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Seite:Die Gartenlaube (1875) 838.jpg

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875)

Neben dieses Gemälde voll düsterer Schatten stellen wir ein Bild voll Licht und Wärme, das der Mutter von Alfons Lamartine. Alix des Roys – so hieß die Mutter unseres Dichters – war die Tochter des Generalintendanten des Herzogs von Orleans und der Untergouvernante der prinzlichen Kinder; sie nahm in ihren Kinderjahren Theil an den Lectionen und Spielen des nachmaligen Königs Louis Philipp, und die Bilder der berühmtesten Männer jener Zeit blieben ihrem Gedächtnisse eingeprägt, wie die Spuren vorweltlicher Wesen in dem Gesteine der Gebirge. Von Rousseau war sie schwärmerisch eingenommen. Sie bekannte sich nicht zur Religion seines Genies, aber zu der seines Herzens. Die Schrecken der Revolution hatten die Frau hart getroffen. Sie nährte den Sohn, während der angebetete Gatte an den Stufen des Schaffots stand. Was Wunder, wenn die Menschen, deren Leben aus so finsteren Tagen datirt, eine Neigung zur Traurigkeit und Melancholie haben.

Wenden wir uns indeß an ein anmuthigeres Bild aus der Kindheit des Dichters. Auf einem Kanapee von geflochtenem Stroh in der Ecke, welche von dem Kamine des einfachen Zimmers und der Wand des Alkovens gebildet wird, sitzt eine Frau, welche noch sehr jung zu sein scheint, obgleich sie schon beinahe fünfunddreißig Jahre zählt. Ihre hohe Gestalt besitzt noch die ganze Geschmeidigkeit und Eleganz des jungen Mädchens; ihre Züge sind so zart, ihre schwarzen Augen haben einen so offenen und durchdringenden Blick, ihre durchsichtige Haut läßt unter ihrem etwas blassen Gewebe so deutlich das Blau ihrer Adern und das flüchtige Roth ihrer geringsten Bewegung wahrnehmen, ihre tief schwarzen, aber sehr feinen Haare fallen so wellenförmig und seidenartig an ihren Wangen bis auf die Schultern herab, daß es unmöglich ist zu entscheiden, ob sie achtzehn oder dreißig Jahre zählt.

Diese halb auf ihre Kissen zurückgelehnte junge Frau hält ein kleines Mädchen, welches, mit dem Kopfe auf einer ihrer Schultern ruhend, eingeschlafen ist. Das Kind hat noch um seine Finger eine der langen schwarzen Haarlocken seiner Mutter geschlungen, mit welcher es gespielt hatte. Ein anderes, etwas älteres kleines Mädchen sitzt auf einem Schemel zu Füßen des Kanapees. Es ruht mit seinem blonden Köpfchen auf den Knieen seiner Mutter. Diese junge Frau ist des Dichters Mutter; die beiden Kinder sind seine Schwestern. – Lassen wir nun den Dichter selbst erzählen.

„Dem Kamine gegenüber sitzt ein Mann, den Ellenbogen auf den Tisch gestützt, mit einem Buche in der Hand. Er liest mit lauter Stimme vor. Ich höre‚ noch jetzt den männlichen, vollen, kräftigen und dessen ungeachtet biegsamen Ton dieser Stimme, welche lange, tönende Perioden dahinfließen läßt. Meine Mutter hört mit etwas geneigtem Kopfe träumerisch zu. Ich, mit meinem dem Vater zugewendeten Gesicht und auf eines seiner Kniee gestemmtem Arme, sauge jedes Wort ein, greife jeder Scene vor, verschlinge das Buch, dessen Blätter sich für meine ungeduldige Phantasie zu langsam umwenden. Was enthält dieses Buch? – das erste Buch, dessen so beim Eintritte in das Leben vernommener Inhalt mich wirklich lehrt, was ein Buch ist, und mir sozusagen die Welt der Rührung, der Liebe und der Träumerei öffnet?

Dieses Buch ist ‚Das befreite Jerusalem‘. – So war Tasso, von meinem Vater vorgelesen, von meiner Mutter mit Thränen in den Augen angehört, der erste Dichter, der die Saiten meiner Phantasie und meines Herzens gerührt hat.“ –

An anderen Stellen erzählt Lamartine:

„Meine Erziehung lag ganz in den mehr oder weniger heiteren Augen und dem mehr oder weniger offenen Lächeln meiner Mutter. Die Zügel meines Herzens lagen in dem ihrigen. Sie forderte von mir weiter Nichts als Güte und Wahrheit. Ich hatte keine Mühe, es zu sein. Mein Vater und meine Mutter waren meine ersten Lehrer. Ich sah sie lesen – und wollte lesen lernen; ich sah sie schreiben – und bat sie, mir zu helfen, Buchstaben zu machen. Meine Ideen standen mit denen meiner Mutter in steter Verbindung und entwickelten sich sozusagen in den ihrigen. Aus der Seele meiner Mutter sog ich alle nährenden Säfte meines jungen Lebens; ich las durch ihre Augen, fühlte durch ihre Eindrücke, liebte durch ihre Liebe. Sie übersetzte mir Alles, die Natur wie die Gefühle, die Herzensregungen wie die Gedanken. Der Unterricht, den ich erhielt, bestand nicht aus Lectionen; es war die Handlung des Lebens, Denkens und Fühlens selbst, welche ich unter ihren Augen mit ihr, wie sie und durch sie verrichtete. – So bildete sich mein Herz nach einem Muster, das ich nicht einmal zu betrachten brauchte, so sehr war es mit meinem eigenen Herzen verschmolzen.“

Schließlich noch eine einzige Stelle für deutsche Mütter.

„Meine Mutter,“ berichtet Lamartine, „kümmerte sich sehr wenig um das, was man unter Unterricht zu verstehen pflegt. Sie strebte nicht danach, aus mir ein für mein Alter früh entwickeltes Kind, ein sogenanntes Wunderkind, ein Genie zu machen. Sie reizte mich nicht zu dem Streben, es besser zu machen, als Andere, was bei Kindern meist oder oft eine Eifersucht des Stolzes ist. Sie verglich mich mit Niemand; sie erhöhte mich nicht und erniedrigte mich nicht durch gefährliche Vergleichungen. Sie dachte mit Recht, daß ich, wenn meine intellectuellen Kräfte einmal durch die Jahre und die Gesundheit des Körpers und Geistes entwickelt sein würden, ebenso geläufig wie ein anderes Kind das wenige Griechisch und Latein und Rechnen begreifen würde, aus dem die trivialen Kenntnisse bestehen, auf die man einen so hohen Werth legt. Was sie wollte, das war, aus mir ein glückliches Kind, einen gesunden Geist und eine liebende Seele, ein Geschöpf Gottes zu bilden und nicht eine Puppe der eitlen Selbstsucht und des Dünkels.“

Deutsche Mütter, beherzigt diese Erziehungsweise!





Der Börsen- und Gründungsschwindel in Berlin.
Von Otto Glagau.
12. „Dividendenbier“.

Zu Rostock ist ein Büchlein erschienen, betitelt „Der große Schwindel und der große Krach“. Ein originelles ergötzliches Büchlein! Es ist nämlich eine humoristisch-satirische Geschichte der Schwindelperiode, blos zusammengestellt aus Citaten der Berliner Witzblätter: „Kladderadatsch“, „Wespen“ und „Ulk“; also ein Geschichtswerk, das auf unantastbaren Quellen beruht. Im Gegensatze zu der übrigen Presse haben „Kladderadatsch“ und Genossen den Schwindel als solchen gekennzeichnet und mit ihren Witzen begleitet. Aber eben diese Witze und Schnurren halfen vielleicht täuschen über den blutigen Ernst des Schwindels, ließen den verbrecherischen Frevel, der an dem ganzen Volke verübt wurde, nicht recht zum Bewußtsein kommen. Während wir die auf Kosten der Gründer und Börsianer gerissenen Witze und Späße belachten, merkten wir nicht, daß dieselben Gründer und Börsianer auch uns die Taschen leerten, auch uns bis auf’s Hemde auszogen.

Die allgemeine Ausplünderung der Gesellschaft vollzog sich allmählich und fast unmerklich im Laufe von Jahren, aber als unmittelbare Folgen des Schwindels zeigten sich sofort allerlei Calamitäten und Wehen. Hand in Hand mit der Wohnungsnot ging die Vertheuerung und Verschlechterung der Lebensmittel. Alle Lebensmittel und alle Waaren wurden nicht nur theurer, sondern auch schlechter, zugleich geringer an Quantität und an Qualität, oder sie erlitten gar eine grobe und nicht selten gesundheitsgefährliche Verfälschung. Das Publicum wurde nicht blos übertheuert, dreimal betrogen: man beeinträchtigte und verleidete ihm auch den Genuß, man verkümmerte ihm des Leibes Nahrung und Nothdurft. Besonders geschah dies mit einem Artikel, der neben dem Brode im täglichen Haushalt eine Hauptrolle spielt.

In ganz Deutschland steigert sich seit länger als 30 Jahren der Bierconsum, ist namentlich das sogenannte „Baierisch“ zu einem Nahrungsmittel für alle Classen geworden. Bis 1870 war es durchweg ein reines gehaltvolles Getränk; mit dem

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875). Leipzig: Ernst Keil, 1875, Seite 838. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1875)_838.jpg&oldid=- (Version vom 29.12.2019)