verschiedene: Die Gartenlaube (1866) | |
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und erstieg die nächste Erhöhung des Gebirges, das hier wohl zwei Stunden weit zum Plateau sich ausbreitet. Ein schmaler Felsengrund lief durch niedriges Gebüsch gen Westen, und wie Eugen ihn mit den Augen verfolgte, bemerkte er an der höchsten Stelle des Horizontes ein weißes Klostergebäude, das bescheiden mit seinem niedrigen Glockenthurm zwischen einem Föhrenwäldchen das Hochland überschaute. Obwohl er sich sagen mußte, daß hier für seine Recognoscirung nichts zu suchen war, indem der Paß der Windung der Thalschlucht nach Osten folgte, schlug er dennoch, ohne sich zu besinnen, den Weg nach dem Kloster ein. Ein dunkles Etwas trieb ihn, dort über die Bewohner des Castells nachzuforschen. Hatte ihm doch sein Führer gestern gesagt, daß an allen Sonntagen ein Capuziner in der Capelle des Castells die Messe lese.
Doch war er kaum eine Viertelstunde zwischen Klippen und Buschwerk fortgewandelt, als sich plötzlich neben dem Wege eine Gestalt erhob, die hier auf ihn gewartet zu haben schien. Er erkannte sofort die Alte, deren Gesang ihn am Morgen geweckt hatte. Sie hatte ein braunes Tuch über den Kopf geworfen, unter dem ihre lebhaften Augen ängstlich und kummervoll hervorsahen. Als sie sich überzeugt hatte, daß der Heranschreitende der Erwartete sei, machte sie ihm ein Zeichen, ihr zu folgen, und schlich dann, den Kopf zwischen den Schultern wie eine geblendete Eule, an den Felsen hin, nach einer verlassenen Hütte, die im Schatten eines alten Steinbruchs unter Brombergestrüpp verborgen stand.
„Schwört mir bei dem blutigen Herzen der Madonna,“ sagte sie, als der Fremde sie erreichte, „daß Ihr mich nicht verrathen wollt. Ihr seht aus, wie ein Galantuomo, aber eh’ Ihr mir nicht geschworen habt, kommt kein Wort über meine Lippen. Ob Ihr hernach thun wollt, was ich Euch bitten werde, steht bei Euch.“
Er besann sich einen Augenblick, den Schwur zu leisten, den sie von ihm verlangte. „Was soll ich thun, Alte?“ setzte er hastig hinzu. „Ich bin zu Allem bereit, was sich mit der Ehre eines Soldaten verträgt.“
Sie antwortete nicht sogleich. Sie hatte sich in der Hütte auf einen niedrigen Stein gesetzt und stöhnte und jammerte vor sich hin, als wäre sie ganz allein und froh, endlich einmal in einem verborgenen Winkel sich nach Herzenslust ausseufzen zu können. Erst als Eugen sie ungeduldig an der Schulter faßte, schien sie sich zu besinnen, wozu sie eigentlich hier sei.
„Sagt mir erst, wer Ihr seid und was Ihr hier zu suchen habt,“ fragte sie, indem sie ihn trotz des Schwurs argwöhnisch von oben bis unten musterte. „Wie kommt’s, daß er Euch in’s Castell gelassen hat, wo sonst Niemand haust, als wir und die Verzweiflung? Wenn Ihr sein Freund seid, hat die alte Barborin[1] Euch nichts zu sagen.“
Er gab ihr in kurzen Worten Bescheid, der sie zu befriedigen schien. Wenigstens blickte sie, mehrmals mit dem Kopf nickend, ruhiger um sich her, zog eine alte Rindendose aus der Tasche und nahm hastig eine Prise. Dann sagte sie:
„Seid Ihr in Mailand bekannt, Herr?“
„Ein wenig,“ erwiderte er. „Es war meine erste Garnison und ich war dort ein ganzes Jahr, aber es ist lange her.“
„Und kommt Ihr wieder hin? Aber bald müßte es sein, sonst ist es zu spät!“
„Sag’, was ich dort soll. Wenn es wichtig ist –“
„So wichtig, wie Tod und Leben,“ sagte die Alte mit einem Blick gen Himmel. „Habt Ihr von dem Grafen T. (und sie nannte den Namen eines der ersten Adelsgeschlechter Mailands) sprechen hören oder seid gar selbst in sein Haus gekommen? Nun, das ist auch gleichgültig. Wenn Ihr wirklich ein Ehrenmann und ein Christ seid und Erbarmen habt mit dem Jammer der Unschuld, so werdet Ihr es mir nicht abschlagen, einen Brief an die alte Gräfin zu bringen, nicht wahr? Weiter hab’ ich Euch nichts zu bitten, und der Himmel wird Euch dafür segnen.“
„Gieb ihn mir, Alte,“ sagte er treuherzig, „gieb mir nur Deinen Brief. Wenn es acht Tage Zeit damit hat, soll er sicher besorgt werden.“
„Acht Tage?“ murmelte sie. „Das ist lange. In der Zeit kann das Licht am Ende auslöschen. Aber, wenn es nicht anders sein kann, Gott wird vielleicht gnädig sein. Hört, habt Ihr nicht ein Taschenbuch bei Euch?“
„Wozu?“
„Den Brief zu schreiben. Ich armes Geschöpf kenne wohl die Buchstaben, aber schreiben kann ich nicht, und sie, wenn sie es wüßte, daß ich hier mit Euch rede, nicht vor die Augen dürfte ich ihr mehr kommen! Darum hab’ ich auch so lange gewartet, bis ich mich entschloß, mich irgend Wem zu vertrauen. Hätte ich nicht längst auf diesen meinen Beinen fortlaufen können? und wenn ich dann in Mailand es ihnen gesagt hätte, hätte mich der Herr ja immerhin umbringen können, wie er mir gedroht. So wäre sie doch wenigstens gerettet gewesen. Aber ich wollte nichts thun gegen ihren Willen; ich dachte immer, vielleicht kommt sie selbst zur Besinnung. Nun hab’ ich’s so weit kommen lassen, daß am Ende nichts mehr hilft!“
„Wieder starrte sie wie abwesend unter Stöhnen und Wimmern in ihren Schooß und schien sich um ihn nicht mehr zu bekümmern. Er hatte indeß seine Brieftasche hervorgezogen und ein Blatt herausgerissen. Was soll ich schreiben?“ fragte er.
„Ja so,“ sagte die Alte, „sich die Augen mit dem Rücken der Hand wischend. „Nun denn in Gottes Namen, fangt immer an: ‚Liebe Frau Gräfin,‘ so darf ich sie wohl nennen, ohne all’ die Umschweife von Gentilissima und Illustrissima. Bin ich doch seit ihrem ersten Kind im Haus gewesen, und wie der junge Graf starb und dann kam die kleine Giovanna zur Welt: ‚Barborin,‘ sagte die Frau Gräfin, ‚wenn Du auch keine Milch mehr hast für die kleine Creatur, Dein Herzblut, weiß ich, würdest Du für sie hergeben; darum sollst Du im Hause bleiben.‘ O Du barmherziges Herz meines Heilands, wenn ich das Alles vorausgewußt hätte, lieber wäre ich auf die Galeeren gegangen, als das Kind großfüttern und hernach den Jammer an ihm erleben!“
„Sag’ endlich, um was sich’s handelt, Alte,“ unterbrach sie Eugen ungeduldig, „die Zeit ist kostbar.“
„Ihr habt Recht, Herr. Aber man sagt auch: ‚Zeit, Geduld und Geld besiegt die ganze Welt‘, und dann wieder: ‚Wer Alles erträgt, ist ein Heiliger oder ein Esel‘. Darum schreibt nur, was ich Euch vorsagen will. Denn meine Geduld ist am Ende.“
„Liebe Frau Gräfin –“ wiederholte der Fremde.
„‚Ich, die Euch hier schreiben läßt,‘“ fuhr die Alte fort, „‚bin Eure alte, treue Barborin und wollte Euch nur melden, daß Ihr auf eine ganz erbärmliche und schändliche Weise betrogen seid, von Jemand, der – Gott verzeih’s ihm! – wie ein Türk und Heide an Eurem Kinde thut, da er Euch und dem Herrgott doch versprochen hat, sie auf Händen zu tragen.‘ Habt Ihr das? Gut! Und nun schreibt weiter: ‚Nämlich, es ist eine Lüge und abscheuliche Verleumdung, daß meine junge Gräfin den Verstand verloren haben soll, und darum sei sie hier in diese Einöde gezogen und wolle keine Menschenseele sehen und sprechen, nicht einmal Vater und Mutter. Sondern im Gegentheil‘ – und das könnt Ihr unterstreichen – ‚sie hat ihre fünf Sinne so richtig beisammen, wie ich selbst und Eure gräfliche Gnaden, mit aller Ehrerbietung sei es gesagt, und daß sie von der Villa fort ist und hier im Castell eingemauert, das hat Er auf dem Gewissen, den ich nicht nennen will, weil er mir angedroht hat, mich niederzuschießen, wie eine tolle Hündin, wenn ich das Geheimniß ausschwatzen würde. Ach aber, man könnte mich sieben Tode sterben lassen, ich müßte endlich den Mund aufthun, oder es bricht mir das Herz stückweise, Tag für Tag den Jammer mit anzusehen, wie nämlich meine junge Gräfin weder ißt, noch trinkt, noch schläft, als wollte sie sich selber muthwillig unter die Erde bringen; denn wohl heißt es: sage mir, wie Du lebst, und ich sage Dir, wie Du stirbst, und daß es so nicht lange fortgeht und mein armer Engel entweder seinen letzten Athem aushaucht, oder zuletzt wirklich noch toll und wahnsinnig wird, das begreift Jeder, der sie kennt und sieht, und auch wohl Er, der an Allem schuld ist, und der’s wohl so haben will, sonst würde er sich endlich erbarmen. Darum, meine liebe gnädige Frau Gräfin, wenn Ihr Eure Tochter retten wollt‘ – habt Ihr das? – nun kommt erst die Hauptsache. Aber, die weiß ich selbst noch nicht. Denn, wenn ich auch schreibe, die Eltern sollen kommen und meine junge Gräfin aus dem Castell mit sich fortnehmen, wird sie selbst auch mit wollen? Denn Ihr müßt wissen, Herr Capitän, sie spricht nur von Büßen und Sterben, und daß sie die Welt nie wiedersehen wolle, armes Herzchen! und daß sie nichts auf Erden mehr freuen könne. Ach, Er hat es schon erreicht, der Erbarmungslose, daß eine Schwermüthigkeit
- ↑ Verkleinerung von Barbara im mailändischen Dialekt.
verschiedene: Die Gartenlaube (1866). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1866, Seite 778. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1866)_778.jpg&oldid=- (Version vom 12.12.2020)