Ulm 1592

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Ulm 1592 ist der Titel eines Gedichtes, das 1934 von Bertolt Brecht verfasst wurde. Das Werk der Exil-Literatur wurde 1937 in dem Band Svendborger Gedichte veröffentlicht. Unter demselben Titel nahm der Dichter es 1949 in seine Kalendergeschichten auf. Brecht datiert das historisch verbürgte Ereignis um den missglückten Flugversuch des Schneidermeisters Albrecht Ludwig Berblinger auf das Jahr 1592 und weist dem sprichwörtlichen Schneider von Ulm als Antagonisten einen namentlich nicht genannten Bischof zu. Im Gedicht endet der Flug vom Münster tödlich.

Entstehung

Das Gedicht nimmt sich den gescheiterten Flugerversuch Albrecht Ludwig Berblingers zum Gegenstand. Dieser zeigte schön früh Interesse an mechanischen Dingen, doch bot sich ihm Waisenhaus, dass er seit seinem 13. Lebensjahr bewohnte, nur eine Schneiderlehre an. Mit 21 Jahren erhielt Berblinger seinen Meisterbrief und zeigte sich in im Beruf erfolgreich. In seiner Freizeit ging er seinem Erfinderdrang nach und entwickelte unter anderem eine Beinprothese. Friedrich I. erfuhr von der Tätigkeit seines Untertanen und wollte daher, dass jener seinen Flugversuch vorführte. Der Flugversuch startete von einer Mauer dreizehn Meter über der Donau, doch Berblinger stürzte geradewegs in die Donau. Das Scheitern der Vorstellung hatte Folgen für seine soziale und wirtschaftliche Existenz. Der Flugpionier wurde als Lügner verspottet und ausgegrenzt.

Form

Das Gedicht besteht aus zwei Strophen mit je elf Versen. Nach Jan Knopf orientiert sich die Form des Gedichts an Kinderliedern.[1] Der Text ist rhythmisch gegliedert, auf ein durchlaufendes Metrum wie den Gebrauch des Endreims wird weitgehend verzichtet. Ausnahme sind in den Versen drei und sechs (mach-Dach) wie vier und fünf (Dingen-Schwingen) oder 14 und 17 (Hatz-Kirchenplatz) sowie 15 und 16 (zerspellet-zerschellet) zu finden. Auffällig ist der dialektische Aufbau des Gedichts, so wird in der ersten Strophe das kühne Streben des Schneiders und sein Aufstieg der Ablehnung des Bischofs gegenübergestellt, während in der zweiten der Zeugenbericht vom tödlichen Ausgang des Experiments mit der scheinbar bestätigten Ablehnung konfrontiert wird. Die apodiktische Aussage des Bischofs von der Unmöglichkeit des Fliegens seitens der Menschen schließt die beiden Strophen zwar ab, wodurch die Haltung des Geistlichen durch das Mittel der Wiederholung bekräftigt wird, sich aber hierdurch als größerer Irrtum offenbart, da er durch die erfolgreiche Geschichte der Luftfahrt letztlich widerlegt wurde.

Datierung

Klaus-Detlef Müller sieht die Datierung des Ereignisses in der Frühen Neuzeit im zyklischen Aufbau des Werks begründet, denn vor dem Gedicht steht die Erzählung über den Naturwissenschaftler Francis Bacon (Das Experiment), danach jene über Giordano Bruno (Der Mantel des Ketzers).[2] Jan Knopf wendet ein, dass der Untertitel Ulm 1592 bereits 1934 vorhanden war, als das Gedicht in noch keinem Zusammenhang zum Geschichtenband stand.[3] Nach Gerhard Rademacher habe Brecht das Gedicht mit „gesellschafskritischer Absicht in das Jahr 1592, in die Zeit Galileis zurückdatiert“.[4] Heinrich Kaulen meint, Brecht würde durch die Jahreswahl eine „literarische Genealogie suis generis“ schaffen, die desperate Ereignisse wie die Auseinandersetzung Galileis (1632/33) und Giordano Bruno (verhaftet 1592, hingerichtet 1600) mit der Inquisition wie das hundertjährige Jubiläum der Entdeckung Amerikas (1492) zusammenfasst.[5] Gerhard Koch deutet das Datum als eine Zäsur, „jene Nahtstelle der Geschichte, die von der mittelalterlich-feudalistischen Epoche zur neuzeitlich-bürgerlichen überleitet.“[6]

Inhalt

Die Hauptfiguren im Gedicht sind der Bischof und der Schneider. In der ersten Strophe behauptet der Schneider, dass er fliegen könne und stieg auf das Kirchendach. Der Bischof ging weiter und behauptet der Mensch sei kein Vogel und dass der Mensch auch nie fliegen können wird. In der zweiten Strophe ist der Schneider gestorben, weil er vom Dach gesprungen ist. Er liegt auf dem Boden des Kirchenplatzes und der Bischof wiederholt nochmals, dass der Mensch niemals fliegen können wird.

Interpretation

Laut Peter J. Brenner vertritt Brecht in dem Lied, dass „der historische Fortschritt dem Augenschein zum Trotz weitergehen“ wird.[7] Gerhard Koch deutet das Gedicht als „Parabel des neuzeitlichen Menschen, der sich den Zwängen und Beschränkungen des Mittelalters zu entziehen versucht.“[8] Nach Heinrich Kaulen gehe der Dichter frei mit dem historischen Stoff um. Nicht nur zum Zeitpunkt des historischen Versuchs, sondern bereits 1530 habe der protestantischen Stadt unmöglicherweise ein katholischer Bischof vorgestanden. Der Versuch wurde auch nicht über den Kirchplatz vorgeführt. Dies sei vielmehr der beabsichtigten Entgegensetzung von gemeinen Mann und Kirche verschuldet. Mit Verweis auf die Manuskripte, darin der Bischof in der ersten Fassung noch als „Herr“ angeredet werde, sieht Kaulen eine Aufwertung des vergessenen Flugpioniers.[9] Weiterhin habe Brecht am Ende des Zyklus das Gedicht Mein Bruder war ein Flieger (1937) gesetzt, um eine einseitige technikoptimistische Positionierung zu unterlaufen.[10]

Rezeption

Am 12. Mai 1937 vertonte Hanns Eisler das Gedicht.[11] Das Gedicht wurde von Therese Giehse eingesungen. Gedruckt wird es erstmals 1939 in der Sammlung Svendborger Gedichte.

Literatur

Textausgaben

  • Bertolt Brecht: Der Schneider von Ulm. In: Svendborger Gedichte. Malik, London 1939.
  • Bertolt Brecht: Der Schneider von Ulm. In: Svendborger Gedichte. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1979.
  • Bertolt Brecht: Der Schneider von Ulm. In: Gedichte in einem Band. Suhrkamp, Frankfurt am Main 2007, ISBN 3-518-02269-5, S. 645.
  • Bertolt Brecht: Ulm 1592. In: Kalendergeschichten. Gebrüder Weiß, Berlin 1949.

Sekundärliteratur

  • Kurt Bräutigam: Moderne deutsche Balladen („Erzählgedichte“). Versuche zu ihrer Deutung. Moritz Diesterweg Verlag, Frankfurt am Main 1968.
  • Günter Dietz: Bertolt Brechts dialektische Lyrik (Fragen eines lesenden Arbeiters, Der Schneider von Ulm, 1940 VI). In: Der Deutschunterricht 18, 1966, Heft 2, S. 66–77.
  • Gerhard Koch: Der Schneider von Ulm – Bertolt Brechts Bearbeitung eines Sujets aus der Geschichte der Aviatik. In: German Studies in India 5, 1981, S. 195–206.
  • Hans Schulte: Kinderlieder bei Bertolt Brecht. In: Wirkendes Wort 27, 1977, S. 149–159.
  • Edgar Neis: Wir interpretieren Balladen. Materialien zum Verständnis klassischer und moderner Balladen. Bange, Hollfeld 1968, S. 120.
  • Winfried Woesler: Brechts Kinderlied Der Schneider von Ulm (Ulm 1592). In: Euphorion 85, 1991, S. 182–191.
  • Denise Kratzmeier: Bertolt Brecht Kalendergeschichten, Text und Kommentar. Suhrkamp Basisbibliothek, Berlin 2013, ISBN 978-3-518-18931-3.

Einzelnachweise

  1. Vgl. Jan Knopf: Brecht-Handbuch. Lyrik, Prosa, Schriften. Eine Ästhetik der Widersprüche, Metzler, Stuttgart 1986, S. 3.
  2. Vgl. Klaus-Detlef Müller: Brecht-Kommentar zur erzählenden Prosa. Winkler, München 1980‚ ISBN 3-538-07029-6, S. 311.
  3. Vgl. Jan Knopf: Brecht Handbuch. Lyrik, Prosa, Schriften. Metzler, Stuttgart 1986, S. 300
  4. Gerhard Rademacher: Technik und industrielle Arbeitswelt in der deutschen Lyrik des 19. und 20. Jahrhunderts. Versuch einer Bestandsaufnahme. In: Europäische Hochschulschriften Bd. 124. Lang, Bern/Frankfurt am Main 1976, ISBN 978-3-261-01629-4, S. 64.
  5. Heinrich Kaulen: Ulm 1592. In: Brecht Handbuch. Lyrik, Prosa, Schriften, hrsg. von Jan Knopf. Metzler, Stuttgart 1986, S. 262–263.
  6. Gerhard Koch: Der Schneider von Ulm – Bertolt Brechts Bearbeitung eines Sujets aus der Geschichte der Aviatik. In: German Studies in India 5, 1981, S. 202.
  7. Peter J. Brenner: Neue deutsche Literaturgeschichte. Vom Ackermann zu Günter Grass. Gruyter, Berlin 2011, ISBN 978-3-484-10897-4, S. 275.
  8. Gerhard Koch: Der Schneider von Ulm – Bertolt Brechts Bearbeitung eines Sujets aus der Geschichte der Aviatik. In: German Studies in India 5, 1981, S. 202.
  9. Heinrich Kaulen: Ulm 1592. In: Brecht Handbuch. Lyrik, Prosa, Schriften, hrsg. von Jan Knopf. Metzler, Stuttgart 1986, S. 263.
  10. Heinrich Kaulen: Ulm 1592. In: Brecht Handbuch. Lyrik, Prosa, Schriften, hrsg. von Jan Knopf. Metzler, Stuttgart 1986, S. 263–264.
  11. Wolfgang Conrad u. a.: Brechts Söhne. Topographien, Biographie, Werk. Lang, Berlin u. a. 2008, ISBN 978-3-631-58376-0, S. 102.