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Die Lauine

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Textdaten
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Autor: Emil Adolf Roßmäßler
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Titel: Die Lauine
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 7, S. 95-96
Herausgeber: Ferdinand Stolle
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1858
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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[95]
Die Lauine.[1]
Von E. A. Roßmäßler.

Neben dem diplomatisch schleichenden Geiste der Gletscherwelt wohnt noch ein toller Poltergeist in den schneeerfüllten Kesselthälern der Hochalpen: die Lauine.[2] Nicht leicht tritt die zerstörende Gewalt des Wassers so jäh und schreckenerregend auf, als in dieser Gestalt, wenn es auch in anderen viel bedeutendere Wirkungen hervorzubringen vermag. Manche Alpenthäler, z. B. das Oberhaslithal, finden sich bald von links, bald von rechts her mit weit vorspringenden, das Thal quer durchschneidenden Wällen und Halden von Felsblöcken unterbrochen, welche mit den Lauinen von den Uferbergen des Thales niederdonnerten. Wenn der Zug der Touristen die Einsamkeit der Alpenthäler belebt, ist diese zerstörende Macht des Schnee’s gewöhnlich schon ganz gebrochen und in die äußerste Grenze der Schneeregion gebannt. Die kühnen Kunststraßen, welche sich bis dahin versteigen, wissen durch gewaltige Gallerien der Wuth der Lauinen zu entgehen. Es gehört aber zu den eine Schweizerreise charakterisirenden Genüssen, z. B. von der Wengernalp aus von dem gegenüberliegenden Stock, aus dessen Mittelpunkt die reine Jungfrau in das Himmelblau aufragt, in den Mittagsstunden Lauinen Herabkommen zu sehen. Man glaubt sich in der reinen Bergluft ihnen viel näher, als man ist, und doch steht man in vollkommener Sicherheit, denn zwischen der Wengernalp und den steil abfallenden Wänden jener Bergriesen gähnt die tiefe Schlucht des unzugänglichen Trümmletenthales – die Rumpelkammer, in der sich aller Schnee und Trümmerschutt anhäuft. Erwartungsvoll, und selten um diese Zeit vergebens, ist Auge und Ohr hinübergerichtet nach den unermeßlichen blendenden Schneemassen. Plötzlich kracht und donnert es da drüben, wie aus tausend fernen Geschützen – noch liegt aber Alles in todter Ruhe, denn vergebens sucht der eilig über die Schneefelder fliegende Blick eine Bewegung der Masse. Entweder läßt die große Ferne oder die versteckte Lage den Heerd der Bewegung nicht erkennen. Aber bald ist das durch vielfältigen Wiederhall verstärkte Donnern vorüber und am untern Saume der Schneeregion schießt aus einem vorher unbemerkten Spalte der Bergwand eine blendend weiße Schaumcascade hervor und überschüttet den aus dem Trümmletenthale hervorsehenden Schuttkegel mit neuem Schnee. Dieser Schuttkegel zeigt von den vorausgegangenen Lauinenfallen alle Abstufungen vom reinen Weiß bis zum schmutzigen Aschgrau in abwärts laufenden lappenformigen Ausbreitungen, so daß es aussieht, als sei zu verschiedenen Zeiten auf seiner Spitze ein Gefäß voll zäher bald heller, bald dunkler grauer Farbe ausgeschüttet worden, und diese sei dann wie ein Lavastrom bald breiter bald schmäler, bald mehr bald weniger tief herabgeflossen. Die graue Färbung des oberflächlichen Schnee’s und deren Ursprung kennen wir von den immer schmutziger werdenden Flächen unserer abschmelzenden Schneefelder.

Dies ist die eine Form der Lauinen, ich möchte sie fast harmlos nennen, weil sie selten große Steine mit sich zu führen scheint; wir denken aber bei dem Worte Lauine nicht an sie, sondern an eine andere, die wir als Sinnbild der Zerstörung kennen.

Es ist leicht zu errathen, daß bei der Bildung und Beschaffenheit der Lauinen der Temperaturgrad, der in der Region des ewigen Schnee’s gerade herrscht, von Einfluß sein müsse. Bei großer Kälte unterbleiben die Schneeball-Gefechte der munteren Jugend, weil sich dann der Schnee nicht ballt. So muß es auch in der Schneeregion sein, und man unterscheidet demnach zunächst kalte und warme Lauinen. Gewöhnlicher ist jedoch die Unterscheidung derselben nach dem Aeußeren ihrer Erscheinung und ihrer Wirkungen.

Die Lauinen sind in ihrem Erscheinen nicht in dem Grade vom Zufalle abhängig, als wir Ebenenmenschen anzunehmen geneigt sind, denn an vielen Orten herrscht darin einige Regelmäßigkeit der Wiederkehr. Hierzu trägt natürlich ein gewisser Grad der Neigung der Felsenwände und der Schneereichthum des Monats am meisten bei. Deshalb wird bei der Anlegung der Alpenhütten hierauf Rücksicht genommen und solche „ungeheuere“ Orte vermieden. Der kundige Alpenbewohner sieht nicht selten das nahe bevorstehende „Niedergehen“ oder „Losbrechen“ einer Lauine voraus und kehrt oft auf einem weiten Marsche nahe seinem Ziele wieder um und schlägt lieber einen großen Umweg ein; er weiß, daß seine Fußtritte eine Lauine an seiner Seite „antreten“ könnten.

Dies gilt nämlich von den sogenannten Staublauinen, die als die gefährlichsten gelten. Ihr Niedergehen ereignet sich namentlich bei größeren Kältegraden, wenn bei anhaltendem Schneefalle der Wind große Schneemassen an stark geneigten Abhängen angeweht hat. Man nennt sie auch Wind- oder Schlaglauinen, weil ihnen ein furchtbarer Luftdruck vorausgeht, der allein schon Bäume und Hütten umzureißen vermag. Da ihr Niedergehen auf einem Herabrutschen großer Schneemassen beruht, so hat man an nicht gar zu gefährlichen Stellen mit gutem Erfolge an den unteren Grenzen solcher Rutschfelder hohe Steinwälle aufgerichtet. Die „heiligen Haine“ unserer Altvordern finden in den Alpenhöhen ihr Seitenstück in den Bannwäldern; sie sind eben so unverletzlich, wie jene, und dienen zum Schutze der darunter liegenden Gebiete vor dem Andrange der Lauinen. Dennoch durchbrechen die Lauinen zuweilen die Bannwälder und hinterlassen in ihnen breite Gassen mit aufgerissenem Boden. Der Schweizer nennt sie Lauizug, der Tiroler Lahnenrunst. Ueberschreitet eine Lauine die enge Schlucht eines Baches, so füllt sie diese mit festem Schnee aus, welchen der Bach nach und nach durchbohrt, so daß eine Lauinenbrücke bleibt, die zuletzt meist verschwindet, sich aber alljährlich in gleicher Weise erneuert. Liegen solche Lauinenbrücken hoch genug nach der Schneegrenze hin, so erhalten sie sich auch lange Zeit und Schlagintweit erwähnt einer solchen, die sich seit 73 Jahren erhalten hatte. Ich traf Ende August im Hintergrunde des Lauterbrunnenthales den Rest einer Lauinenbrücke, d. h. die eine zu einem breiten Schuttkegel abgeschmolzene Seite derselben, die ebenfalls sehr alt sein mußte, denn der Schnee war ganz und gar mit schwarzgrauem Schutt bedeckt, auf dem sich Alpenpflanzen angesiedelt hatten.

Diejenige Form der Lauine, in der wir uns dieselbe überhaupt gewöhnlich und zwar als das Sinnbild des Schreckens und der Zerstörung denken, die Roll- oder Grundlauine, ist viel weniger schädlich, als die Staublauine. Sie entsteht bei gelinder Witterung, wenn sich der Schnee ballt. Aber eine Rolllauine ist auch keineswegs ein einziger ungeheuerer Schneeball, in welchem wir uns die auf ihrer Bahn weggerissenen Bäume und Felsentrümmer und Hütten wie die Nadeln im Nadelkissen feststeckend denken. Nur selten erreicht ein solcher Lauinenball die Größe von 30 bis 40 Fuß; vielmehr ist eine Rolllauine ein Strom von zahllosen kleinen Bällen, die 1 1/2 bis 2 Fuß gewöhnlich nicht übersteigen. Diese sind dabei durch Aneinanderreiben und Stoßen ohne Zweifel in einem gewissen Wechsel des Bestehens und Umbildens begriffen, was ihre Bewegung mäßigt, so daß man solchen Lauinen, wenn ihr Sturz nicht durch eine sehr geneigte Ebene begünstigt wird, allenfalls entrinnen kann. Ihre Bewegung beträgt nur etwa 8 bis 10 Fuß in der Secunde. Der Grad ihrer Verheerung ist zum Theil von der Beschaffenheit des Bodens abhängig, über den sie rollt. Ist er feucht und nicht gefroren, so reißt die Lauine allerdings denselben bis auf den felsigen Untergrund mit hinweg und dadurch werden bedeutende Nachtheile für die Alpenmatten herbeigeführt.

Wie sehr auch in dem Gebiete der Natur das „viribus unitis“ gilt, wie kleine Kräfte in einmüthiger Vereinigung Großes bewirken können, das lehren auch die Lauinen. Es ist wiederholt beobachtet worden, daß an Stellen, wo sonst regelmäßig Lauinen niedergingen, diese ausblieben, wenn die geneigten Flächen, auf welchen die Ablösung der Lauinen zu beginnen pflegt, im vorhergegangenen Sommer [96] ihres Grases nicht beraubt worden waren. Dies konnte nur geschehen wegen eines zeitigen und bleibenden Schneefalls, der sich durch Anschmelzen mit den Grashalmen fest verband und dann, da diese Verbindung eine vieltausendfältige ist, die ganze Schneemasse so fest an den begrasten Boden haften läßt, daß sie daran nicht herabgleiten kann. Dies hat die Alpenbewohner in Wallis auf den glücklichen Einfall gebracht, die Lauinen gewissermaßen festzunageln. Auf solchen Ursprungsstätten der Lauinen, fast immer fette Alpentriften, schlägt man in etwa fußweiten Abständen Pflöcke in den Boden, die alsdann den den Winter über fallenden Schnee festhalten und ihn nur allmählich abschmelzen lassen.

Tiefe Alpenthäler mit hohen, in die Schneeregion reichenden Uferbergen, wie z. B. der obere Theil des Haslithales im Berner Oberlande, bieten zur Zeit des Touristenschwarmes, wo das Niedergehen der Lauinen gewöhnlich vorüber ist, das Bild der Zerstörung. Aus den tiefen Einschnitten der Thalwände, von denen man von unten oft nicht ahnt, daß sie die Ausgänge aus bedeutender Höhe herabkommender Felsengassen sind, erstrecken sich oft in das Thal hinein Wälle ganz frisch aussehender Blöcke von überraschender Größe, die dennoch durch den überwältigenden Druck des weichen Schnee’s herabgeworfen, vielleicht erst oben losgebrochen worden sind. Selten ereignen sich solche Lauinenfälle in sehr besuchten Gegenden noch im Spätsommer, weil dann der Schnee bis zur ewigen Schneegrenze hinauf abgeschmolzen zu sein pflegt, dafern nicht ausnahmsweise zeitige Schneefälle und darauf folgende milde Witterung neuen Stoff dazu bieten. Um diese Zeit beschränkt sich das Niedergehen von Lauinen auf die unzugänglichen Heiligthümer der Hochalpen, aus denen dem Reisenden meist nur von fern in der vorher beschriebenen Weise Kunde wird. Wenn wir aber mit aufmerksamen und geübten Blicken die Alpenwelt durchwandern, namentlich zu der Zeit, wo durch das den Sommer über stattgehabte Abschmelzen die Schneegrenze sehr hoch liegt, so erkennen wir, daß auch die Lauine eine der mancherlei Formen ist, in welchen das Wasser unausgesetzt an den Umrissen der Hochgebirge ändert und mäkelt.

Aber neben diesem gewaltsamen Wirken haben die Lauinen auch noch eine mit dem Gedeihen des Lebens in nahem Zusammenhange stehende Bedeutung. Es ist kaum möglich, sich von den unermeßlichen Mengen Schnee’s eine richtige Vorstellung zu machen, welche alljährlich durch die Lauinen unter die Schneegrenze herabgefördert werden. Blieben diese Massen an den Stellen liegen, wo sie als Schnee niedergefallen sind, so würden sie kaum bis zum Spätsommer abschmelzen, an schattigen Hängen gar nicht dazu gelangen und so würde vielleicht die Schneegrenze – die wir als nicht blos von der Seehöhe abhängig bereits kennen gelernt haben – allmählich tiefer herabsinken und das Weidegebiet der Alpenmatten immer mehr beeinträchtigen. Durch den Lauinenfall werden regelmäßig alle Jahre eine Menge Alpenmatten von den Schneelasten befreit. Dieser Lauinenschnee wird nun in den tieferen Höhenstufen von den hier wirksameren Sonnenstrahlen und von Regengüssen schneller verzehrt und ihr Wasser kommt den Tiefländern zu Gute, während der ewige Schnee seinen Wassergehalt denselben vorenthält. Tschudi[3] hält daher die Lauinen trotz der von ihnen sonst angerichteten Verheerungen dennoch für eine vorwiegend nutzenbringende Alpenerscheinung.





  1. Vorstehendes ist mit Bewilligung des Verfassers und Verlegers dem mit Lithografien in Tondruck und mit Holzschnitten reich ausgestatteten Werke: „Das Wasser. Eine Darstellung für gebildete Leser von E. A. Roßmäßler.“ (Leipzig, Brandstetter.) entnommen. Es verdient dasselbe die wärmste Empfehlung als wohlgelungene erste ausführliche wissenschaftliche und doch allgemein verständliche Darlegung des Wesens und der gewaltigen Wirkungen jener „Großmacht“ in der Natur, des Wassers, von dem Alle täglich reden und hören, während doch die Wenigsten mehr von ihm wissen, als daß es naß ist und keine Balken hat.
    D. R.
  2. Oder Lawine. In der Schweiz hört man jedoch stets Lauine sprechen; auch Tschudi schreibt im „Thierleben in der Alpenwelt“ Lauine.
  3. Tschudi, Thierleben der Alpenwelt S. 228.