Die Stufen der menschlichen Freiheit
Goethe hat darauf aufmerksam gemacht, wie verschieden die Vorstellungen sind, welche mit dem zauberhaften Worte der Freiheit verbunden werden. Das sehnsuchtsvolle Lied „Freiheit, die ich meine“, würde, wenn nicht das Versmaß uns den Tonfall vorzeichnete, wahrscheinlich mit dem stärksten Accent auf Ich von der Mehrzahl gesprochen werden. Manchen Wörtern ergeht es wie den Scheidemünzen, die am häufigsten von Hand zu Hand gehen, und durch die Alltäglichkeit des Gebrauchs die Deutlichkeit ihres Gepräges verlieren. Bis vor hundert Jahren bedeutete Freiheit in der Sprache der Gelehrten vorwiegend soviel wie „Privilegium“, eine besondere Auszeichnung gewisser Personen und Stände, zumal des Adels und der Geistlichkeit. Die ständische Gliederung der mittelalterlichen Gesellschaft beruhte auf den „Freiheiten“ der Fürsten, Grafen und Ritter, der Corporationen und Zünfte. Es wimmelte die alte Zeit von Freiheiten, ohne daß es eine staatsbürgerliche Freiheit gegeben hätte.
Als die Aufklärungsperiode ihr Werk begann, forderte die Welt in den Schriften der Dichter, in den Liedern der Sänger, auf den Schlachtfeldern von Nordamerika, in den Straßenkämpfen der Revolution, die Freiheit der Völker und der einzelnen Menschen. Eine neue Staatslehre war aus dem Bruche mit den staatlichen und kirchlichen Ueberlieferungen entsprungen; die Menschenrechte der Freiheit und Gleichheit erklangen wie eine Auferstehungsmelodie durch das Zeitalter, welches zu Ehren des Zopfes den Nationen den Krieg erklärt hatte. Dem Erbrechte der geschichtlichen Thatsachen, der Unfreiheit der Bauern, der Verkümmerung des Bürgerthums, den Anmaßungen der privilegierten Classen stellte sich damals der Satz entgegen: „Frei ist der Mensch geboren, unverjährbar ist dieses Recht seiner Natur, obwohl durch Fürsten und Regierungen zerstört oder gefesselt. Freiheitsfeindlich ist der Staat, der mit seiner Allmacht die natürliche Freiheit des Menschen eigennützig verdirbt.“ Selbst heute noch ertönt dieses Klagelied von der freiheitsfeindlichen Allmacht des Staates in mancher Kanzelrede nach. Seit beinahe neunzig Jahren kämpft Frankreich in seinen Verfassungswirren für die Durchführung dieses Gedankens. Auf den Trümmern der niedergerissenen Staatsmacht soll die Freiheit der entfesselten Gesellschaft errichtet werden. Noch immer stehen die meisten Franzosen unter dem Banne des Wahnes, daß eine schwache Staatsregierung für die Freiheit der Völker wünschenswerth sei.
In Deutschland ist die Wissenschaft während desselben Zeitraumes, nachdem sie eine Zeitlang den französischen Meistern gefolgt war, zu einer ganz andern Grundanschauung über das Verhältniß zwischen Staat und Staatsbürgern gelangt. Jener glückliche Naturzustand angeborener Freiheit besteht nur in der Glaubenslehre für jene zwei ersten Menschen, die nicht geboren waren, sondern fertig geschaffen das Paradies beherrschen sollten. Aus geöffneten Hünengräbern, aus entdeckten Gebirgshöhlen, in ausgegrabenen Torfmooren und in den bloßgelegten Pfahlbauten der Seen entziffert die wissenschaftliche Forschung den Satz: In der Geschichte begegnet uns der Mensch zuerst im Zustande der Unfreiheit und Unvollkommenheit, im Kampfe um sein Dasein mit der Natur, als Barbar, dessen Keule überall über dem Haupt des Schwächeren schwebt.
Langsam wirkte das Werk der Erziehung, welches den Menschen allmählich in jene harte Schule der Freiheit führte, welche den Namen des Staates trägt. Die erste Ursache aller höheren Gesittung und Freiheit ist die durch einen bereits geläuterten Naturtrieb bewerkstelligte Gründung staatlichen Gemeinlebens vermittelst der Unterordnung Aller unter eine herrschende Gewalt, welche den Schwächeren stützt, den äußeren Feind abwehrt, den Ringkampf mit widerstrebenden Naturmächten erleichtert, den Hausfrieden der Familie gegen die Pfeilspitzen räuberischer Nachbarn sichert.
Schon diese erste Großthat der langsam reifenden Menschheit ist aber gleichzeitig eine That der Selbstbschränkung für Diejenigen, welche sie vollbringen, das Werk einer höheren Anlage, welche manchen Naturvölkern fehlt. Um dauernd in der Gemeinschaft des Staates leben zu können, bindet sich der Mensch an einen begrenzten Flächenraum der Erde, an sein Gebiet, indem er auf das Wanderleben des dem Wilde nachstürmenden Jägers oder Heerden treibender Nomaden verzichtet. In den Früchten des Ackerbaues belohnt sich die Seßhaftwerdung der Völkerstämme. Auch auf der einfachsten Grundlage des Ackerbaues stehend, erscheint ein Staatsvolk unendlich höher, als jagende Horden oder herumschweifende Hirtenvölker. Es ist ein trügerisches Ideal jugendlicher Phantasie, wenn sie unter der Führung amerikanischer Romanschriftsteller in den Wildnissen der Urwälder sich ansiedelt und von Freiheit träumt. Der Geschichtsschreiber belehrt uns, um wie viel vollkommener trotz aller Bedrängnisse die ersten europäischen Ackerbauer an den Küsten des atlantischen Oceans gewesen sind im Vergleiche zu den „ glücklichen Wilden“, denen keine räumliche Schranke gezogen war. Eine Leben spendende Macht ist der Staat. Aus den spärlichen Ansiedlern, welche vor zweihundertfünfzig Jahren aus England, Holland und Frankreich nach dem nördlichen Amerika zogen, ist ein Volk von vierzig Millionen geworden, während die schrankenlos herumschwärmenden Indianerstämme heute nichts sind als zerstrümmerte und dem völligen Untergange verfallene Ueberreste eines verkommenen Geschlechts.
Der erste, uranfängliche Staat entlegenster Jahrtausende nimmt jeden einzelnen Menschen, der ihm als Staatsbürger zugehört, völlig für sich in Anspruch; zuweilen ist sogar, wie bei den Spartanern, die Familie nichts anderes als eine Züchtungsanstalt für Staatszwecke. Jeder Einzelne fühlt, denkt, handelt wie sein Nebenmann, gleichsam dauernd in Reih’ und Glied eingestellt während jener ewigen Kriege, die unter benachbarten Stämmen geführt wurden. Indem aber allmählich einzelne Staaten zur Uebermacht über andere gelangen, erwacht in den Staatsbürgern das Bewußtsein, daß sie nicht mehr ganz für den Staatszweck aufgeopfert zu werden brauchen. Es entsteht der [333] Unterschied in den Persönlichkeiten und Individuen, die Thätigkeit des Eigenwillens, die Gliederung der Gesellschaft, die Mannigfaltigkeit der Berufszweige und Gewerbe, die Theilung der Arbeit nach Anlage und Geschicklichkeit, die Schichtung der bürgerlichen Classen, die Doppelströmung von Oben und Unten, von Hoch und Niedrig, das Verlangen, daß an die Stelle des allein gebietenden Oberbefehls, der im Kriege nothwendig ist, die Mitbeschließung des Gesetzes zu friedlichen Zeiten als bürgerliches Recht der freien Genossenschaft anerkannt werde.
Wird diese Forderung nach hartem Ringen durchgesetzt, tritt an die Stelle des persönlichen Herrscherwillens der Mächtigen die Selbstgesetzgebung des Volkes, so beschreitet dieses in seiner Entwickelung eine zweite Stufe, diejenige der politischen Freiheit. In dem Worte Selbstgesetzgebung liegt aber wiederum eine weitere That der Selbstbeschränkung, zu der nur diejenigen Völker befähigt sind, welche die Kraft und den Willen haben, das sich selbst auferlegte Gesetz zu halten. Diese Entwickelung zur politischen Freiheit ist am klarsten im classischen Alterthume ausgeprägt, und zwar nach den beiden Richtungen der Entstehung und des Verfalls. Wie die einfachen, geraden und schönen Linien eines griechischen Tempelbaues treten uns die Bedingungen der politischen Freiheit bei Griechen und Römern anschaulich entgegen; eine Thatsache, die zu der Forderung führt, daß die in den modernen Culturvölkern leitenden Personen nothwendig mit dem Geiste des classischen Alterthums und seinen politischen Ueberlieferungen durch das Studium der alten Sprachen bekannt geworden sein müssen. Aus der Geschichte der Griechen und Römer ist die in ihrem Werthe unvergängliche Lehre zu begründen, daß die jeweilig mächtigsten Culturvölker auch die freiesten gewesen sind, daß aber die politische Freiheit zu Grunde geht, wenn jene Grundlage des zur Selbstbeschränkung und zum freiwilligen Gehorsam entschlossenen Rechtssinnes so weit schwindet, daß das gesetzgebende Volk sein eigenes Werk durch Willkür und Zügellosigkeit zerstört. Die politische Freiheit der Griechen und Römer ging außerdem zu Grunde, weil es diesen Völkern nicht beschieden war, zwei weitere Stufen der menschlichen Freiheit zu ersteigen, ohne deren Erreichung die politische Freiheit stets gefährdet bleibt.
Eine dritte Stufe der menschheitlichen Freiheit ist die wirthschaftliche Freiheit der Arbeit. Die vollkommensten Gemeinwesen der alten Geschichte beruhten auf Sclaverei, in welche zumal die Kriegsgefangenen versetzt wurden. Zwar bezeichnet die Sclaverei insoweit einen culturgeschichtlichen Fortschritt, als die allerrohesten Völker den überwundenen Feind einfach vernichten und dessen Schonung zum Zwecke der wirthschaftlichen Benutzung bereits ein höheres Verständniß und eine Mäßigung jener Leidenschaften verräth, von denen der Menschenfresser oder der blutgierige Barbar knechtisch beherrscht wird. Im weitern Verlaufe der Geschichte erweist sich aber die Sclaverei überall als ein schwerer Fluch, als Hemmniß höherer Gesittung. Sclaverei bedeutet nicht nur grausame Unterdrückung des Dienenden, sondern vielmehr Verderbniß der Herrschenden. Jede schrankenlose Gewalt über andere Menschen vernichtet das Pflichtgefühl der Herrschenden gegen das Gesetz und bringt dieses unter die Uebermacht des menschlichen Eigennutzes.
Aus der Christenheit ist die Sclaverei mit Ausnahme weniger Colonialstaaten verschwunden, obgleich das Christenthum unmittelbar kein Verdammungsurtheil darüber aussprach und trotz aller Rechtgläubigkeit nach der Entdeckung Amerikas christliche Staatsmänner die Negersclaverei wieder einführten, oder sogar heute den Gräueln des Kulihandels noch gleichgültiger zuschauen, als dies heidnischen Philosophen möglich gewesen wäre. In Europa vollzog sich seit dem Mittelalter schrittweise der Uebergang von der Sclaverei zur Hörigkeit, zur Leibeigenschaft, zur Gutsunterthänigkeit, zur Dienstbarkeit der ländlichen Arbeiter bis hin zur Befreiung der wirthschaftlichen Kräfte durch die neuesten Gesetzgebungen, wobei der Zusammenhang zwischen wirthschaftlicher und politischer Freiheit vorzugsweise in der englischen Geschichte deutlich ausgeprägt erscheint. Daß jene Befreiung langsam und allmählich vor sich ging, verbürgt ihre Gründlichkeit und Sicherheit. Und umgekehrt erklären sich die unverkennbaren Krankheitszustände mancher amerikanischer Staaten aus dem schroffen Sprunge von der Emancipation des Negers zur politischen Gleichberechtigung.
Wenn ein Volk wirthschaftliche Freiheit ohne Nachtheil ertragen soll, so muß es zuvor wiederum Selbstbeschränkung gelernt haben. Die dienende Classe muß gewillt und befähigt sein, an Stelle der ihr abgenommenen Zwangsarbeit durch freie Arbeit höhere Leistungen zu vollbringen und größere Werthe zu erzeugen. Nicht weniger, willkürlicher, unregelmäßiger, sondern fleißiger, sparsamer und treuer muß der freie Mann zu arbeiten gewillt sein, im Vergleich zum Sclaven oder Leibeigenen. Und andererseits muß auch in wirthschaftlich freien Ländern die begüterte Classe ihrer sinnlichen Genußsucht Zügel anlegen können. Wie jener englische Prinz in seinem Wappenschild das bekannte Wort hineinschrieb: „Ich diene“, so steht gleichsam an der Eingangspforte des kaiserlichen Palastes in Berlin geschrieben „Ich arbeite“.
Messen wir die Höhe unserer Entwickelung an dieser Forderung der allgemeinen Arbeitspflicht, so müssen wir bekennen, daß wir in Deutschland allen Grund haben, bescheiden zu sein und in uns zu gehen. Die Gesetzgebung des norddeutschen Bundes, welche uns mit Freizügigkeit und Gewerbefreiheit beschenkte, fand uns nicht in derjenigen Reife, welche die Besten unseres Volkes vorausgesetzt hatten. Das Kennzeichen wirthschaftlich freier Völker, welches darin besteht, daß die Arbeit als Ehrenschmuck des Mannes gilt, war vielfach bei denen abhanden gekommen, welche die höchste Tugend darin setzten, in möglichst kurzer Zeit für möglichst hohen Lohn möglichst schlechte Arbeit zu verrichten oder auch ohne Anstrengung im Börsenspiel reich zu werden.
Die vierte und höchste Stufe der menschheitlichen Freiheit ist religiöse Freiheit. Alle Völker der vorchristlichen Zeit waren wenigstens soweit, als die Volksmassen in Betracht kamen, in sittlicher Knechtschaft befangen. Sclaverei des inneren Menschen auf sittlichem Gebiete ist dann vorhanden, wenn dieser unter dem Bann des Aberglaubens oder aus Furcht vor dem Zorn der Gottheit den überlieferten Geboten der Priesterherrschaft blindlings gehorcht. Abergläubische Furcht beherrschte das Thun und Treiben der Griechen und Römer. Die Religion Mose war eine Religion der Furcht vor dem göttlichen Zorn, ein Glaube an Opfer und Ceremonien.
Angesichts eines in abergläubischen Vorstellungen befangenen Volkes liegt es nahe zu meinen, daß der ängstliche Furchtglaube durch naturwissenschaftliche Aufklärung oder verstandesmäßige Moralphilosophie vernichtet werden könnte. Wie aber Gottesleugnung nicht zur sittlichen Freiheit des Menschen führt, zeigt wiederum der Ausgang der griechischen Philosophenschulen in ewig mustergültiger Weise. Die Philosophie war im Alterthum eine größere, weiterreichende Macht, als bei uns. Trotz ihrer unsterblichen Verdienste vermochte sie nicht, den Zusammensturz und den sittlichen Verfall der alten Welt aufzuhalten.
Erst mit dem Christenthum trat das Princip der religiösen Freiheit in die Welt und zwar wiederum mit der Bedeutung der höchsten Selbstbeschränkung. An Stelle der Furcht vor ewigen Strafen tritt nun als tiefster Beweggrund des sittlichen Handelns jene Gottes- und Nächsten-Liebe, die unabhängig von Ceremonialvorschriften, Opfern und Kasteiungen, frei vom Buchstaben des Gesetzes und dem Machtgebot des Priesters, sich selbst schlechthin nach dem Vorbilde Christi an den Willen Gottes in freiwilliger Unterwerfung bindet. Zwar fordert auch das Christenthum Gottesfurcht, aber diese ist nichts anderes, als ehrfurchtsvolle Scheu des kindlichen Emporblickens. In der höchsten Liebe zu Gott wird immer die letzte Spur der Furcht getilgt sein.
Solche Völker, deren sittliches Leben in Familie und Staat von Priestern wesentlich mit den Motiven der Furcht vor ewiger Strafe beherrscht werden kann, haben auf den Namen der Freiheit keinen Anspruch; sie befinden sich, mögen sie heißen, wie sie wollen, im Zustande sittlicher Sclaverei oder auf der Stufe kindlicher Unreife; aber freilich stehen sie immer noch höher, als die Classe derjenigen, welche den Beruf zur sittlichen Freiheit selbst leugnen und in ihrem angeblichen Aufklärungswahne sittliches Handeln als Thorheit bezeichnen und auch den Geist von dem Naturgesetze der Materie beherrscht sein lassen. Trotz aller sogenannter Christlichkeit stand auch das Mittelalter in sittlicher Hinsicht niedriger als die besten Zeiten des heidnischen [334] Alterthums. Wenn dieses auch nicht die erhabensten Muster der Menschenliebe kannte, welche in den ersten Anfängen des Christenthums hervorleuchten, so fehlte ihm doch auch jene priesterliche Verfolgungswuth, welche durch Ketzerverbrennungen die Welt in Schrecken setzte und hinterdrein mit ruhiger Ueberlegung sogar menschenmörderische Inquisitionen heilig zu sprechen wagte.
Bis zum heutigen Tage bleibt die geschichtliche Wahrheit bestehen, daß ohne religiöse Freiheit in dem doppelten Sinne Unabhängigkeit der Völker von den Fesseln der Priesterherrschaft und außerdem der Selbstbeschränkung des Gewissens durch unmittelbare Hingabe an Gott weder wirthschaftliche noch auch politische Freiheit auf die Dauer Bestand haben könne. Der Name einer Staatsverfassung thut dabei gar nichts zur Sache. Wenige Gemeinwesen befinden sich in einem solchen Zustande politischer, religiöser und wirthschaftlicher Verwahrlosung wie die Mehrzahl der südamerikanischen Republiken.
Den bedeutsamsten Fortschritt auf der Bahn zur Befreiung unseres Volkes erkennen wir in der Reformation. Sie heißt in ihrem innersten Grunde: Selbstverwaltung der an die Nachfolge Christi gebundenen Gewissenspflichten ohne priesterschaftliche Vermittlung; allgemeines Priesterthum in Haus und Gemeinde; allgemeine Wehrpflicht in dem Gebrauch des Schwertes, das Christus nach seinen eigenen Worten zur Ueberwindung des Bösen in die Welt gebracht hat; Verwerfung jeder Stellvertretung in diesem Heerdienste der Liebe. Was bedeutet Priesterherrschaft Anderes als Stellvertretung Gottes in irdischen, des menschlichen Gewissens in göttlichen Dingen?
Freilich ist mit diesen Grundsätzen der in ihrer Jugendfrische aufleuchtenden Reformation fast nirgends Ernst gemacht worden. Wie man die Herrschaft des mittelalterlichen Papstthumes einen großartigen Fürstenstaat über die menschlichen Seelen nennen darf, so nenne ich die Glaubensherrschaft protestantischer Consistorien und ihrer theologisch verknöcherten Bekenntnißformeln den Feudalismus des kirchlichen Kleinstaatenthumes. Den innigen Zusammenhang zwischen religiöser und politischer Volksfreiheit hat insbesondere der Dichter des verlorenen Paradieses nachdrücklich hervorgehoben. Milton, in gleichem Grade fromm und freisinnig, sagte: „Ein Geistlicher, der sich blindlings und unbedingt auf Bekenntnißschriften verpflichtet, sollte seinem Vornamen als den ihm zukommenden Geschlechtsnamen das Wort ,Sclave’ hinzufügen!“ Und ein anderes Mal: „Ketzer ist auch derjenige, welcher zwar das an sich Richtige glaubt, aber nur aus dem Grunde, weil es ihm der Priester befohlen, ohne daß er selbst die Wahrheit geprüft hätte.“
Die Unvollkommenheiten der wirthschaftlichen und politischen Freiheiten im gegenwärtigen Zeitalter erklären sich wesentlich daraus, daß die Macht der in religiöser Ueberzeugung wurzelnden Gewissenspflichten und ihre Gewalt über das Volksleben von den gebildeten Mittelclassen am meisten verkannt wird. So schwankt die Welt zwischen dem Drucke der Priesterherrschaft und einer auf eine einseitige Verstandesschärfung hinarbeitenden, um das Gemüthsleben unbekümmerten Aufklärung, welche aus berechtigter Abneigung gegen das altkirchliche Formelwesen auch die religiösen Triebfedern der Menschheit verwirft. So geschieht es, daß Viele aus Haß gegen die Priesterherrschaft der thierisch magnetischen Kraft materialistischer Genußsucht verfallen und Andere aus Furcht vor einem alles Sittliche leugnenden Materialismus sich unter das schützende Dach einer verrotteten Priesterherrschaft zu flüchten suchen.
Nur solche Völker können niemals zurückfallen in politische Knechtschaft, denen der Glaube an ihre göttliche Bestimmung ewiges Leben spendet und damit die Befreiung wird von feiger Furcht vor den Gewaltmitteln der Unterdrückung. In den also befreiten Völkern wird die heilige Dreieinigkeit der politischen, wirthschaftlichen und sittlich-religiösen Freiheit immer mit und durch einander zusammenbestehen und in jedem Einzelnen die dreifache Pflicht der Selbstbeschränkung stets gegenwärtig und thätig erhalten: als Staatsbürger durch die Mitarbeiterschaft in der Uebung der vom Volke freiwillig zu übernehmenden Pflichten gesetzlichen Gehorsams; als Haushalter in der Mehrung der nationalen Geistesschätze, wobei jede Arbeit als ein Beitrag zu den Gemeingütern begriffen werden muß; als Weltbürger durch die Macht, welche in dem Gebote der Nächstenliebe ruht.
Das Maß und der Höhengrad der politischen Freiheit, deren ein Volk fähig ist, läßt sich durch geschichtliche Untersuchung ermitteln. Es entspricht durchaus der Stärke des im Volke vorhandenen Gemeinsinnes, dem Maße freiwilliger Gesetzlichkeit, der Tiefe seiner religiösen Beweggründe, dem Verständnisse für die Regel der Gegenseitigkeit der Dienstleistungen im wirthschaftlichen Leben. Nur in demselben Maße, als diese Befähigung zur Freiheit wächst, können die äußeren Machtmittel der Staatsregierungen ohne Gefahr verringert werden. Und alles Wachsen geschieht langsam. Anfangs unfrei geboren, wie jedes Kind noch heute völlig abhängig von seiner nächsten Umgebung, ist die Menschheit dem gewältigen Schulzwange des Staates unterworfen worden, um, durch die große Erzieherin Weltgeschichte fortgebildet, die Bedingungen ihres Wohlseins selbstständig erkennen und üben zu lernen.
Das geschichtliche beurkundete Zeugniß der Reife kann nur dasjenige Volk empfangen, welches gewillt ist, die Freitreppe zu dem Heiligthume seiner staatlichen Cultur aufzumauern aus der unzerstörbaren Zusammenfügung jener drei Stufen der politischen, wirthschaftlichen und religiösen Freiheit und keine dieser Stufen baufällig werden zu lassen. Dieser Wille, welcher gleich ehernen Bildsäulen von jenem edeln Roste der Ueberlieferung bekleidet sein sollte, den des Künstlers Auge mit Wohlgefallen betrachtet, besteht aber nur dann gegenüber den Gesetzen der Verwitterung, wenn wir alltäglich an der Mehrung und Erhaltung politischer, wirthschaftlicher, sittlich-religiöser Geistes- und Charakterbildung im Volke arbeiten und nicht lediglich darauf vertrauen, daß die Staatsregierungen allein oder Andere für uns in den Kampf ziehen zur Abwehr der unserm Volksleben feindlichen Mächte.
Rom und das Mittelalter können nicht lediglich durch die juristische Macht der Gesetzesparagraphen auf die Dauer überwunden werden; denn ähnliche Gesetze haben auch in früheren Jahrhunderten bestanden, ohne daß die Priestermacht daran zu Grunde gegangen wäre. Alles, was bis jetzt von staatlicher Seite gegen die Hierarchie unternommen wurde, bedeutet nur ein Vorpostengefecht. Der Entscheidungskampf wird nur in der Volksschule ausgefochten werden. Den endlichen Sieg verbürgt uns nur der heilige Geist, welcher durch die Seele des ganzen Volkes hindurchflammend und hindurchströmend auch auf dem religiösen Gebiete zum Befreiungskampfe treibt, um unser Volk zu einem reinen, formelfreien Christenthume emporzuheben.
Auf dem Punkte, wo wir stehen, überblicken wir hinter und vor uns die Schlachtfelder, auf denen die Schatten der Erschlagenen mit uns kämpfen für die Erstürmung jener Höhen, welche die schwer gepanzerten Schaaren der Herrschsucht, des Eigennutzes, der Heuchelei, sowie sämmtliche Abgötter der rohen und der verfeinerten Gewinnsucht besetzt halten. Ehe wir diese Höhen nicht gewonnen haben, kann auch Pfingsten nicht das liebliche Fest der Maien für Deutschland wieder werden. Und den Frieden der Menschheit bringt nur der germanische Nordwind, welcher auf den Flügeln eines reineren, menschheitlichen Glaubens den seelendorrenden Scirocco der römischen Priestermacht über die Alpen in seine Wüste zurückjagt.