Fritz Sack

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Fritz Sack (* 26. Februar 1931 in Neumark, Pommern[1]) ist ein deutscher Soziologe und Kriminologe. Er führte den Etikettierungsansatz in die deutsche kriminologische und sozialwissenschaftliche Diskussion ein.

Werdegang und Wirken

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Sack absolvierte von 1951 bis 1954 zunächst eine Ausbildung zum Finanzbeamten und studierte anschließend Soziologie und Volkswirtschaftslehre an den Universitäten in Kiel und Köln. 1958 legte er in Köln das Examen zum Diplom-Kaufmann ab, 1963 wurde er dort bei René König im Fach Soziologie promoviert. Danach war er, bis zu seiner Habilitation im Jahr 1970, Wissenschaftlicher Assistent Königs. Während seiner Assistentenzeit und auch bereits im Studium gehörte die angelsächsischen Kriminalitätstheorien zu seinen Forschungsschwerpunkten. Seit 1964 leitete er ein Forschungsprojekt zur Kinder- und Jugendkriminalität in Köln. 1964/65 wurde er von König mit der Durchführung einer Übung zu Problemen des Abweichenden Verhaltens beauftragt.[2]

Von 1970 bis 1974 war er Professor für Soziologie an der Universität Regensburg. Von 1974 bis 1984 lehrte er als Professor an der juristischen Fakultät der Universität Hannover auf dem Lehrstuhl für Deviantes Verhalten und Soziale Kontrolle.[3] 1984 nahm er den Ruf auf einen Lehrstuhl für Kriminologie an der Universität Hamburg an. Er baute dort das „Aufbau- und Kontaktstudium Kriminologie“ auf, das zunächst am Fachbereich Rechtswissenschaften[4] institutionell verankert war und sodann ab dem Jahr 2000 am neugegründeten Instituts für Kriminologische Sozialforschung dem Fachbereich Sozialwissenschaften zugeordnet wurde.[5] Von 1996 bis 2012 leitete er das hamburgische Institut für Sicherheits- und Präventionsforschung (ISIP), dessen Vorstand er weiterhin angehört. 1998 wurde Sack in die neu gegründete Hamburger Polizeikommission berufen. Die Kommission entstand auf Empfehlung des Parlamentarischen Untersuchungsausschusses Hamburger Polizei der Hamburgischen Bürgerschaft.

Sack gilt als führender deutscher Vertreter des Etikettierungsansatzes, der in den 1960er Jahren in den USA entwickelt worden war und von ihm 1968 mit einem Buchbeirag in die deutschsprachige Diskussion eingebracht wurde.[6] Sack war während eines einjährigen Gastaufenthalts in den Vereinigten Staaten von Amerika 1965/66 wissenschaftlicher Mitarbeiter (research associate) von Walter C. Reckless an der Ohio State University gewesen, hatte sich aber nach wenigen Monaten enttäuscht von dessen empirischer Kriminologie abgewandt und lernte durch Aaron Victor Cicourel und dann an der University of California, Berkeley durch Erving Goffman und andere die Ethnomethodologie kennen, auf der der kriminologische Etikettierungsansatz beruht.[7] Seine Lektüre des Cicourel-Buches Method and measurement in sociology[8] beschreibt Sack als sein „kriminologisches und soziologisches Konversionserlebnis“.[9]

Der von Kalifornien ausgehende Paradigmenwechsel veränderte laut Sack das Gesicht der Kriminologie fast schlagartig und verschob den „Täter“ als „interaktionistisches Produkt“ in den Hintergrund des kriminellen Geschehens.[10]

Sack meint, dass Kriminalität vollständig durch Zuschreibungen erklärt werden kann.[11] Kriminalität sei eine „normale“ Erscheinung, die in allen Gesellschaftsschichten vorkomme. Für ihn war der epistemologische Gehalt des Etikettierungsansatzes von Anfang an – so Sack – „eine Position ohne ätiologischen und ‚Warum-Rest‘“.[12] Dadurch unterscheidet sich sein radikaler Labeling-Ansatz von denen bei Howard S. Becker und Edwin M. Lemert. Beide unterstellen, dass es neben Zuschreibungsprozessen eine objektive Tatsachenebene gibt. Die Etikettierung bestimmter Verhaltensweisen verläuft für Sack stark selektiv. Die Unterschichten werden kriminalisiert, während die Herrschenden dieses Label nicht erhalten. Das Gesetz werde damit zum Instrument der Unterdrückung, es herrsche Klassenjustiz.

Sacks Theorie hatte seit den 1960er-Jahren erheblichen Einfluss auf die Entwicklung der Kriminologie in der Bundesrepublik Deutschland. Die Radikalität seines Ansatzes erzeugte jedoch erheblichen Widerstand. So wurde Sack vorgeworfen, er verkehre die Rollen und mache die Täter zu Zuschreibungs-Opfern, die selber überhaupt keine Rolle mehr als aktiv Handelnde hätten. Trutz von Trotha prägte dafür den kritisch-ironischen Begriff „Reaktionsdeppen“.[13] Teilweise wird Sack auch der Vorwurf gemacht, durch die polemische Art, mit der er den Etikettierungsansatz eingeführt habe, für eine der unfruchtbarsten Epoche der deutschsprachigen Kriminologie gesorgt zu haben. Er habe dadurch einen Schulenstreit zwischen "alter" und "neuer" Kriminologie eingeleitet. Sacks polemische Ablehnung der Kriminologie (Hervorhebung im zitierten Werk) habe eine Rezeption der Kriminalsoziologie seitens der traditionellen tätereorientierten deutschsprachigen Kriminologie gerade verhindert.[14]

Sack ist seit 1960 verheiratet. Er hat drei Kinder. Der Journalist Adriano Sack ist sein Sohn,[15] die Mediengestalterin Janine Sack seine Tochter.

Mitgliedschaften und Ehrungen

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Sack ist Mitglied des Kuratoriums der Arbeitsgemeinschaft Humane Sexualität und des Beirats der Humanistischen Union.[16] Die Gesellschaft für interdisziplinäre wissenschaftliche Kriminologie (GiwK) vergibt seit 2001 für hervorragende kriminologische Veröffentlichungen den Fritz-Sack-Preis.[17] Am 1. Juni 2006 wurde Sack von der Universität Kreta die Ehrendoktorwürde verliehen.[18]

Schriften (Auswahl)

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  • hrsg. mit René König: Kriminalsoziologie. Akademische Verlagsges., Frankfurt a. M. 1968 (unveränderte Auflagen 1974 und 1979)
  • hrsg. mit Klaus Lüderssen: Seminar: Abweichendes Verhalten I. Die selektiven Normen der Gesellschaft. Suhrkamp, Frankfurt/M. 1975.
  • hrsg. mit Klaus Lüderssen: Seminar: Abweichendes Verhalten II. Die gesellschaftliche Reaktion auf Kriminalität, Bd. 1: Strafgesetzgebung und Strafrechtsdogmatik. Suhrkamp, Frankfurt/M. 1975.
  • hrsg. mit Klaus Lüderssen: Seminar: Abweichendes Verhalten III. Die gesellschaftliche Reaktion auf Kriminalität, Bd. 2: Strafprozess und Strafvollzug. Suhrkamp, Frankfurt/M. 1977.
  • hrsg. mit Klaus Lüderssen: Seminar: Abweichendes Verhalten IV. Kriminalpolitik und Strafrecht. Suhrkamp, Frankfurt/M. 1980.
  • hrsg. mit Klaus Lüderssen: Vom Nutzen und Nachteil der Sozialwissenschaften für das Strafrecht, Bände I und II., Suhrkamp, Frankfurt/M. 1980.
  • als Hrsg.: Privatisierung staatlicher Kontrolle: Befunde, Konzepte, Tendenzen. Nomos, Baden-Baden 1995, ISBN 3-7890-4089-4.
  • Kriminologie als Gesellschaftswissenschaft. Ausgewählte Texte, herausgegeben von Bernd Dollinger u. a., Beltz Juventa, Weinheim/Basel 2014, ISBN 978-3-7799-2946-8.

Einzelnachweise

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  1. Universität Hamburg, Hamburger Professorinnen- und Professorenkatalog: Sack, Fritz.
  2. Imanuel Baumann: Dem Verbrechen auf der Spur. Eine Geschichte der Kriminologie und Kriminalpolitik in Deutschland, 1880 bis 1980. Wallstein, Göttingen 2006, ISBN 3-8353-0008-3, S. 316 f.
  3. Lebenslauf Abgerufen am 21. November 2024.
  4. Erst 2005 wurde die Universität Hamburg wieder in Fakultäten gegliedert.
  5. vgl. Christian Wickert, Christina Schlepper, Simon Egbert und Katrin Bliemeister, Kriminologie studieren in Hamburg, in: Monatsschrift für Kriminologie und Strafrechtsreform 96 (2013), S. 270–275, S. 270.
  6. Fritz Sack, Neue Perspektiven in der Kriminologie. In: Fritz Sack / René König, Kriminalsoziologie. Akademische Verlagsgesellschaft., Frankfurt am Main 1968, S. 431–475.
  7. Fritz Sack: Einführende Anmerkungen zur kritischen Kriminologie. Überarbeiteter Text eines Vortrages zum Auftakt der Vorlesungsreihe „Kritische Kriminologie und Soziale Arbeit“, 2000, Online, dort Abschnitt 3 Der Sprung in die kritische Kriminologie: einige biographische Notizen, S. 8 ff.
  8. Aaron Victor Cicourel: Method and measurement in sociology. Free Press of Glencoe New York 1964.
  9. Christian Meyer und Christin Meier zu Verl: Die Entstehung der kritischen Kriminologie – auch aus dem Geist der Ethnomethodologie. Ein Interview mit Fritz Sack. In: Jörg R. Bergmann / Christian Meyer (Hg.): Ethnomethodologie reloaded. Neue Werkinterpretationen und Theoriebeiträge zu Harold Garfinkels Programm. transcript, Bielefeld 2021, ISBN 978-3-8376-5438-7, S. 361–385, hier S. 373.
  10. Fritz Sack: Einführende Anmerkungen zur kritischen Kriminologie. Überarbeiteter Text eines Vortrages zum Auftakt der Vorlesungsreihe „Kritische Kriminologie und Soziale Arbeit“, 2000, Online, dort Abschnitt 3 Der Sprung in die kritische Kriminologie: einige biographische Notizen, S. 8 ff., hier S. 11.
  11. Angaben zur Theorie und zur Krik an ihr beruhen, wenn nicht anders belegt, auf Christian Wickert: Radikaler Labelingansatz (Sack), SozTheo.
  12. Fritz Sack: Einführende Anmerkungen zur kritischen Kriminologie. Überarbeiteter Text eines Vortrages zum Auftakt der Vorlesungsreihe „Kritische Kriminologie und Soziale Arbeit“, 2000, Online, dort Abschnitt 3 Der Sprung in die kritische Kriminologie: einige biographische Notizen, S. 8 ff., hier S. 12.
  13. Trutz von Trotha, Ethnomethodologie und abweichendes Verhalten. Anmerkungen zum Konzept des "Reaktionsdeppen". In: Kriminologisches Journal, Band 9, Heft 2, 1977, S. 98–115.
  14. Hans Joachim Schneider, Kriminologie. Ein internationales Handbuch. Band 1: Grundlagen. De Gruyter. Berlin, Boston 2014, S. 92.
  15. Kolja Mensing: Familiäres Kapital. In: Die Tageszeitung. 5. Juni 2004, abgerufen am 7. Juli 2013.
  16. Beirat der Humanistischen Union, abgerufen am 23. Oktober 2017.
  17. Fritz Sack-Preis, Website der Gesellschaft für interdisziplinäre wissenschaftliche Kriminologie, abgerufen am 22. Oktober 2017.
  18. Universität Kreta, Psychologie Department: History of Departmental Activities, abgerufen am 22. Oktober 2017.