Ruth Cohn

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Ruth Charlotte Cohn (* 27. August 1912 in Berlin; † 30. Januar 2010 in Düsseldorf) war die Begründerin der Themenzentrierten Interaktion (TZI) und eine der einflussreichsten Vertreterinnen der humanistischen und der psychodynamischen Psychologie.

Datei:Ruth cohn schels.JPG
Ruth Cohn, 1980 fotografiert von Walter Schels

Leben und Wirken

Ruth C. Cohn wurde als zweites Kind der assimilierten jüdischen Familie Hirschfeld geboren und wuchs streng erzogen, jedoch wohlbehütet, in gutbürgerlichen Verhältnissen auf. Ihr Vater war Bankier, ihre Mutter stammte aus einer Mainzer Kaufmannsfamilie. 1931/1932 studierte sie Nationalökonomie und Psychologie an der Universität Heidelberg und der Friedrich-Wilhelms-Universität in Berlin. Nach der „Machtergreifung“ der Nationalsozialisten 1933 und nach beklemmenden und beängstigenden Erfahrungen mit diesem System[1] flüchtete sie von Berlin nach Zürich, wo sie Psychologie studierte und sich durch Medard Boss zu einer von der Schweizer Gesellschaft für Psychoanalyse anerkannten Psychoanalytikerin ausbilden ließ. Zusätzlich studierte sie Pädagogik, Theologie, Literatur und Philosophie an der Universität Zürich.

Sieben Jahre später wanderte sie 1941 in die USA aus. Hier erfuhr sie zunächst 1941 und 1942 eine Ausbildung in Early Childhood Progressive Education an der Bankstreet School (später College) in New York City und trieb gleichzeitig von 1941 bis 1944 psychotherapeutische Studien, insbesondere zu den Arbeiten von Harry Stack Sullivan am William Alanson White Institute in New York und an der Columbia University, wo sie mit dem Master’s Degree (M.A.) und als Diplompsychologin abschloss.

Anschließend betrieb sie eine private psychotherapeutische Praxis in New York City und entfernte sich nicht zuletzt durch die Ausbildung in Gruppentherapie bei Pionieren wie Asya Kadis, Sandy Flowermann und Alexander Wolf zunehmend von der klassischen Psychoanalyse hin zur Erlebnistherapie. Zwischenzeitlich war Cohn auch am Aufbau der NPAP (National Psychological Association for Psychoanalysis) beteiligt und arbeitete Anfang der 1960er erstmalig in Wirtschaftsunternehmen mit TZI. Sie machte noch von 1965 bis 1966 eine Zusatzausbildung in Gestalttherapie bei Fritz Perls und gründete 1966 in New York und 1972 in der Schweiz das Workshop Institute for Living-Learning (WILL), das Institut für Ausbildung, Forschung und Praxis von TZI (Theme Centered Interaction, TCI).

"Von der Psychoanalyse zur Themenzentrierten Interaktion" ist der Titel ihres ersten Buches und zugleich die Überschrift ihres beruflichen Lebenswerkes. 1974 kehrte sie nach Europa zurück. Seitdem hatte sie ihren Wohnsitz in Hasliberg-Goldern (Schweiz), wo sie eine freie Praxis betrieb und als Lehrerin für TZI und bis 1998 als Beraterin für das Kollegium in der Ecole d’Humanité in Hasliberg-Goldern tätig war. Hier, im Berner Oberland, in der Einsamkeit der Berge, entstand ein weiteres wichtiges, autobiographisch geprägtes Buch "Gelebte Geschichte der Psychotherapie", gemeinsam mit dem damals bereits verstorbenen Freund und Kollegen Alfred Fahrau.[1]

Sie lebte bis zu ihrem Tod in Düsseldorf und wurde am 6. Februar in Langenfeld bei Düsseldorf beigesetzt. Zu ihrem 100. Geburtstag wurde am 27. August 2012 in der Mommsenstrasse 55 (Berlin-Charlottenburg) eine Gedenktafel enthüllt. Ruth Cohn lebte bis 1933 in diesem Haus. [2]

Konzept und Ausblick

Geprägt von ihren Erfahrungen mit Faschismus und Nationalsozialismus einerseits, und vor dem Hintergrund der Psychoanalyse andererseits, entwickelte sie 1955, angestoßen durch einen Workshop zum Thema Gegenübertragung, dessen Methodik zum Ausgangspunkt wurde, im amerikanischen Exil das Konzept der Themenzentrierten Interaktion (TZI).

Zwei Erfahrungen/Erkenntnisse kamen zusammen, damit TZI erfunden werden konnte und musste: Erstens "die Couch war zu klein"! Die Couch der Psychoanalyse hatte ja nur Platz für eine Person. Sollte es nicht möglich sein, mit Hilfe von Psychologie, Psychotherapie und Pädagogik dem Fortschritt der Humanität in der Ehe, der Schule, der Politik, im Arbeitsleben zu dienen? Die Couch war zu klein, daher die Gruppe!

Zweitens wollte sich Ruth Cohn nicht damit abfinden, dass es in den Therapiegruppen so lebens- und menschennah zuging, aber in Hörsälen und Klassenzimmern so akademisch und ich-fern, so abgehoben und dialogarm. Es müsste doch möglich sein, auch Lern- und Arbeitsgruppen so zu gestalten, dass etwas von der Lebendigkeit, der inneren Anteilnahme und der couragierten Selbstbestimmung hineinkäme? Die Antwort darauf war TZI.[1]

Die TZI ist auf aktives, schöpferisches und entdeckendes Lernen – Cohn nennt es nach einem Vorschlag von Norman Libermann Lebendiges Lernen – und Arbeiten ausgerichtet. Sie strebt ein dynamisches Gleichgewicht an zwischen den Bedürfnissen der einzelnen Personen, der Gruppe, deren Aufgabe und dem Umfeld. Heute wird die TZI in allen Arbeits- und Lebensbereichen, insbesondere in der Erwachsenenbildung eingesetzt.

Ruth Cohn hinterlässt eine wohletablierte Organisation, das Ruth-Cohn-Institut. Ihr Leben und ihre Arbeit haben Leben und Arbeit vieler Menschen auf mehreren Kontinenten beeinflusst, obwohl die meisten ihrer Publikationen auf Deutsch sind. Ihr Sohn Peter lebt in Denver, Colorado, USA. Ruth war eine wunderbare Dichterin und die Autorin vieler Merksätze, z.B. "Wenn das Haus brennt, dann analysiere nicht." [3]

Lehrtätigkeiten Ruth Cohns

Auszeichnungen

Schriften

Bücher

  • Es geht ums Anteilnehmen … Herder, Freiburg im Breisgau 1993
  • Von der Psychoanalyse zur Themenzentrierten Interaktion. Klett-Cotta, Stuttgart 1975
  • mit Alfred Farau: Gelebte Geschichte der Psychotherapie. Klett-Cotta, Stuttgart 1984
  • mit Christina Terfurth (Hrsg.): Lebendiges Lehren und Lernen. Klett-Cotta, Stuttgart 1993
  • mit Irene Klein: Großgruppen gestalten mit Themenzentrierter Interaktion. Ein Weg zur lebendigen Balance zwischen Einzelnen, Aufgaben und Gruppe. Grünewald, Mainz 1993

Aufsätze

  • Zu wenig geben ist Diebstahl, zu viel geben ist Mord! (Interview von Otto Herz). In: betrifft: erziehung. 14 (1), 1981, S. 22–27.
  • Gucklöcher – Zur Lebensgeschichte von TZI und Ruth Cohn. In: Gruppendynamik, Heft 4, Dez. 1994, S. 345–370
  • Das Konzept des Widerstands in der Themenzentrierten Interaktion. Vom psychoanalytischen Konzept des Widerstands über das TZI-Konzept der Störung zum Ansatz einer Gesellschaftstherapie. In: Hilarion Petzold: Widerstand. Ein strittiges Konzept in der Psychotherapie. Junfermann, Paderborn 1981
  • mit Friedemann Schulz von Thun: Wir sind Politiker und Politikerinnen – wir alle! Dialog in: Rüdiger Standhardt & Cornelia Löhmer (Hrsg.) Zur Tat befreien. Gesellschaftspolitische Perspektiven von TZI-Gruppenarbeit. Mainz 1994, S. 30–62.
  • mit Paul Matzdorf: Themenzentrierte Interaktion. In: Raymond J. Corsini: Handbuch der Psychotherapie. Weinheim, Basel 1983

Literatur über Ruth Cohn

  • Festschrift für Ruth Cohn. Zeitschrift für Humanistische Psychologie, 3. Jahrgang, Heft 4, 1980
  • Erica Brühlmann-Jecklin: Das Mögliche Tun. Ruth C. Cohn, Gespräche und Begegnungen. 1. Auflage. Zytglogge Verlag, Oberhofen 2010, ISBN 978-3-7296-0815-3.
  • Friedemann Schulz von Thun: Laudatio auf Ruth Cohn (Anlässlich der Verleihung der Ehrendoktorwürde durch den Fachbereich Psychologie der Universität Hamburg am 30. November 1979). In: Zeitschrift für Humanistische Psychologie, 3. Jahrgang, Heft 4, 1980, S. 7–12
  • Erika Arndt: Ruth Cohn und ihre Idee von lebendigen Lernprozessen in der Schule. In: Zeitschrift Themenzentrierte Interaktion Heft 1/2002, Sonderband für Ruth Cohn

Siehe auch

Einzelnachweise

  1. a b c Friedemann Schulz von Thun: Nachruf für Ruth Cohn http://www.tzi-schweiz.ch/dl/memories_ruth_schulz_von_thun.pdf
  2. Zum 100. Geburtstag von Ruth Cohn
  3. Gary A. Tollmann: "Ruth C. Cohn (1912 - 2010)" in: "American Psychologist" Vo. 65 (9) 926 (2010)