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Erinnerungen an Ledru-Rollin

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Textdaten
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Autor: Karl Blind
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Titel: Erinnerungen an Ledru-Rollin
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 9–10, S. 148–151, 160–164
Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1875
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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[148]
Erinnerungen an Ledru-Rollin.
Von Karl Blind.


In die erschütternden Ereignisse von 1848, aus denen sich die Geschichte des letzten Vierteljahrhunderts in schicksalsvoller Verkettung entwickelt hat, haben wenige Männer bedeutungsvoller eingegriffen als Ledru-Rollin, einer der hervorragendsten Führer der zweiten französischen Republik. Die näher mit den verborgenen Triebfedern der Ereignisse bekannt sind, schreiben sogar seinem Auftreten die eigentliche Entscheidung zu.

Als im Februar jenes Jahres die Straßen von Paris mit Barricaden bedeckt waren und Ludwig Philipp in Verkleidung, unter dem Namen „Mr. Smith“, nach England floh, blieb die Herzogin von Orleans, eine deutsche Prinzessin von Geburt, mit dem Herzoge von Nemours in Paris zurück, um einen letzten Versuch zur Rettung des Thrones zu machen. Im Abgeordnetenhause erschien sie unter dem Schutze der Herren Odilon-Barrot und Cremieux. Der erstgenannte liberale Vertreter, mit feierlicher Miene sich erhebend, führte sie mit den auf Rührung berechneten Worten ein: – „Die Juli-Krone ruht jetzt auf dem Haupte einer Frau und eines Kindes.“ Beifallsrufe begrüßten diese Aeußerung von den Bänken der Mittelpartei in der Versammlung.

Darauf erhob sich die Herzogin. Mit einer von Bewegung erstickten Stimme vermochte sie jedoch in kaum hörbarem Flüstern nur die Worte vorzubringen: „Meine Herren! mein Sohn und ich sind hierher gekommen …“, als sie, von dem um sie wogenden Lärm erschreckt, sich in Verzweiflung wieder niederließ. Dann folgten Auftritte wilden Getümmels. Das bewaffnete Volk brach in die Hallen der Versammlung. Rufe wurden laut: „Hoch lebe die Freiheit! Nieder mit den Halben! Nieder mit der Regentschaft!“

Noch war indessen Nichts entschieden. Zweifel über den schließlichen Ausgang der Erhebung beherrschten noch die Gemüther. In diesem Augenblick erschien Ledru-Rollin, bis dahin der Sprecher der äußersten Linken, in Begleitung eines Hauptmanns der Bürgerwehr, der keck eine Fahne, welche er trug, auf dem marmornen Gesims der Rednerbühne aufpflanzte und in Donnerworten der Versammlung zurief: „Die Macht der Kammer ist zu Ende: Vierzigtausend Bewaffnete umringen den Palast.“ Inmitten der daraus entstandenen Betäubung gelang es Ledru-Rollin’s Stentorstimme, die sofortige Errichtung einer provisorischen Regierung zu verlangen – „ernannt nicht durch die Kammern, sondern durch das Volk.“

Ihm folgte Lamartine, dessen erste Worte die Hoffnungen Derer wieder zu beleben schienen, welche eine Regentschaft erstrebten. Zu ihrem Schreck sprach sich jedoch auch Lamartine für Ledru-Rollin’s revolutionären Vorschlag aus. Von da an war die Ausrufung des Freistaates nur noch eine Frage der Stunden. Lamartine, der noch wenige Jahre vorher die Ansprüche der Herzogin von Orleans beredt vertheidigt hatte, Lamartine, der nicht an den radicalen Reform-Banketen theilgenommen, und „dessen aristokratische Natur“, wie Daniel Stern (Gräfin d’Agoult) in ihrer Geschichte der Umwälzung von 1848 sagt, „vor Handlungen volksmäßiger Gewaltthätigkeit zurückschreckte“: Lamartine im Bunde mit Ledru-Rollin! – das war der Gnadenstoß für das Haus Orleans.

Diejenigen, welche sich über das Zusammenwirken von zwei [149] Männern so verschiedenartigen politischen Charakters wunderten, wußten allerdings nicht, daß am Morgen des entscheidenden Tages, welcher der Ausgangspunkt für eine Reihe festländischer Revolutionen werden sollte, Ledru-Rollin alle seine Ueberredungsgabe bei Lamartine zu Gunsten der republikanischen Sache angewandt, ihn bestürmt, gebeten, ihm im Namen der Massen die Hauptstellung in der neu zu schaffenden Regierung angeboten, und ihn schließlich überzeugt und für sich gewonnen hatte. Diese Thatsache habe ich aus Ledru-Rollin’s eigenem Munde. Sie erklärt zum großen Theil den sogenannten Edelmuth, den Lamartine im Mai 1848 vor der reactionärgesinnten Versammlung zeigte, als er darauf bestand, daß Ledru-Rollin’s Name auf die Liste der Mitglieder des Vollzugs-Ausschusses gesetzt werde. Lamartine erinnerte sich dabei einfach, daß seine eigene Stellung im Februar 1848 wesentlich durch Ledru-Rollin geschaffen worden war.

In der provisorischen Regierung nahm Ledru-Rollin den Posten als Minister des Innern ein. Als solcher entwickelte er bedeutende Thätigkeit. Louis Blanc, dessen sozialistische Richtung von der mehr jakobinischen seines Amtsgenossen einigermaßen abwich, sagt in seinen „Geschichtlichen Enthüllungen“, Ledru-Rollin sei ausnehmend für die ihm obliegende Pflicht tauglich gewesen, nämlich für die Betreibung der republikanischen Propaganda. „Schneller und durchdringender Geist, politische Thatkraft, durch eine offene und gewinnende Manier gemäßigt, ein glühender Wunsch, den Sieg des Freistaates zu sichern, in Verbindung mit einer rednerischen Fähigkeit der höchsten Art: solches waren die Eigenschaften, welche Ledru-Rollin zur Ausführung seiner Aufgabe mit sich brachte, und diese Eigenschaften waren bei ihm erhöht durch ein edel geformtes Antlitz, eine stattliche Figur, und einen gewissen magnetischen Einfluß, der, wenn er sprach, von seinen Geberden auszuströmen schien.“ Louis Blanc beschreibt Ledru-Rollin ferner als „eine wirklich künstlerische Natur, vertrauensvoll, edelmüthig, fähig einem Feinde mit freier Würde entgegenzutreten, aber nicht einen Freund zu beleidigen, und gerade deswegen unfähig, dem Einflusse derjenigen in seiner Umgebung zu widerstehen, die in ihren Abneigungen nicht immer gerecht oder aufgeklärt waren.“

Andererseits scheut sich Lord Normanby nicht, in seinem mehr als oberflächlichen Buche, das so viele gehässige und falsche Anklagen enthält, Ledru-Rollin als einen „echten Pöbelredner, von ruinirtem Vermögenszustande“, darzustellen. Die Wahrheit ist, daß er einer der ausgezeichnetsten, bestunterrichteten und redegewandtesten Anwälte war, ein Rechtskundiger von Bedeutung, und daß er in der Kammer großen Eindruck gemacht hatte, trotz der lärmenden Kundgebungen seiner Widersacher. Was seinen „ruinirten Vermögenszustand“ betrifft, so ist dies eine lächerlich falsche Angabe. Gleich Barbès war Ledru-Rollin im Gegentheil von nicht gewöhnlicher Wohlhabenheit. Durch die Ereignisse von 1848 bis 1849 erlitt er Einbußen; in der Verbannung lebte er einige Jahre in bescheidenen, doch keineswegs etwa beengten oder gar dürftigen Verhältnissen. Später ordnete sich Alles wieder: er bewohnte dann in Saint John’s Wood, in London, eines der Häuser ersten Ranges. Dabei besaß er eine Anzahl Häuser in Paris, einen Landsitz in Fontenay-aux-Roses und Güter in der Provinz, was Alles noch im Besitze seiner Wittwe ist, von der das Meiste herstammt.

Louis Blanc schreibt darüber in dem ausgezogenen Werke: „Herr Ledru-Rollin war reich, als die Revolution ausbrach. Von persönlichem Gesichtspunkte aus hatte er nichts dabei zu gewinnen; im Gegentheil, er hatte Alles zu verlieren. Irgendwelcher Gedanke an die Störung, welche ein so gewaltsamer Umschwung im Staate auf seine Vermögensumstände ausüben konnte, veranlaßte ihn jedoch keinen Augenblick zu zögern.“ Und weiter sagt Louis Blanc: „Lord Normanby ist ein romanhafter Schriftsteller; aber ich möchte ihm bedeuten, daß der Beweis, oder der Mangel an Beweis, welcher für eine Novelle genügt, nicht genügend ist für ein geschichtliches Werk.“

In einigen nach seinem Tode veröffentlichten Darstellungen ist Ledru-Rollin’s Bild andererseits durch eine ganz außerordentliche Verwirrung der Thatsachen in’s Schwanken gebracht worden. Es wurde unter Anderem gesagt, er sei in Folge der blutigen Juni-Erhebung des Jahres 1848 verbannt worden, und auf fremdem Boden habe ihn wohl der Gedanke gequält, daß auf ihm zum Theil die Verantwortlichkeit für den Sieg des Zweiten Kaiserreichs ruhe. Beide Angaben könnten nicht falscher gedacht werden. Weit entfernt, in den Aufstand vom 23. bis 26. Juni 1848 verwickelt gewesen zu sein, traf er mit Cavaignac, Garnier-Pagès und Arago die Maßregeln zur Bekämpfung der Aufständischen, die zwar unter proletarischem Banner sich erhoben hatten, aber insgeheim durch royalistische und bonapartistische Sendlinge aufgestachelt, da und dort sogar von ihnen geführt waren. Unverwerfliches Zeugniß für diese Thatsache ist in den Schriften eines entschiedenen Republikaners, Victor Schoelcher’s, und eines social-demokratischen Führers, Louis Blanc’s enthalten. In den „Geschichtlichen Enthüllungen“ Louis Blanc’s kann man sogar einen Brief lesen, welchen Ludwig Napoleon von London aus an den General Rapatel vor Beginn jener Schreckensereignisse schrieb, um den Aufstand wo möglich für sich auszubeuten.

Was die angebliche Verantwortlichkeit Ledru-Rollin’s für den Sieg des Zweiten Kaiserreichs betrifft, so ist diese Behauptung so thöricht, wie sie nur sein kann. In Gemeinschaft mit Lamartine sah gerade er die Absichten des Napoleoniden klar voraus, ehe dieser noch 1848 den Fuß auf den Boden Frankreichs gesetzt hatte. Zusammen mit Lamartine, der, wie man auch sonst über ihn denken mag, in diesem Punkte richtig handelte, widerstand Ledru-Rollin mit aller Kraft der Aufhebung des Beschlusses, durch welchen Ludwig Napoleon an der Rückkehr verhindert war. Louis Blanc befürwortete damals aus verkehrtem Edelsinn die Aufhebung dieses Beschlusses. Er stimmte, wenn auch aus ganz anderen Gründen, mit der Mehrheit der National-Versammlung, welche insgeheim sich mit der Absicht trug, den Namen „Napoleon“ gegen die Republik zu verwerthen, jedoch das Werkzeug, nach gemachtem Gebrauche, wieder zur Seite zu werfen. Man weiß, wie diese seine politische Berechnung gelang. Ohne Zweifel hielt Louis Blanc selbst den Napoleoniden damals nicht für gefährlich. In der Verbannung, in England, nachdem der Decemberheld mittlerweile den Kaisermantel um die Schultern geworfen, zeigte mir Louis Blanc die Schrift „Ueber die Abschaffung des Pauperismus“, welche der Gefangene von Ham einst verfaßt. Die Schrift trug auf dem ersten Blatte, von Ludwig Napoleon’s eigener Hand, die Worte:

„A Louis Blanc, souvenir d'estime et d’amitié, de la part de l’auteur.
N.-L. B.“

Ledru-Rollin und Lamartine gelang es als Mitgliedern des Vollzugs-Ausschusses nicht, die Rückkehr Ludwig Napoleon’s zu verhindern. Am 13. Juni 1849 setzte indessen Ledru-Rollin Alles auf’s Spiel und opferte seine ganze Stellung, um den Sturz Napoleon’s zu erwirken. Daß der Versuch fehlschlug, war nicht seine Schuld. Jedenfalls hatte er die persönliche Genugthuung, sein Möglichstes gethan zu haben, um gerade die Wiederherstellung des Kaiserreichs zu hintertreiben.




Es war Ende Mai 1849, daß ich zum ersten Male mit Ledru-Rollin in Paris zusammentraf. Die deutsche Revolution hatte damals gerade einen neuen Anstoß erhalten. Ungarn stand in Waffen gegen das Haus Habsburg. Auf italienischem Boden war der Kampf noch nicht ausgetragen; der Papst war ein Flüchtling, Rom eine Republik.

Mit einem Mitgliede der Nationalversammlung, Dr. Friedrich Schütz, war ich im Laufe dieser Ereignisse in einer Sendung nach Paris gegangen, im Auftrage der Volksregierungen von Baden und Pfalz. Die Beglaubigungsbriefe lauteten, der Form nach, an den Präsidenten der französischen Republik. Bereits erwartete man jedoch den Ausbruch einer Bewegung, welche den Sturz Ludwig Napoleon’s herbeiführen sollte, der sich durch seinen bewaffneten Angriff auf die Unabhängigkeit Roms einer groben Verfassungsverletzung schuldig gemacht hatte. Man nahm an, daß in solchem Falle ein Verfahren auf Hochverrath gegen den treulosen obersten Beamten des Freistaates eingeleitet und daß der Führer der Bergpartei in der gesetzgebenden Versammlung zur Bildung einer neuen Regierung berufen werden würde. Da neue revolutionäre Bewegungen unfehlbar eine Rückwirkung auf Deutschland üben mußten, so lag es nahe, mit den hervorragendsten republikanischen Führern Frankreichs in Berührung zu treten. Nachdem wir einen Brief an Drouyn de [150] Lhuys, den damaligen Minister des Auswärtigen, abgefertigt, galt daher einer unserer ersten Besuche Ledru-Rollin.

Er war damals in voller Manneskraft, von ausdrucksvollem Aeußeren; seine Gesundheit schien jedoch durch die unablässigen Aufregungen eines Revolutionsjahres etwas gelitten zu haben. Aufmerksam hörte er den Einzelheiten über die neue deutsche Erhebung zu, welche eine Hoffnung zuließe, daß der freigesinnte, festgebliebene Theil des deutschen Parlaments die Zügel der Macht werde ergreifen können. Ein brüderliches Verhältniß zwischen Deutschland und Frankreich war die Losung – unter dem klaren Bedeuten, daß keinerlei Versuch gemacht werde, Fragen über Veränderungen der Grenzen anzuregen. Gegenüber jener chauvinistischen Demokratie Frankreichs, welche stets „Zerreißung der Verträge von 1815“ forderte und Lamartine angegriffen hatte, weil er ihr darin widerstand, war ein deutliches Auftreten in dieser Sache entschieden rathsam.

Die deutschen und die italienischen Angelegenheiten drängten damals gleichzeitig einer Lösung zu. Frankreichs Verfassung besagte im Absatz 5 des Eingangs: – „Die französische Republik achtet fremdes Volksthum, wie sie ihr eigenes zu vertheidigen entschlossen ist. Sie wendet ihre Streitkräfte nie gegen die Freiheit irgend eines Volkes an.“ Im Widerspruch mit diesem Gesetz war ein französisches Heer auf römisches Gebiet gesandt worden; zuerst unter der heuchlerischen Angabe, dasselbe sei bestimmt, die italienische Sache gegen eine mögliche Erscheinung Oesterreichs oder des neapolitanischen Bourbon’s zu schützen. Die ministeriellen Blätter der Herren Drouyn de Lhuys und Odilon-Barrot flossen denn auch über von Freundschaftserklärungen zu Gunsten der Römer. Noch am 16. April hatte Herr Odilon-Barrot gesagt: „Wir wollen Frankreich nicht zum Mitschuldigen eines Umsturzes der römischen Republik machen.“

Plötzlich ließ man jedoch die Maske fallen. Herr von Lesseps, der bis dahin als diplomatischer Unterhändler benutzt worden war, um die unter der Regierung von Mazzini, Sassi und Armellini stehende Republik in Sicherheit zu wiegen, erhielt seine Abberufung. General Oudinot marschirte auf Rom – die Geschütze brüllten ein Evangelium, das nicht das der Brüderlichkeit, sondern der ingrimmigsten Feindschaft war. Die Wiedereinsetzung der weltlichen Macht des Papstes durch französische Waffen war nun der augenscheinliche Zweck.

Die römische Republik war in jenen Tagen durch den obersten Frapolli zu Paris vertreten, die ungarische Regierung Kossuth's durch die Grafen Pulszky und Ladislaus Teleki. Für alle Völker, die noch an ihrer neuerrungenen Freiheit festhielten, war es eine Lebensfrage, ob der reactionäre Feldzug gegen Rom gelingen werde; denn in diesem Falle mußte, nach dem bekannten Ausspruche und Wunsche des Grafen Montalembert, ein „Feldzug im Innern“ in Frankreich selbst folgen, wovon die Rückwirkung auf Europa im Allgemeinen nicht ausbleiben konnte. Inmitten dieser Spannung sammelten sich die Hoffnungen der Demokratie um Ledru-Rollin. Im December des vorhergegangenen Jahres war sein Name als der dritte (nach Ludwig Napoleon und Cavaignac) unter den Bewerbern um das Präsidentschaftsamt aus der Wahlurne hervorgegangen. Als Abgeordneter für die gesetzgebende Versammlung hatte er aus einer Anzahl Departements eine Million Stimmen erhalten. Die öffentliche Meinung selbst hatte ihn somit als den Rächer der verletzten Verfassung bezeichnet.

Durch den Verkehr mit ihm und anderen Oppositions-Mitgliedern, wie Savoye, Pascal Duprat, Beyer, erfuhren wir bald, wohin die Strömung trieb. Gesetzliche Abhülfe mittelst parlamentarischen Beschlusses war wohl Ledru-Rollin’s innerster Wunsch. Aber die Hartnäckigkeit und die Verblendung der heimlichen Royalisten, welche sich immer noch mit dem Gedanken trugen, Napoleon für ihre eigenen Zwecke benutzen zu können, ließ keine Aussicht auf eine solche Lösung zu. Vergebens bemühte sich der republikanische Führer, durch die gewaltige Beredsamkeit seiner Worte die Versammlung umzustimmen. Die Mehrheit schlug seinen Rath in den Wind.

Die Frage entstand nun, ob nicht ein gesetzlicher Fall für Herbeiführung einer jener Massenkundgebungen eingetreten sei, bei denen es oft an einem Haare hängt, ob sie nicht zum gewaltsamen Zusammenstoße führen. Abschnitt 8 der Verfassung lautete so: – „Die Bürger haben das Recht, sich in Vereine zusammenzuschließen, Gesuche zu stellen, sich friedlich und ohne Waffen zu versammeln.“ Abschnitt 109: – „Die Nationalversammlung vertraut die Sicherheit der gegenwärtigen Verfassung und der in ihr enthaltenen Rechte dem Schutze und der Vaterlandsliebe aller Franzosen an.“ Absatz 7 des Eingangs: – „Der Bürger soll sein Vaterland lieben, der Republik dienen, sie selbst um den Preis seines Blutes vertheidigen.“

Auf Grund dieser Verfassungsbestimmungen erfolgte die Kundgebung vom 13. Juni 1849, welche eine zwanzigjährige Verbannung Ledru-Rollin’s zur Folge hatte. Ich will nicht in alle Einzelheiten jenes bedeutungsvollen Tages eintreten, sondern nur das Wesentliche hervorheben. Nachdem die Gesetzgebende Versammlung Ledru-Rollin’s Antrag, der auf Rückberufung des französischen Heeres und In-Anklagestand-Versetzung der Regierung Ludwig Napoleon’s abzielte, verworfen hatte, traten Ledru-Rollin und eine Anzahl Mitglieder der Bergpartei im „Museum der Künste und Gewerbe“ zusammen. Mittlerweile zog eine ungeheure, aber ordnungsmäßig in Reih und Glied marschirende Menschenmenge die Boulevards entlang nach dem Parlamentspalaste. Eine Anzahl Bürgerwehrmänner befand sich darunter im Wehrkleide, aber unbewaffnet. „Es lebe die Verfassung!“ „Es lebe die römische Republik!“ waren die einzigen Rufe, die ich hörte.

Es war eine tief eindrucksvolle Kundgebung. Ihre Feierlichkeit wurde durch den Umstand erhöht, daß nicht weniger als sieben Leichenzüge in den auf die Boulevards mündenden Straßen warten mußten, um nicht den Marsch der begeisterten Volksschaaren zu unterbrechen. Paris war in jenen Tagen von den Schrecken der Cholera durchwüthet. Am Morgen des 13. Juni hatte ich selbst, in rascher Reihenfolge, die Nachricht von so vielen Todesfällen in nächster Umgebung, unter Anderen von Männern, die eine Unterredung angekündigt hatten, empfangen, daß mir die Verheerungen der Pest nahe genug traten. Während der schwarze Tod so die Sichel schwang, gingen die Bürger einher, um die Verfassung zu schützen. Der tausendstimmige Gesang der „Marseillaise“ und der „Girondins“ stieg aus den Reihen empor, um welche die zu den Gräbern Wallfahrenden eine düstere Einfassung bildeten. Doch nicht Leichenzüge allein warteten in den Seitenstraßen. Auch Changarnier's Truppen standen dort, bereit, über gesetzestreue Bürger herzufallen.

Ich war an der Rue de la Paix, nahe der Madelainekirche, anwesend, als die Reiterei plötzlich aus dieser Straße heraus ihren Ansturm machte. Ein paar Sicherheitsbeamte, in dreieckigem Hut und mit blinkendem Degen, stürzten voran; doch ohne die gesetzliche Aufforderung zum Auseinandergehen zu geben. Dies kann ich mit Bestimmtheit bezeugen. Seitwärts springend, ließen diese Polizeibeamten sofort die Reiterei und das Fußvolk eine wehrlose Menge mit dem Säbel und dem Bajonnet auseinandertreiben. Die Reihen der Volksmenge waren in einem Nu durchbrochen; viele retteten sich mit Mühe vor den Hufen der Rosse. Einige Schreie: „Zu den Barricaden!“ hatten keine Folge. Manche sprangen in Verzweiflung über die Mauer, welche die Boulevards in der Nähe der Rue de la Paix einfaßt. Etienne Arago brach dabei das Bein. In einem Augenblicke waren die Fensterläden aller umliegenden Häuser geschlossen, die Thüren verriegelt. Jeder in den Straßen Befindliche war in äußerster persönlicher Gefahr.

Ich sah den Vorgang bis zu Ende. Nachdem die Boulevards von den Truppen „gesäubert“ waren, begegnete ich zufällig dem elsässischen Abgeordneten Herrn Beyer, der aus dem „Museum der Künste und Gewerbe“ kam, um sich über den Stand der Dinge zu erkundigen. Ich sagte ihm, daß Alles vorüber sei. Mit Alexander Herzen, dem russischen Schriftsteller, den ich bald darauf traf, verließ ich dann den Schauplatz des Ereignisses, um über die zerstörten republikanischen Hoffnungen nachzudenken.

Unterdessen waren auch an dem Orte, wo Ledru-Rollin und seine Freunde sich versammelt hatten, die Truppen eingedrungen. Einen Augenblick schwebten die umzingelten Volksvertreter in Gefahr, ohne Weiteres niedergeschossen zu werden. Ein Befehl war mißverstanden worden. Soldaten hatten die Gewehre bereits auf Ledru-Rollin und die anderen Mitglieder der Bergpartei angelegt. Endlich gelang es doch den Oppositionführern, das Gebäude zu verlassen, ohne zu Gefangenen gemacht zu werden. Daß Ledru-Rollin, wie seine Verleumder sagen, sich [151] durch die schmale Oeffnung eines Fensterchens gerettet habe, ist unwahr, und sogar abgeschmackt unwahr, da dies bei seiner Körperbreite geradezu eine Unmöglichkeit gewesen wäre. Mit Victor Considerant, dem socialistischen Führer, ging er vielmehr ruhig von dannen, war einen Monat lang in einer niedrigen Dachwohnung versteckt, wo er kaum aufrecht stehen konnte und, wie er mir später erzählte, aus Mangel an Bewegung unsäglich litt, bis es ihm gelang, Paris und Frankreich insgeheim zu verlassen. Er begab sich nach Belgien und von da nach England.

An den Straßenecken von Paris fand ich am 14. Juni die Anschläge, welche den Belagerungszustand der Stadt ankündigten. In dem Ausschusse der Nationalversammlung, welcher den Belagerungszustand beantragte, saß Victor Hugo, damals noch Mitglied eines conservativen Vereins und Gegner der entschiedenen Republikaner. Auch er stimmte für Verhängung des Belagerungszustandes. Seine Umkehr zu der Partei, der er jetzt angehört, erfolgte bekanntlich erst Ende 1850.

Als einer der Beauftragten der Regierungen von Baden-Pfalz hielt ich es für meine Pflicht, trotz anscheinender Gefahr in Paris zu bleiben. Dem Völkerrechte zuwider, wurde ich verhaftet, in die Conciergerie und von da nach La Force abgeführt, und in den gegen die Bergpartei angestrengten Staatsproceß verwickelt. Mein an den Minister des Auswärtigen gerichtetes Verwahrungsschreiben blieb ohne Erfolg. Die Linke der Nationalversammlung brachte endlich durch Herrn Savoye die ganze badisch-pfälzische Angelegenheit zur Verhandlung; bei diesem Anlasse gab Herr von Tocqueville, der unterdessen die Stellung als Minister des Auswärtigen eingenommen, eine Erklärung ab, welche ein scharfes Schlaglicht auf die späteren französischen Rheingrenzpläne wirft, wie sie im Kriege von 1870 zu Tage traten.

Herr von Tocqueville hatte vor der Nationalversammlung einen Völkerrechtsbruch zu rechtfertigen. Er versuchte dies zuerst durch die Behauptung, ich sei nicht in der Eigenschaft eines Bevollmächtigen, sondern als Mitverschwörer des 13. Juni verhaftet worden. Da diese in jeder Beziehung unstichhaltige Angabe durch stürmische Gegenrufe bestritten wurde, griff der Minister zu einem Mittel, von dem er glaubte annehmen zu können, daß es unbedingt ziehen werde. „Hat man denn,“ rief er aus, „die Vergangenheit so weit vergessen, daß man nicht mehr weiß, daß die Partei, welche in Baden und der Pfalz triumphirte, dieselbe ist, die seit zehn Jahren die wüthendste, unversöhnlichste Feindschaft gegen Frankreich hegt?“ (Zwischenrufe zur Linken: „Gegen die französische Regierung!“ – Der Vorsitzende: „Aber lassen Sie doch das französische Interesse vertheidigen!“) … „Das ist ja dieselbe Partei, die durch ihre Schriften, durch ihre Drohungen sich immer mit der größten, mit der bittersten Entschiedenheit gegen das Streben des französischen Volkes, sich bis an den Rhein hin auszudehnen, erhoben hat. Das, meine Herren, ist die Partei, die den Kern des Aufstandes in Baden und Rheinbaiern bildet.“

Nach dreitägiger Verhandlung ging die Versammlung zur Tagesordnung über. Graf Tocqueville's Rheingrenzrede hatte ihre Wirkung erzielt; ich mußte auch ferner als Staatsgefangener in La Force verweilen.

Mittlerweile hatten die preußischen Truppen die Rheinpfalz und den größeren Theil von Baden unterworfen. Mit der Auslieferung bedroht, wenn ich nicht erkläre, daß die Botschaft, als deren Mitglied ich nach Paris gegangen war, rechtlich zu bestehen aufgehört habe, verweigerte ich, diese Erklärung abzugeben, und wurde eine Zeitlang unter der Drohung im Gefängnisse gehalten, daß ich auf die Kehler Brücke gebracht werden solle, jenseits deren so mancher Freund bereits das Leben ausgehaucht hatte. Schließlich wurde ich indessen aus der Haft entlassen, nachdem mir das Ehrenwort abverlangt worden, daß ich mich nicht in die Schweiz, wohin ich zu gehen gewünscht, sondern nach England verfügen würde. Mit der Entlassung aus der Haft erfolgte gleichzeitig die Verbannung aus Frankreich, und zwar – „für immer“.

In späteren Jahren traf ich mit Ledru-Rollin wieder auf dem Boden Englands zusammen, wo er von 1849 bis 1870 ohne Unterbrechung weilte. Da meine eigenen Lebensschicksale, so weit Frankreich dabei in’s Spiel kam, mit den seinigen so eng verflochten waren, so ergab sich ein natürlicher Berührungspunkt, der bald noch gestärkt wurde durch die gemeinsame Freundschaft mit Mazzini, um dessen willen der französische Führer seine ganze Stellung hatte opfern müssen.

Ich rechne die Stunden, welche ich und die Meinigen während einer Reihe von Jahren in Gesellschaft Ledru-Rollin’s zubrachten, zu den angenehmsten unseres Lebens. Der Reiz des Verkehrs war erhöht durch seine hochbegabte und liebenswürdige Gemahlin, deren Kenntniß deutscher Literatur und einiger Wissenszweige, die mir besonders nahe liegen, keine gewöhnliche ist. Dabei ließ die Festigkeit ihrer politischen Gesinnung sie gern an der Unterhaltung über Freiheitsfragen theilnehmen. Sowohl Ledru-Rollin wie seine Gattin war überdies der Beschäftigung mit philosophischen Fragen zugeneigt. Mit Naturwissenschaften, besonders mit der Sternkunde, gab er sich in letzter Zeit vorzugsweise gern ab. Ueber diese Gegenstände sprach er mit einem Redeflusse und einer Begeisterung, welche von der Lebendigkeit seiner Aeußerungen über Staatsangelegenheiten kaum übertroffen wurde. Der durch den Mangel an öffentlicher Thätigkeit zurückgehaltene Strom der Beredsamkeit brach bei solchen Anlässen oft mit einer Gewalt durch, welche das friedliche Zimmer plötzlich in einen Parlamentssaal zu verwandeln schien.

[160] Mehr als zwanzig Jahre hindurch in London wohnend, blieb Ledru-Rollin der politischen, literarischen und wissenschaftlichen Welt Englands gänzlich unbekannt. Wohlhabend, von feingebildetem Geschmacke, kinderlos, dabei in vollkommener Muße lebend, hielt er sich in gänzlicher Zurückgezogenheit. Von „Engländern“, wenn man so sagen darf, sah er in letzter Zeit nur eine irische und eine schottische Familie. Er schien förmlich zurückzufliehen vor der Berührung mit Allem, was wirklich Englisch war. Der ganze gesellschaftliche und politische Luftkreis des Landes behagte ihm nicht. So kam es, daß er höchstens mit dem Einen oder dem Anderen Verkehr pflog, der gewissermaßen einer widerhaarigen oder halb widerhaarigen Nationalität des britischen Reiches angehörte. Die Iren und die Schotten sind aus alter Zeit her Freunde der Franzosen gewesen. In diesem Punkte war Ledru-Rollin Franzose über die Maßen.

Ein paar französische und zwei deutsche Freunde, und von Italienern Mazzini bildeten, nachdem der Verkehr mit Kossuth abgebrochen war, seinen Umgang. Ab und zu kam noch etwa ein Pole, der dem italienischen Führer als Sendling [161] diente. So hielt Ledru-Rollin es wenigstens in den letzten fünfzehn Jahren; die paar ersten seines Hierseins waren etwas bewegter gewesen. Als nächste Nachbarn, nur durch eine Straße getrennt, sahen wir uns am häufigsten und kamen auch wiederholt im Sommer an Seebadeorten zusammen. Oft war es mein Bemühen, bei dem Manne, der eine so hohe Begabung, einen so freien Blick und für die Volkspartei seines Landes eine so große Bedeutung hatte, eine Umstimmung in Bezug auf England anzubahnen. Vergebens! Selbst die englische Sprache war ihm zuwider, und er hat sie nie bemeistert, obwohl seine Gattin, die theils spanischer oder baskischer, theils irischer Abkunft ist, sie gleich einer Eingeborenen redet.

Das Buch „Von dem Niedergange Englands“ („De la Décadence de l'Angleterre“) war es, was ihn sofort in feindliche Berührung zu dem Lande gesetzt hatte, in welchem er als Flüchtling Schutz gesucht. Es war ein bedauerlicher Irrthum des etwas heißblütigen Volkstribuns, der das Werk verfaßte, nachdem er kaum einige Monate in England verweilt!


Ledru-Rollin.
Nach einer Photographie.


Die Gegenkritik ließ englischerseits nicht auf sich warten. Daraus entstand dann bei ihm eine Verbitterung gegen England, welche ihn nur allzu oft zum härtesten Urtheile veranlaßte.

Die kleine Londoner Zeitschrift „Le Proscrit“, an welcher er in Gemeinschaft mit namhaften Gesinnungsgenossen verschiedener Nationalität nach 1849 betheiligt war, ging bald ein. Der „Central-Europäische demokratische Ausschuß“, in welchem er Frankreich vertrat, löste sich nach kurzer Thätigkeit ebenfalls auf. Dann folgte bei Ledru-Rollin eine lange Ruhepause. Sein Name trat in den Hintergrund; höchstens zerrte die französische Polizei denselben hervor, indem sie ab und zu den ruhig lebenden Verbannten fälschlicher Weise in eine Verschwörung gegen das Leben Ludwig Napoleon’s verwickelte. Man wußte, wie Ledru-Rollin in dieser Sache dachte. Da jedoch keine That und kein Beweis vorlagen, die als Inzichten hätten dienen können, so erfand man solche. Auf Grund falscher Anklagen und Verurtheilungen schloß man ihn von jeder Amnestie aus. Sogar ein Auslieferungsgesuch wurde, wie mir aus bester Quelle bekannt, bei einem dieser Anlässe von der französischen Regierung hier übergeben. Es war in der Blüthezeit der Freundschaft Englands mit „unserem erlauchten Verbündeten“, wie Napoleon der Dritte damals hieß. Palmerston versuchte sein Möglichstes, um diesem „erlauchten Verbündeten“, dessen Staatsstreich er auf eigene Faust anerkannt hatte, in Bezug auf die Flüchtlinge dienend entgegen zu kommen. Die Gefahr schien nicht gering, daß Ledru-Rollin zum Opfer fallen werde.

Keine Londoner Zeitung nahm sich seiner an. Mit der einzigen Ausnahme eines radicalen Blattes war die gesammte Tagespresse damals von bitterster Feindschaft gegen die Demokratie erfüllt. Glücklicher Weise hatte das Haupt des Cabinetes alle Ursache, sich gerade dieses Blatt nicht zum Gegner zu machen. Mir gelang es, die Vertheidigung Ledru-Rollin’s darin auf’s Entschiedenste zu führen und die öffentliche Meinung zur Aufrechthaltung des alten, den Verbannten aller Parteien gewährten Schutzes zurückzurufen. Ledru-Rollin sprach dafür seinen innigsten, wärmsten Dank aus: die Auslieferung wäre für ihn gleichbedeutend mit dem Tode gewesen.

Wie ich später erfuhr, war die von Napoleon geforderte Auslieferung im englischen Cabinetsrathe blos mit Einer Stimme Mehrheit abgelehnt worden. –

Von da an verhielt sich Ledru-Rollin wo möglich noch stiller. Wohl gehörte er fortwährend zu dem engeren Kreise der Wenigen, die von den Vorbereitungen für den sicilianischen Aufstand von 1860, wie auch für den polnischen Aufstand von 1863, und später für die spanische Revolution von 1868, lange Zeit vorher unterrichtet waren. Mazzini (nicht Garibaldi, wie man gewöhnlich annimmt) hatte die sicilianische Erhebung geplant. Sechs Wochen nach Ausbruch derselben unter Rosolino Pilo führte Garibaldi durch die Landung der Tausend den Aufstand siegreich bis nach Neapel durch. Ich kann aus persönlicher genauer Kunde bezeugen, daß Mazzini die Erhebung angelegt und daß Mazzini’s Vertraute sie zuerst leiteten. Ledru-Rollin, der ebenfalls von allen Vorbereitungen wußte, hoffte aus dem Siege italienischer Einheit und Freiheit einen Umschwung in Frankreich. Noch erinnere ich mich, wie er, sehnlichst die Nachrichten aus Palermo erwartend, mir eines Tages mit dem Ausrufe entgegenkam: „Die Wochen vergehen. Der Aufstand läßt lange auf sich warten. Sind wir wieder getäuscht?“ Ich sprach ihm Hoffnung zu, und er athmete befriedigt auf.

Der Sturz der neapolitanischen Bourbons gelang; doch am Volturno trat eine Wendung ein, welche die erhoffte revolutionäre Rückwirkung auf Frankreich hintertrieb. Mazzini’s Plan, dem Garibaldi zugestimmt hatte, nach erfolgter Befreiung Süd-Italiens auf Rom loszumarschiren und dorthin eine italienische Nationalversammlung zu berufen, wurde durch den von Napoleon angeregten piemontesischen Einmarsch vereitelt. Garibaldi mußte seine Dictatur niederlegen; Mazzini verließ Neapel. Für die in das innere Getriebe der italienischen Actions-Partei eingeweihten französischen Republikaner war eine Aussicht zunichte geworden.

Jahre vergingen. Ich fand, daß Ledru-Rollin sich allmählich immer mehr in Studien und Kunstgenüsse vertiefte; beim Beginn eines Gespräches liebte er es, an wissenschaftliche, künstlerische oder philosophische Fragen anzuknüpfen. Erst nach und nach, wenn wir längere Zeit darüber geredet, war ein Uebergang zur Politik möglich, deren Besprechung ihn augenscheinlich aufregte. Ein guter Kenner von Gemälden, hatte er seine Wohnung mit den Erzeugnissen manches älteren Meisters geziert und beschäftigte sich viel mit dem Aufsuchen verdunkelter Bilder, deren Ursprung zweifelhaft geworden. Stets war er froh, wenn er uns etwas neu Entdecktes dieser Art wieder zeigen konnte. Nach und nach nahm ihn die Beschäftigung mit diesen Dingen beinahe ausschließlich in Anspruch.

Mit Vorliebe wandte er sich in der Unterhaltung den Fragen über den Urgrund, über Ziel und Zweck der Dinge und über die Bestimmung der Menschen zu. Allen Kirchenglauben, alle priesterschaftlich religiösen Vereinigungen verwarf er mit großer Entschiedenheit. Die Bibelkritik übte er im vollsten Maße. Er huldigte der Geistesrichtung Voltaire’s; die Büste des Philosophen von Ferney zierte seinen Schreibtisch. Gleich Voltaire glaubte er an ein höchstes Wesen und an die Unsterblichkeit der Seele; diese Ansicht verfocht er nicht blos als nothwendige Ergebnisse seines Denkens, sondern mit einer gewissen religiösen Gluth. Er wurde leicht ungeduldig, wenn ihm etwa vom Standpunkte naturwissenschaftlicher Forschung Einwände gemacht oder [162] auch nur Zweifel an der Möglichkeit, solche Fragen überhaupt zu lösen, entgegengehalten wurden. Auf die geringste Gegenbemerkung antwortete er dann mit einer Fluth von Beredsamkeit. An den beiden Hauptlehrsätzen („Gott und Unsterblichkeit“), welche den meisten, obwohl nicht allen Religionen eigen sind, hielt er mit Wärme, sogar mit Heftigkeit fest. Oft erwähnte er, er sei mit einem Werke über den Gegenstand beschäftigt. So viele Jahre sind seitdem verflossen, daß sich ohne Zweifel unter seinen hinterlassenen Papieren eine fertige oder nahezu fertige Abhandlung darüber vorfinden muß.

Abgesehen von seiner Bekanntschaft mit Dem, was sich aus dem Kreise demokratischer Verbannten heraus in Italien, Russisch-Polen und anderwärts gestaltete, verhielt sich Ledru-Rollin als ruhiger Zuschauer. Eine Ausnahme machte er in einem einzigen Falle, bei welchem Frankreich näher in’s Spiel kam. Ich meine den Krieg Napoleon’s gegen die mexicanische Republik.

Als dieses Verbrechen gegen die Unabhängigkeit eines freien Volkes versucht wurde, das später zu Queretaro seine blutige Sühne fand, entstand eine tiefe Bewegung unter denen, welche der politische Schiffbruch von 1848 bis 1849 an Albions Ufer geworfen hatte. Noch war der Sturm der Sclavenhalter-Empörung nicht über die nordamerikanische Union losgebrochen. Aber schon sahen die Weiterblickenden, wie sich auch diese Wetterwolke rasch am Himmel zusammenzog und die Republik der Vereinigten Staaten mit Zerschmetterung bedrohte. Einer Thatsache sei hier erwähnt, welche beweist, mit welchen Plänen Napoleon der Dritte sich damals schon gegenüber Deutschland trug. Mir ist bekannt, daß der Franzosenkaiser im Jahre 1862, mittelst des Ratazzi’schen Cabinets, Italien zur Theilnahme am mexicanischen Kriege veranlassen wollte. War der mexicanische Krieg glücklich beendigt, so sollte ein gemeinsamer Angriff Frankreichs und Italiens gegen Deutschland erfolgen, wobei eine italienische Heeresabtheilung am Rhein mit den Franzosen, eine französische mit den Italienern von Süden her gegen uns zusammenwirken sollte. Für Garibaldi sollte im Orient ein Feld der Thätigkeit geschaffen werden, um Oesterreich zu beschäftigen und abzuziehen. Ueber die näheren Einzelheiten gehe ich hier weg. Nur Das sei gesagt, daß Garibaldi, dem betreffende Eröffnungen gemacht wurden, den ganzen Plan durch den Zug gegen Rom durchkreuzte. Wohl unterlag er bei Aspromonte; allein mit dem neuen französisch-italienischen Bündnisse war es von da an aus. Die mexicanische Republik sowohl, wie die deutsche Nation, schulden ihm daher für die That von 1862 nicht minder Dank, als die Italiener selbst. Dies muß trotz seiner Betheiligung am Kriege von 1870 bis 1871 offen und frei anerkannt werden.

Doch zu Ledru-Rollin zurück! Ihn bewegte es tief, daß, nachdem die römische Republik durch Frankreichs Waffen gefallen war, nun auch der Freistaat Mexico unter französischem Schwerte verbluten sollte. Der Vorschlag, den ich ihm machte, an den Präsidenten Lincoln eine Mittheilung abgehen zu lassen, welche darauf berechnet war, die demokratischen Kräfte Frankreichs gegen die napoleonische Politik in’s Feld zu führen und dadurch Mexico Luft zu verschaffen, fand deshalb bei ihm williges Gehör. Die republikanische Partei war damals in Paris und anderen größeren Städten Frankreichs wieder stark in der Bildung begriffen. Unter dem französischen Heere selbst, das bekanntlich die überseeischen Feldzüge nicht liebt, herrschte tiefe Verstimmung, die sich in einzelnen Fällen bis zur Meuterei steigerte. Bei solcher Lage war es nicht allzu schwer, den bewegenden Hebel anzusetzen. Für die Vereinigten Staaten mußte es von Wichtigkeit sein, der französischen Unternehmung ein baldiges Ende gemacht zu sehen, denn hatte sich einmal ein „Lateinisches Kaiserreich“ am Golf festgesetzt, so war für die Sclavenhalterliga, deren Anfänge sich schon zeigten, ein starker Rückhalt gegeben. Französische Truppen und französische Kriegsschiffe würden dann an der Zerstörung der vierten Republik (nach der Zerstörung der römischen, französischen und mexicanischen) theilgenommen haben.

Ledru-Rollin ließ sich bewegen, zum Zwecke einer Erhebung in Paris neue Anknüpfungen zu machen. Waren genügende Mittel vorhanden, so konnte die Mißstimmung unter den französischen Truppen zu einem Schlage verwerthet werden. Die vertrauliche Zuschrift an den Präsidenten Lincoln, von mir entworfen, trug Ledru-Rollin’s, Mazzini’s und meine Unterschrift. Lincoln wies den ihm entwickelten Plan nicht von der Hand, behielt sich aber die Entscheidung für den äußersten Fall vor. Mittlerweile rangen die Unionsheere mit den Südbündlern. Als ein Augenblick kam, wo jener Plan hätte verwirklicht werden können, fiel der treue Beamte der Republik, unter der Hand von Ravaillac Booth.




In dem Maße, wie in Frankreich die Bewegung gegen die tyrannische December-Herrschaft an Stärke wuchs, erschien es um so wünschenswerther, daß auch im Kreise der verbannten republikanischen Führer jenes Landes größere Einigkeit wieder hergestellt, daß die Trennung zwischen Alt- und Neurepublikanern, zwischen Socialisten und „Blauen“, und wie die inneren Gegensätze alle heißen, endlich aufhöre. Ein Mann von Victor Hugo’s Bedeutung durfte bei einem Einigungsversuche nicht außer Acht gelassen werden, wenn er auch einsam auf seinem Inselfelsen, außerhalb der Strömungen Londons, saß. Ledru-Rollin konnte sich, als Hugo vor Jahren bei ihm hatte vorsprechen wollen, leider nicht überwinden, ihn zu sehen. „Der Geächtete,“ sagte er, „hat mit dem Aechter nichts zu thun.“ Dies bezog sich auf Victor Hugo’s Theilnahme an dem Beschlusse, durch welchen nach dem 13. Juni 1849 der Belagerungszustand über Frankreich verhängt wurde.

Louis Blanc, der socialistische Arbeiterführer Greppo und Andere, mit denen ich befreundet oder bekannt war, zeigten sich zur Einigung willig und beabsichtigten, von Zeit zu Zeit durch eine gemeinsam unterzeichnete Druckschrift die Versöhnung aller republikanischen Parteibruchtheile zu beweisen. Leider gelang es nicht, Ledru-Rollin, dem ich auf den Wunsch der französischen Freunde den Gedanken mittheilte, zum Beitritte zu bewegen. Bei zufälliger Begegnung von Louis Blanc und ihm in meinem Hause sah ich indessen mit Freude, daß die Spuren früherer Mißverständnisse in der Wärme des persönlichen Verkehrs rasch schwanden. Eine leicht bewegliche Natur, gab Ledru-Rollin sich bei solchen Anlässen auf’s Liebenswürdigste. Doch war er nicht dazu zu bringen, seinen Verkehrskreis zum Nutzen politischer Zwecke dauernd zu erweitern. Gegenüber Manchem, den zu sehen für ihn von Nutzen gewesen wäre, schloß er sich fast mit Strenge ab.

Als Garibaldi seinen Triumph-Einzug in London hielt und ganz England, vom Arbeiter bis zum Lord, in einem Begeisterungsfieber zu sein schien, war es nur naturgemäß, daß zwei einander zwar bisher persönlich unbekannte, aber durch Opfer für eine gemeinschaftliche Sache durch die That verbundene Männer sich freundschaftlich nähern, ihre Meinungen austauschen, vielleicht auch wegen der Zukunft sich berathen sollten. Garibaldi war das Schwert des römischen Freistaates gewesen. Kurz vor seinem Zuge von 1862 hatte er den Beschluß wieder veröffentlicht, durch welchen die römische Nationalversammlung, kurz vor dem Eindringen der Franzosen, ihm die Vollmacht ertheilte, bei günstigen Umständen die Volksfahne wieder zu erheben. Seinerseits war Ledru-Rollin zum Ehrenbürger dieser römischen Republik ernannt worden und hatte um ihretwillen bereits fünfzehn Jahre Verbannung durchgemacht. Sollten zwei Männer von solcher Stellung einander fremd bleiben?

Und gleichwohl, ergaben sich Schwierigkeiten. Im Palaste des Herzogs von Sutherland wohnend, war Garibaldi von Einflüssen umringt, die ihn von der engeren Berührung mit seinen wirklichen Gesinnungsgenossen abzuhalten suchten. Tag um Tag fast hülflos da und dorthin geschleppt, war er weder Herr seiner Zeit noch seiner Bewegungen. Mir war es, in Folge seiner freundschaftlichen Einladung, möglich gewesen, bereits vor seinem Einzuge in London, ruhig und ungestört im Hause des Parlamentsmitgliedes Seely auf der Insel Wight mit ihm zusammen zu sein, ehe ich im Namen einer Massenversammlung von Londoner Deutschen, in Begleitung von Freiligrath, Kinkel und Anderen, als Sprecher ihn zu begrüßen hatte. Gleich bei erster Begegnung fand ich Garibaldi begierig, mit den hervorragenden demokratischen Parteiführern zusammenzutreffen, deren Namen ich ihm nannte.

Durch ein Gefühl bewegt, das ich wohl begriff, aber nicht theilte, hielt Ledru-Rollin es als Franzose für richtig, daß nicht er zu Garibaldi, sondern Garibaldi in das Haus des französischen [163] Verbannten gehe, dessen Name gleichbedeutend war mit der Sympathie des republikanischen Frankreich für die italienische Sache. Garibaldi war dazu rasch bereit. Von meinem Hause aus begaben wir uns zuerst zu Ledru-Rollin, dann zu Louis Blanc, die Beide in der Nähe wohnten und deren Freundschaft mir gleich werth war. Die Zusammenkunft des italienischen Volksmannes mit den beiden französischen Freunden war eine herzliche. Offen erklärte er bei dieser Gelegenheit, daß seine Gesinnungen noch die alten von 1849 seien. An demselben Tage theilte er mir die überraschenden Einzelheiten der Unterredung mit, welche Gladstone und Shaftesbury mit ihm gehabt und in Folge deren er England plötzlich verließ. „Ich sehe Bonaparte’s Hand in der Sache,“ setzte er hinzu.

So feindlich Ledru-Rollin den herrschenden Classen Englands und dem Engländerthum überhaupt war, so folgte er doch mit Antheilnahme den Fortschritten der Freiheitsbewegung innerhalb der englischen Volksmassen. In der irischen Frage dachte er wie die meisten Franzosen aller Parteien. Er hielt die Trennung von England für das Richtige, während eine solche doch nur jener ultramontanen Partei zu Gute käme, gegen die er sich mit aller Entschiedenheit aussprach. Mazzini, der zwar auch allem Kirchenglauben abhold, aber sonst von einer gewissen mystisch-religiösen Neigung war, hatte in einer besonderen Schrift abermals seine alte Ansicht entwickelt, daß das „Rom der Republik“ und das „Rom der Päpste“ eine von der Vorsehung bestimmte Sendung erfüllt habe und nimmermehr berufen sei, eine dritte Sendung als Anreger einer neuen Religion zum Nutzen wahrer Menschlichkeit und Volksfreiheit auszuführen. Ledru-Rollin flammte heftig auf, als er das „Rom der Päpste“, wenn auch in geschichtlichem Rückblick, so als eine richtige Folge, statt als ein verderbliches, scheußliches Hemmniß des menschlichen Entwickelungsganges behandelt sah. Es wurde mir, der ich Ledru-Rollin’s Meinung vollkommen theilte, nicht leicht, einen drohenden Bruch zwischen den beiden alten Freunden zu verhüten; doch ließ sich glücklicherweise das gute Vernehmen schließlich wieder herstellen.




Sein langes öffentliches Schweigen brach Ledru-Rollin zuerst wieder im Jahre 1865, als er eine im edelsten Geiste gehaltene Zuschrift zu Gunsten italienischer Einheit und zur Bekämpfung der damals noch von Thiers verfochtenen gegnerischen Meinung an mich richtete. Die Zuschrift war für den „Deutschen Eidgenossen“ bestimmt, der damals unter meiner Leitung und unter Mitwirkung von Louis Büchner, Georg Fein, Ludwig Feuerbach, Ferdinand Freiligrath, M. Gritzner, General Haug, Friedrich Hecker, Th. Mögling, K. Nauwerck, Theodor Olshausen, Gustav Rasch, Emil Rittershaus, General Franz Sigel, F. W. Schlöffel, Arnold Schloenbach, Gustav Struve, J. D. H. Temme und N. Titus erschien.

Ledru-Rollin und Mazzini, Garibaldi[1] und Louis Blanc sprachen durch Einsendungen ihre warme Theilnahme aus. Der Erstere nannte in der seinigen die weltliche Herrschaft des Papstthums „einen Hohn auf die Sittlichkeit wie auf die Religion, und ein beständiges Hinderniß der Einheit Italiens, dem es zur Geißel geworden“, Aeußerungen, die bereits Macchiavell vor Jahrhunderten gethan. Am Schlusse der Abhandlung war gesagt: – „Bedürfte es, um die herrschende Erstarrung aufzurütteln, eines gewaltigen Beispiels, nun, so laßt uns dasjenige benutzen, welches uns die unbezwingbare amerikanische Republik gegeben hat. Dieser Sieg, der die Rechte der Menschlichkeit, die Gleichheit der Racen, die vollkommene menschliche Brüderlichkeit bestätigt; dieser Sieg, der nach dem großen Heldengedicht von 1792 der Welt einen neuen Beweis giebt, daß ein freies Volk ein Volk von Riesen ist – dieser Sieg ist der Sieg aller Demokratien.“ Unter Napoleon dem Dritten waren die Preßgesetze damals derart, daß Ledru-Rollin nichts in Frankreich veröffentlichen konnte. Diese an eine deutsche Zeitschrift gerichtete Abhandlung wurde dann insgeheim in Frankreich als Flugblatt verbreitet.

In mehreren in England erschienenen Lebensbeschreibungen hat man Ledru-Rollin zum Communisten stempeln wollen. Nichts könnte mit seinem ganzen Bekenntnisse, seinem Leben, seiner Handlungsweise in grellerem Widerspruche stehen, als diese falsche Behauptung. Gleichwie Mazzini, hegte Ledru-Rollin vielmehr geradezu Haß gegen eine Lehre, welche die verschiedenen Seiten der menschlichen Natur außer Acht lasse und durch Erregung utopischer Hoffnungen, wie auch durch gehässige Aufrührung eines Classenkampfes innerhalb der Bewegungspartei selbst, jeden wirklichen Fortschritt störe. Von Jahr zu Jahr, namentlich als in Frankreich die Freiheitsbewegung wieder im Steigen war, drückte sich Ledru-Rollin mit immer größerer Bitterkeit über die communistische Richtung aus. Er war ein entschiedener Anhänger des deutschen und englischen Genossenschaftswesens. In einem Briefe an die Brüsseler „Association“, ein Blatt, das damals als Sprechsaal von Genossenschafts-Bestrebungen diente, sprach er sich darüber aus, indem er Fourier, St. Simon und Proudhon bekämpfte, andererseits aber die herzlose volkswirthschaftliche Lehre des bloßen „Gehenlassens“ und „Geschehenlassens“, wobei die Armuth unter die Speichen des Triumphwagens der Geldaristokratie geräth, mit ebenso großer Entschiedenheit verwarf. Ueber die Leiden der Armen habe ich seinen Lippen oft Aeußerungen des innigsten Mitgefühls entströmen hören. In solchen Augenblicken fühlte man an ihm die Herzenswärme des echten Volksfreundes.

Die Frage tauchte auf, ob die Altrepublikaner den vorläufigen Eid leisten dürften, um ihre Wahl in den gesetzgebenden Körper möglich zu machen. Den hierher gekommenen Pariser Abordnungen gegenüber sprach sich Ledru-Rollin aus Nützlichkeitgründen bejahend aus. Rochefort, Gambon und Andere erschienen bei ihm und drängten ihn stark, er möge sich als Bewerber für einen Abgeordnetensitz aufstellen lassen. Die Unterhandlungen, die mehrmals dem Abschlusse im Sinne der Annahme ganz nahe schienen, wurden im entscheidenden Augenblicke immer wieder abgebrochen. Die lange Unthätigkeit hatte des Magnetes Kraft geschwächt. Ledru-Rollin konnte sich, trotz wiederholten Eingehens in die Sache, nicht genügend entschließen.

Er besprach in jenen Tagen Alles mit mir. Da der Sturz Napoleon’s unvermeidlich schien, suchte ich ihn, wie ich es gegenüber anderen französischen Führern oft gethan, darauf aufmerksam zu machen, daß eine Republik, wenn auch durch einen kühnen Schlag in Paris errungen, unmöglich sich halten könne, so lange man bei dem jetzigen Zustande der geistigen und politischen Volkserziehung in Frankreich die alte Stimmrechtsformel beibehalte. Allgemeines, gleiches Stimmrecht, sagte ich, sei gewiß grundsätzlich zu wünschen. Allein um unter gegenwärtigen Verhältnissen die etwa durch ein glückliches Ereigniß gewonnene Freiheit zu halten, erscheine es mir für Frankreich nothwendig, den Städten eine verhältnißmäßig größere Anzahl von Abgeordneten zuzutheilen, wie dies auch in anderen Ländern der Fall ist. Vielleicht empfehle es sich überdies, an das Wahlrecht die Bedingung zu knüpfen, daß, wer den Staat wolle mitregieren helfen, des Lesens und Schreibens kundig sein müsse. Ledru-Rollin, der „Vater des allgemeinen Stimmrechtes“, wollte davon nichts hören.

Ich hatte 1869 die obige Ansicht in einer Abhandlung[2] entwickelt und that es nochmals im Jahre 1871.[3] Manche französische Freunde stimmten mir zu, glaubten jedoch, sich öffentlich [164] nicht im gleichen Sinne äußern zu dürfen. Ledru-Rollin war indessen auch grundsätzlich nicht für eine solche Uebergangsmaßregel zu gewinnen. Für ihn war eine zeitweilige Umkehr in dieser Frage allerdings doppelt schwierig. Nicht blos war wesentlich durch ihn das allgemeine Stimmrecht eingeführt worden, das zehn Millionen Wähler an die Stelle der bisherigen zweihunderttausend brachte, sondern er selbst hatte auch im Jahre 1849 nahezu eine Million Stimmen auf sich vereinigt.

Im Jahre 1870, vor Beginn des Krieges, kehrte er zum ersten Male wieder nach Frankreich zurück. Wir waren so lange an das öftere Zusammensein mit ihm und seiner Gemahlin gewöhnt gewesen, daß uns sein Scheiden schmerzlich traf, nach dem so manche deutsche, italienische und andere Freunde im Laufe der Zeit London verlassen hatten. Auf kurze Zeit kam er allerdings wieder nach England, bald nahm er jedoch seinen bleibenden Wohnsitz drüben. Während des Krieges war er in dem belagerten Paris eingeschlossen. Seine bereits wankende Gesundheit litt stark unter den Aufregungen; das über sein Land hereingebrochene Unglück erfüllte seinen Geist mit tiefem Kummer. Als er Paris wieder verlassen konnte, fand er seinen Landsitz in Fontenay-aux-Roses furchtbar verwüstet, die Hauptzerstörung war allerdings, wie er selbst überzeugt war, nachträglich durch politische Feinde, namentlich Bonapartisten, an seiner Behausung verübt worden. Seit jenen Ereignissen habe ich ihn nicht wieder gesehen.

Den Abgeordnetensitz in der Versammlung zu Bordeaux nahm er nicht an, da er offenbar den Friedensbedingungen nicht zustimmen wollte. Sein späteres einmaliges Auftreten in Versailles hatte den Zweck, das allgemeine Stimmrecht gegen die Beschränkungen zu vertheidigen, welche die royalistische Rückschrittspartei in ihrem Sinne einzuführen keinen Anstand trug. Die Gegner empfingen den schon so sehr leidenden Mann, als er zu sprechen begann, sofort mit Lärm und reizten ihn durch beständige boshafte Unterbrechungen. Seine im Uebrigen beredte Ansprache wurde dadurch übel zugerichtet, hinterher sprachen die Feinde dann von einem „Fiasco“.

Nur wenige Monate verflossen – und die Herzkrankheit, an der er seit einiger Zeit litt, machte seinem Leben durch einen plötzlichen Schlag in Gegenwart seiner tiefbewegten Lebensgefährtin ein Ende, deren Liebe und Hingebung in Freud’ und Leid stets die treueste gewesen. Wie verschieden auch die Parteiansichten über ihn sein mögen, die Worte bleiben wahr, welche Herr Maillard an seinem Grabe sprach: „Frankreich und die Republik werden seiner stets gedenken.“

  1. In der Gartenlaube erschien unlängst von R. H. ein schönes, kraftvolles Gedicht: „An Garibaldi“, welches mit den Worten beginnt: „Endlich, Alter von Caprera, stimmst Du ein in Deutschlands Ruhm, und von deutscher Kraft erwartest Du ein würdig Menschenthum.“ Es dürfte daher von Interesse sein, Garibaldi’s Worte aus dem „Deutschen Eidgenossen“ vom Juli 1865 hier auszugsweise mitzutheilen. „Der Fortschritt der Menschheit ist in’s Stocken gerathen … Es fehlt der Welt ein Führer-Volk: nicht um sie zu beherrschen, sondern um sie zu leiten auf dem Pfade der Pflicht, welch’ letztere in nichts Anderem besteht, als in der Verbrüderung der Nationen und in dem Umsturze der Schranken, die von der Selbstsucht gezogen worden sind … Dieser Ehrenposten, den die Wechselfälle der Zeiten unbesetzt gelassen haben, könnte füglich von der deutschen Nation eingenommen werden. In dem ernsten und philosophischen Charakter Ihrer Mitbürger liegt eine Gewähr des Vertrauens für die Zukunft Aller … Bildet Ihr daher im Herzen Europas die achtunggebietende Einheit Eurer fünfzig Millionen – und wir Alle stürzen uns mit Begierde und Entzücken in Eure brüderlichen Reihen! …“ Mit seinem neuesten Briefe, den R. H.’s Gedicht so eindrucksvoll feiert, ist der italienische Führer somit zu seiner früheren Meinung zurückgekehrt. Nicht blos die Einheit jedoch, sondern auch die Freiheit Deutschlands betonte Garibaldi in jenem Schreiben von 1865 mit außerordentlicher Kraft.
  2. The Condition of France.
  3. The French Republic and the Suffrage Question.