dem 17. Kanon wurde diese Forderung nun gefestigt und die (gallo-)romanische «rustica Romana lingua»[4] ([meliorativ] ländliche (= einfach, schlicht) / [pejorativ] bäuerliche (= tölpisch, plump) romanische Sprache)[5] bzw. „vulgaris lingua“[6] (Vernakularsprache) und die germanische «lingua Thiotisca», «lingua Teotisca» bzw. „lingua Theodisca“ (volksstümliche Sprache) aus der Taufe gehoben – den Volkssprachen eigene Namen zugewiesen – und der Weg frei gemacht für die Entstehung (gallo-)romanischer Schriftsprachen, die eine Zeit der lateinisch-romanischen (volkssprachlichen) Diglossie-Situation im romanischen Raum des Mittelalters bzw. lateinisch-romanisch-germanische Dreisprachigkeit (siehe: Nithard in Historiae über Straßburger Eide von 842), die mindestens die Amtszeiten Ludwig des Frommen und Karls des Kahlen umfasste, wahrscheinlich aber noch bis ins 11. Jahrhundert andauerte, prägen sollte.[7][8][9][10] Er ist die Anerkennung der beiden großen geokulturellen Komponenten, aus denen das Frankenreich des Karls des Großen bestand: die Welt, die römisch war, die Romanwelt der lateinischen Tradition bis zum Rhein; und die germanische Welt ab dem Rheinraum. Im Rat von Tours gab es Bischöfe beider „Welten“.[11]

Mit dieser amtskirchlichen Unterscheidung zwischen den verschiedenen lokalen Weiterentwicklungen des gesprochenen Vulgärlateins einerseits und dem geschriebenen Latein andererseits wird ein diglossisches Bewusstsein offenkundig, das heißt die allgemeine Anerkennung einer Sprachgemeinschaft, die zwei Sprachen für jeweils unterschiedliche Zwecke begreift. Diese Veränderung resultiert aus einer Neukonstruktion des lateinischen Varietätenraumes: Dort wo vorher die Wahrnehmung eines lediglich stilistischen Unterschiedes zwischen einem sermo rusticus und einer sermo scholasticus war, die sprachlichen Unterscheide also in ein Diasystem integriert würden, wird nunmehr eine rustica romana lingua anerkannt und „ausgegliedert“, denn die Anerkennung der Volkssprachen, wie sie in metasprachlichen Zeugnissen expliziert wird, geschieht also niemals mit Bezug auf die Distanzsprache Latein, das heißt innerhalb der Diglossiesituation, sondern mit Bezug auf eine parallele Volkssprache / Nähesprache, die als different kategorisiert wird. Nachfolgend wurden die lokalen romanischen Sprechweisen auch nicht mehr pauschal als Spielarten des klassischen Lateins begriffen und dementsprechend benannt, sondern meist als „romanisch“ (= „nicht-Latein“) oder „romanz“, womit aber auch eine romanische einzelsprachliche Varietät denotiert werden kann.[12] Damit wurde das Konzil von Tours in gewisser Weise zur Geburtsstunde der romanischen Sprachen und ein Vorbereiter für die Entstehung der deutschen Sprache.[7][13] Im Frankenreich, mit seinen unterschiedlichen Volksgruppen und Sprachen war Mehrsprachigkeit auch in kleinen Regionen keine Seltenheit und Soldaten wie ihre Heerführer zwei- bis mehrsprachig.[9] Das Lateinische außerhalb der Klöster und kirchlichen Bildungsstätten aber nicht weit verbreitet;[14] es blieb als Schrift- und Zeremonialsprache der Messe erhalten und war weiterhin eine wichtige Sprache des Mittelalter (Kirchenlatein).

A 
Das Adjektiv „theodiscus“ bezieht sich in der stehenden Verbindung „lingua theodisca“ (amtliche Bezeichnung der altfränkischen Volkssprache im Reiche Karls des Großen) oder als Adverb „theodisce“ auf diejenigen, die weder lateinisch noch einen frühromanischen, vulgärlateinischen Dialekt sprachen. Es bezeichnet also die Zugehörigkeit zur germanisch-fränkischen Sprachgemeinschaft. Das Wort wurde zunächst (vom 8. bis zum 10. Jahrhundert) nur in mittellateinischer Sprache als Kennzeichnung der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Sprachgruppe und den damit verbundenen Rechten verwendet. Der älteste lateinische Beleg stammt aus dem Jahr 786 n. Chr., entsprechende deutsche Belege tauchen erst 1000 n. Chr. auf. Im sogenannten deutschsprachigen Annolied auf der Wende zum 12. Jahrhundert tauchen erstmals von den Begriffen „theodiscus“ und „thiutisk“ abgeleitet Wendungen wie „diutschi man“, „diutischi liuti“ und „diutsche lant“. Somit ist das Annolied gewissermaßen die Geburtsurkunde der deutschen Sprache, „das erste sichere Zeugnis, daß deutschsprechende Menschen ihre Sprache nicht mehr [nur!] als fränkisch, bairisch, alemannisch oder sächsisch empfanden.“[15]

Einzelnachweise

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  1. a b Tours, Councils of (Concilium Turonese) from the McClintock and Strong Biblical Cyclopedia. In: McClintock and Strong Biblical Cyclopedia. Abgerufen am 22. Januar 2021 (englisch).
  2. Reichskonzil von Tours. Universität Leipzig, abgerufen am 23. Januar 2021.
  3. Silke Floryszczak: Die Regula Pastoralis Gregors des Grossen: Studien zu Text, kirchenpolitischer Bedeutung und Rezeption in der Karolingerzeit. Mohr Siebeck, 2005, ISBN 3-16-148590-4 (google.de).
  4. Die Bezeichnung ist die Fortführung der frühmittelalterlichen Kategorisierungspraxis der Volkssprache als „bäuerliches, derbes Latein“. (Quelle: B. Frank-Job: Mehrsprachigkeit im Übergang vom Latein zum Romanischen.)
  5. Karl Ernst Georges: rusticus. In: Ausführliches lateinisch-deutsches Handwörterbuch. 8., verbesserte und vermehrte Auflage. Band 2. Hahnsche Buchhandlung, Hannover 1918, Sp. 2433–2434 (Digitalisat. zeno.org).
  6. Mehrsprachigkeit im Übergang vom Latein zum Romanischen. In: docplayer.org. Abgerufen am 22. Januar 2021.
  7. a b Camille Prieux: CETHIS – Journée d’étude – Tours 813-2013. Le concile de Tours et la diversité des langues de l’Europe médiévale. Abgerufen am 18. Januar 2021 (französisch).
  8. Tilman Mayer: Prinzip Nation: Dimensionen der nationalen Frage, dargestellt am Beispiel Deutschlands. Springer-Verlag, 2013, ISBN 978-3-322-95587-6 (google.de).
  9. a b B. Frank-Job: Mehrsprachigkeit im Übergang vom Latein zum Romanischen. In: DocPlayer.org. Abgerufen am 22. Januar 2021.
  10. Owen M. Phelan: The Formation of Christian Europe: The Carolingians, Baptism, and the Imperium Christianum. OUP Oxford, 2014, ISBN 978-0-19-102790-1 (google.de).
  11. Paolo Mattei: L’inculturazione nel primo millennio. Intervista con Bruno Luiselli, professore ordinario di letteratura latina. In: 30 Giorni. Abgerufen am 22. Januar 2021 (italienisch).
  12. «langue vernaculaire opposée au latin qui était la langue écrite et savante, et au germanique des Franc (francique) appelé thiois en moyen français.» (Rey 1992, s.v. roman; cf. auch Heim 1984)
  13. Silke Floryszczak: Die Regula Pastoralis Gregors des Grossen: Studien zu Text, kirchenpolitischer Bedeutung und Rezeption in der Karolingerzeit. Mohr Siebeck, 2005, ISBN 3-16-148590-4 (google.de).
  14. Wolfgang Haubrichs, Heinrich Beck: Theodisca: Beiträge zur althochdeutschen und altniederdeutschen Sprache und Literatur in der Kultur des frühen Mittelalters: eine internationale Fachtagung in Schönmühl bei Penzberg vom 13. bis zum 16. März 1997. Walter de Gruyter, 2000, ISBN 3-11-016316-0 (google.de).
  15. Alle Informationen und Zitate aus: Dieter Kartschoke: Geschichte der deutschen Literatur im frühen Mittelalter. Band 2: Alphabetisierung. Deutsche Literatur im Mittelalter. S. 69 (vgl. MA-DK, S. 31).