Urtext
Als Urtext bezeichnet man die Urfassung eines Textes oder eines größeren Werkes, insbesondere aus der Antike oder den frühen Hochkulturen. Bei Übersetzungen bezeichnet Urtext auch den Wortlaut in der Ausgangssprache. Die Bezeichnung wird ebenso wie Original von den meisten Textwissenschaften heute gemieden und durch präzisere Begriffe ersetzt: Archetyp, Autograph (...) Vor allem hat man sich von der Vorstellung autorisierter, authentischer Urtexte für frühe Kulturepochen verabschieden müssen. Vor der Entwicklung des modernen Autorbegriffs wurden keine Texte produziert, die als unveränderliche, fertige Werke galten.
Vom Urheber selbst angefertigte oder kontrollierte Niederschriften (Autographen) sind aus früheren Jahrhunderten nur extrem selten erhalten. Die Rekonstruktion von ursprünglicheren Fassungen aus späteren Abschriften ist Aufgabe der Textkritik. Dabei hat die Erkenntnis ernüchternd gewirkt, dass die Rekonstruktion bis zu den eigentlichen Urfassungen (Autorfassungen) in aller Regel nicht zurückreichen kann.
Die Forschung nach Urtexten hat sich historisch zuerst bei kulturell kanonischen Texten (Homer, Alexandrinische Schule) und den kultisch sanktionierten Schriften der großen Buchreligionen (z. B. masoretischer Text des Tanach) entwickelt. Sie ist bis heute bei religiösen Schriften wichtig, weil besonders hier die Vorstellung von göttlicher Offenbarung und der unangreifbaren Einsetzung von Glaubenslehren und religiösen Geboten sich in der auratisierten Vorstellung von „echten“ Texten konkretisiert. Aus der Richtigkeit und Authentizität von Texten und Textfassungen leiten sich für Glaubensgemeinschaften manche Konsequenzen für den Glauben oder für historische Querverbindungen ab (siehe z. B. Lukanisches Datum). Profanen Texten (Geschichtsschreibung, Dichtung) der Frühzeit gegenüber haben sich dagegen im Laufe des 20. Jahrhunderts neue Vorstellungsmodelle herausgebildet, die nicht mehr nach einem Original, sondern nach der funktionalen Varianz und Variabilität von Fassungen fragen (z. B. New Philology).
Bei Übersetzungen ist die Frage der sinn- und sprachgetreuen Übertragung in heutige Sprachen eine Thematik, bei der eine Kooperation zwischen archäologisch-kulturgeschichtlichen Fächern und den Sprachforschern unerlässlich ist.
Urtext als editionstechnischer Begriff von Notenausgaben
In Bezug auf Musikwerke wird der Begriff allgemein für Ausgaben verwendet, die nach den Quellen neu angefertigt wurden. Inwiefern eine textkritische oder gar spielpraktische Bearbeitung stattgefunden hat, ist daran gelegentlich nicht zu erkennen. Dies führt heute des Öfteren zu der Forderung, den Begriff des Urtextes nicht mehr in Bezug auf Editionen musikalischer Werke anzuwenden. Stattdessen, so die häufig formulierte Forderung, solle der Begriff der kritischen Edition vorgezogen werden. Einige führende Verlage, die den Begriff des Urtextes auch heute noch führen, wie Henle oder Wiener Urtext, geben jedoch detailliert Rechenschaft über die editorischen Entscheidungen und ihren Bezug zu den verwendeten Quellen. In manchen Einzelausgaben ist jedoch kein kritischer Apparat angeführt, so dass dieser über die jeweilige Gesamtausgabe oder über die Internetseite des jeweiligen Verlages bezogen werden muss.
Der Begriff des Urtextes in Zusammenhang mit Editionen von Musikwerken ist umstritten. Kritiker führen an, mit Urtext sei eine für alle Leser verbindliche Fassung gefunden. In der Tat ist es in vielen Fällen schwer, wenn nicht sogar unmöglich, editorische Entscheidungen allgemeingültig zu formulieren.
Zunächst einmal ist die Quellenlage und vor allem die Bewertung der Quellen ein wichtiger Ausgangspunkt für die Erschließung des in höchstem Maße glaubwürdigen Notentextes. Schon in dieser Frage kann es zu unterschiedlichen Beurteilungen kommen. Ist der Erstdruck glaubwürdiger als das Autograph? Oder hat der Verleger den Notentext korrumpiert? Ist der Druck eine überarbeitete und vom Komponisten in autorisierender Weise verbürgter Text? In derartigen Fragen sind oft Hintergrundinformationen hilfreich. Diese geben Einblicke in den Schaffens- bzw. Entstehungsprozess eines Komponisten.
Schon diese Fragen, die sich auf den Ausgangspunkt einer Editionsarbeit beziehen, zeigt, dass es zu unterschiedlichen, oft subjektiv gefärbten Antworten kommen kann. Daher bevorzugen Kritiker eher den Begriff „kritische Edition“. Dieser Begriff kennzeichnet eher das wissenschaftlich fundierte Verfahren, aus der oft komplexen Quellenlage eine möglichst verbindliche Textlösung zu erstellen.
Dabei liegt es auf der Hand, dass der editorische, kritische Prozess der Dokumentation bedarf. Erst die lückenlose Darstellung der Entscheidungen, der Verfahrensweisen und der Lösung ermöglicht dem Leser genaue Einblicke in die textbezogene Arbeit.
Gleichwohl hat sich in Deutschland der Begriff Urtext etabliert und wird vielfach als leicht zu erkennendes Attribut verstanden. In der Praxis dürfte daher eine Unterscheidung beider Begriffe von geringer Relevanz sein.
Urtext als Begriff im zwischenstaatlichen Recht
Hinsichtlich Staatsverträgen ist auch die Bezeichnung Originaltext gebräuchlich.
Siehe auch
- Geschichte
- Geschichtswissenschaft, Philologie, Sprachwissenschaft, Musikwissenschaft
- Bibel, Apokryphen, Koran, Schrift usw.
- Fälschung
Weblinks
- Ausführlicher Aufsatz zum Begriff des musikalischen Urtexts und zur Editionsgeschichte seit dem 19. Jahrhundert von Dr. Wolf-Dieter Seiffert, Musikwissenschaftler und Leiter des Musikverlags G. Henle, München
- Website der Wiener Urtext Edition: Darstellung der editorischen Grundsätze des Verlags. Der Artikel »Urtext und Interpretation« des ehemaligen Cheflektors Reinhold Kubik steht kostenfrei zum Herunterladen zur Verfügung. (PDF; 4,0 MB)
- Website musiklektorat.at.tf: Darstellung editionstechnischer Fragestellungen am Beispiel der Edition von Gitarren- und Lautenmusik und Artikel mit Detailfragen der alltäglichen Lektorentätigkeit. Die Artikel (PDF) können heruntergeladen werden.