Dichtermütter
„Die Mütter! Mütter! – ’s klingt so wunderlich.“
Es ist eine alte und richtige Bemerkung, daß die größten Männer aller Zeiten einen wesentlichen Theil ihrer geistigen Eigenart den geistigen Spillgütern der Mutter zu danken haben. Von der Mutter stammen die Keime ihrer Anlagen und Neigungen; die Mutter war es, welche sie zumeist gehegt und gepflegt hat. Aus dem Wesen der Mutter wuchs die Größe und Eigenthümlichkeit der Söhne heraus.
Wie erinnern zum Beweise hierfür nur an den weltumklammernden [722] Ehrgeiz, welcher die Brust jener königlichen Olympias schwellte, die den macedonischen Alexander unter ihrem Herzen trug, an die vielgepriesene majestätische Hoheit, in welche die Mutter der Griechen gehüllt war. Selbst von dem großen apostolische Seher, von Johannes, steht geschrieben, daß er der Sohn einer erleuchteten Mutter gewesen.
Und wie aus dem Dunkel des Alterthums strahlen so gesegnete Mütter auch aus dem Lichte der Neuzeit.
Daher gewährte es denn auch von jeher dem biographischen Schriftsteller einen besondern Reiz, dem Zusammenhange nachzuspüren, der den Menschen mit den Fäden seiner frühesten Eindrücke verbindet, nachzuweisen daß unter allen Einflüssen, welche seinen Charakter bestimmen, die der mütterlichen Natur die unmittelbarsten und wesentlichsten seien. Am häufigsten und überraschendsten will man diese Wahrnehmung bei Dichtermüttern gemacht haben, und es ist unbestreitbar, daß poetisch begabte Söhne sich mit besonderer Vorliebe der Mütter erinnern, der Mütter, in deren Schooß und zu deren Füßen das Paradies ihrer Kindheit lag. Noch in späten Jahren singt’s und klingt’s aus diesem Paradiese von den Liedern, die sie auf dem Mutterschooße in den Schlaf gesungen, von den Märchen, denen sie zu Füßen der Mütter traumselig gelauscht. In dem Paradiese der mütterlichen Nähe hoben sich die ersten Regungen ihrer Phantasie, getragen von der Gemüthstiefe, dem zartern Sinn der Mutter, während Dichterväter meist als prosaische, der Poesie abgewandte Philisternaturen erscheinen. Die Eltern der Dichter scheinen nicht selten geradezu gegensätzliche Naturen. „Da mag es denn,“ sagt Schücking in seinen, wenn auch nur flüchtigen, doch immer interessanten „geneanomischen Briefen“, „oft genug der Fall gewesen sein, daß die Mutter mit dem weichen poetischen Gemüthe und dem unbefriedigten Herzen an den erwarteten Sohn mit all der Intensität weiblicher Sehnsucht gedacht und in ihm sich einen Ersatz gewünscht hat für alles Das, was sie am Manne vermißte. Und so hätte denn das Bild, welches die mütterliche Phantasie sich sehnend von ihrem Kinde entworfen, bestimmend auf die Bildung des Kindes eingewirkt. Das Kind wäre ein Dichter geworden, weil das Dichtergemüth der Mutter es schon vor der Geburt gewiegt und geschaukelt in ihren von poetischen Anschauungen durchblühten und von Hoffnungen durchrankten Zukunftsträumen.“ –
Es bleibe dahingestellt, ob die Thatsache immer richtig, ob solche Erklärungsversuche immer zutreffend seien, ob sie psychisch-physiologisch befriedigen, immerhin aber haben wir Deutsche, die wir mit Recht stolz sind auf unsere großen Dichter, auch die Pflicht, den Müttern, den frühesten Pflegerinnen derselben, unsere Aufmerksamkeit zuzuwenden. In diesem Sinne werde im Folgenden auf einige Dichtermütter hingewiesen.
Nicht ohne Scheu stellen wir an die Spitze unserer kleinen Galerie von Dichtermüttern das strahlende Bild der „Frau Rath“, weil dasselbe, wenn auch in verschiedener Auffassung und Ausführung, schon wiederholentlich diese Blätter geziert hat, und weil es unsern Lesern und Leserinnen namentlich aus den trefflichen Charakteristiken von Arnold Schloenbach und Johannes Scherr bekannt sein dürfte. Dieselben Bedenken erhoben sich auch bei dem nächsten Bilde der Bäckerstochter aus Marbach, Elisabeth Dorothea Kodweiß. Es ist bedenklich, zu versuchen, diese Frauen mit neuen Kränzen zu schmücken. – Aber wie der Anblick der ewigen Schönheit der strahlenden Himmelssterne uns immer von Neuem entzückt und erhebt, so erfrischt und erquickt die Erinnerung an die erhabene Eigenart jener Frauennaturen uns stets von Neuem, so oft sie uns vorgeführt werden. Wie sehr ihr Bild auch in aller Herzen und Gedächtniß lebt, in der Erinnerung an sie sprudelt ein urfrischer Quell geistiger Erquickung, denn wie in einem hellen Spiegel sehen wir in ihm das wunderbare Ebenbild ihrer großen Söhne, und diese Betrachtung gewährt uns fort und fort ein hohes Interesse. Deutschem Sinne, deutschem Gemüthe bleiben diese Bilder, wie bekannt sie auch immer sein mögen, stets anziehend und wohlthuend. Eine Bildergalerie von Dichtermüttern ohne die Mütter unserer beiden größten Dichter würde des schönsten Schmuckes entbehren und selbst bei allem Reichthume und aller Ausführlichkeit mangelhaft sein in empfindlichster Weise.
So trete, Allen voran, die „Frau Rath“ uns entgegen, die gesegnete Mutter unseres Dichterfürsten Wolfgang von Goethe!
Der Tochter des Wirklichen kaiserl. Raths, Stadt- und Gerichtsschultheißen Textor zu Frankfurt am Main war geistige Lebendigkeit angeboren. Sie war heiter und gesprächig, hatte Augen und Herz offen; Kunst und Literatur zogen sie in hohem Grade an, kurz, sie war eine durchaus poetische Natur. Ihrem sonnenhellen Leben ging ein neuer Stern auf, als sie, die Gattin des wohlhabenden, in Kunst und Wissenschaft wohlerfahrenen kaiserl. Raths Johann Kaspar Goethe, im achtzehnten Altersjahre, am 28. August 1749 ihren Sohn Wolfgang geboren.
Es ist wahrhaft rührend, mit wie sinniger Zärtlichkeit die Mutter in hoch vorgerücktem Alter noch so viele kleine Begebenheiten und Ereignisse aus den ersten Jahren ihres geliebten Wolfgang der aufmerksam horchenden Bettina mitzutheilen liebte, weil sein Leben ihr dies Alles geheiligt hatte. „Ich und mein Wolfgang haben uns halt immer verträglich zusammengehalten; das macht, weil wir Beide jung und nit gar so weit als der Wolfgang und sein Vater auseinander gewesen sind.“
Am frühesten und stärksten pulsirte diese Gemeinsamkeit und Gleichartigkeit im Fühlen und Denken der Mutter und des Sohnes in der Lust, die sie Beide empfanden, wenn die Mutter erzählte und das Söhnchen ihr zuhörte. „Da saß ich auf dem grünen Sessel, den die Kinder nur den Märchensessel nannten, und er verschlang mich mit seinen großen schwarzen Augen und verbiß die Thränen, wenn ihn das Schicksal seiner Lieblinge verdroß. Wenn ich nun Halt machte und die Katastrophe auf den nächsten Abend verschob, so konnte ich sicher sein, daß er bis dahin Alles zurechtgerückt hatte, und so ward mir denn meine Einbildungskraft häufig durch die seinige ersetzt. Ließ ich nun die Schicksalsfäden nach seiner Angabe laufen und sagte: ‚Du hast’s gerathen; so ist es gekommen‘, da war er Feuer und Flamme, und man konnte sein Herzchen unter der Halskrause schlagen sehen.“
Wer könnte in diesen Jugendspielen zwischen Mutter und Sohn die Grundlage der gewaltigen Gabe verkennen, durch welche es dem Dichter gelang, die Bilder und Schöpfungen seiner Phantasie heiter und kräftig darzustellen? Wie wahr sind seine oft citirten Verse:
Vom Vater hab’ ich die Statur,
Des Lebens ernstes Führen,
Vom Mütterchen die Frohnatur,
Die Lust zum Fabuliren.
Ihr heiteres Temperament und eine gewisse Vornehmheit hielten die Gemeinheit des Sorgens fern; heftige, gewaltsame Eindrücke ließ sie sich nicht nahe treten, ein Charakterzug, den wir auch bei dem Sohne in allen Lebenslagen wiederfinden.
So geschah es denn auch, daß, als Goethe im Winter 1805 zu Weimar lebensgefährlich krank war, Keiner in Frankfurt vor der Mutter davon zu sprechen wagte. Erst lange nachher, als er schon genesen, sagte sie selbst zu ihren Freundinnen: „Ich hab’ halt Alles gewußt; jetzt mögt ihr von ihm spreche! Jetzt geht’s besser; jetzt kann wieder von dem Wolfgang die Rede sein, ohne daß es mir einen Stich in’s Herz giebt.“ Wäre Goethe damals gestorben, erzählte eine Freundin des Frankfurter Hauses, auch des Todesfalles würde vor der Mutter nicht erwähnt worden sein.
Wer erinnert sich hierbei nicht der ängstlichen Scheu, in der Keiner den Tod Schiller’s Goethen zu berichten wagte, bis er erst am folgenden Morgen selbst das Wort ausgesprochen: „Ist er todt?“
Olympische Hoheit, Heiterkeit und Ruhe blieb Mutter und Sohn bis zum letztem Athemzuge. Mit Heiterkeit ordnete „Frau Rath“ als sie schon „alleweile sterben sollt’“ ihr Leichenbegängniß bis auf den Wein und die Rosinen im Kuchen. – Und mit gleicher Geistesklarheit schied auch der Dichter. Als schon die Schatten des Todes sein Auge verdunkelt , war bekanntlich noch sein letztes Wort: „Mehr Licht!“
Auch von Schiller’s Mutter, der Marbacher Bäckerstochter Elisabeth Dorothea Kodweiß, ist’s allbekannt, daß sie eine Frau von ungewöhnlicher Innigkeit des Gemüths war, daß wahre Frömmigkeit, ein offener, empfänglicher Sinn für Natur, daß Neigung für Musik und Wohlgefallen an Poesie ihr in hohem Maße eigen waren. Sie war ein weiches, poetisches Schwabengemüth, das die soldatische Strenge des Vaters dem Sohne gegenüber wohlthuend gemildert hat. Auch sie hat, wie „die Frau Rath“, ihren Liebling mit Sprüchen und
[723] Bildern des Glaubens, mit Märchen, Geschichten und Gedichten groß gezogen zur Menschenliebe und zu den höchsten Tugenden. Und so finden wir das Naturell der Mutter, mit der er auch äußerlich eine auffallende Aehnlichkeit hatte, in dem Sohne zu den herrlichsten Blüthen entfaltet. „Kein aufmerksamer Beobachter von Schiller’s Leben,“ sagt Gustav Schwab, „kann es verkennen, daß den Knaben, der für den Lorbeer Apollo’s geweiht war, Melpomene schon in der Jugend aus dem sanften Auge der Mutter angelächelt habe.“
Beide reichbeglückte Mütter unserer größten Dichter hatten, bei der großen Verschiedenheit aller anderen Lebensverhältnisse, doch darin denselben Segen in gleichem Maße, daß sie sich bis an ihr Lebensende der größten Verehrung, der zärtlichsten Anhänglichkeit ihrer Söhne erfreuten, daß sie Zeugen gewesen sind von ihrer Herrlichkeit und von der Verehrung, welche die ganze gebildete Welt für dieselben gehegt hat. Die Mutter Schiller’s, die drei Jahre vor ihrem Sohne starb, hat noch fast alle seine unsterblichen Schöpfungen gesehen. Goethe’s Mutter, die sieben Jahre später starb, und vierundzwanzig Jahre vor ihrem Sohne, behielt bis zum letzten Hauche für den Genius ihres Sohnes ein ungetrübtes Auge, ein empfängliches Herz und beurtheilte seine Werke oft besser, als mancher Gelehrte und Kritiker von Profession.
Herder’s Mutter, Anna Elisabeth Pels, die Tochter eines ehrsamen Hufschmieds in Mohrungen, erfreute sich zwar keines besondern Unterrichts, war aber durch Gaben des Geistes und Gemüths ausgezeichnet. Sie besaß eine Bildung, die man bei ihrem niedern Stande nicht erwarten konnte. Ein Zug von Religiosität charakterisirte sie ganz besonders; jeder Tag wurde mit Gesang eines geistlichen Liedes beschlossen. Herder trug seine Mutter wie ein heiliges Idol in seinem Herzen. Zu öfteren Malen erzählt er, mit wie sanfter Gemüthsart sie ihre Kinder behandelt, wie übermüdet fleißig sie mit ihren Töchtern gewesen, wie ihre Sanftmuth die Strenge des Vaters milderte. Sie pflanzte und hegte Zartsinn, Weichheit und Humanität in der Brust ihres Lieblings, und noch am Tage vor ihrem Tode empfahl sie in inbrünstigem Gebete vor dem Geistlichen ihren Herzenssohn der Leitung Gottes. – „Wenn es erbliche Anlagen giebt,“ berichtet der Mohrunger Pastor Trescho,„so hat Herder gewiß einige Grundlineamente von seiner Mutter: ein schnelles Auffassen des Gehörten, Liebe zur Stille, Gutmüthigkeit und eine unermüdliche, herzliche Theilnahme,“ und Briefe, die von ihr erhalten blieben, bestätigen, was ihr nachgerühmt wurde.
Von Novalis’ (Friedrich von Hardenberg’s) Mutter erzählt Tieck, daß sie, eine Herrnhuterin, ein Muster wahrer Frömmigkeit und weiblicher Milde gewesen, mit der sie die härtesten Schläge für ein Mutterherz ertragen, in wenigen Jahren einen Kreis von blühenden, wohlgebildeten und hoffnungsreichen Kindern aussterben zu sehen. Der Sohn war träumerisch still und verrieth als Kind nur wenig Geist, entfernte sich von andern Knaben und zeichnete sich durch außerordentliche Liebe zur Mutter aus, der er in allen Dingen ergeben war. Der Mutter verdankte er auch den wesentlichsten Theil seiner Erziehung, da der Vater durch viele Reisen in amtlicher Stellung verhindert war, an derselben mitzuwirken, und so haben denn auch seine Dichtungen und sein ganzes Wesen den weichen, weiblichen herrnhuterhaften Charakter.
Bürger’s Vater war zwar Pastor in Molmerswende, einem Dorfe im Unterharz, aber die dürrste Prosa, das bewegungslose Phlegma. Er hat auf die Bildung seines Sohnes keinen Einfluß gehabt, der auch bis zum zwölften Jahre ganz unwissend und selbst in späteren Jahren in Disharmonie zu demselben blieb. Dagegen rühmt der nachmalige Dichter die Mutter, Gertrud Elisabeth Bauer, die Tochter eines angesehenen Einwohners zu Oschersleben, als eine weibliche Natur von außerordentlichen geistigen Anlagen, die indeß auch nicht im Geringsten ausgebildet waren und sicher auch im Charakter des Sohnes wie Schlacken festsaßen. Das Phlegma des Vaters mag dem Genius des Sohnes, dessen Geist lieber in den Bildern seiner Phantasie und in frischen, sinnlichen Wahrnehmungen lebte, als in den katechetischen Aufgaben des Pfarrers, mehr genützt, als geschadet haben. Der unwissende Knabe, der nur nothdürftig lesen und schreiben konnte, machte trotzdem schon Verse, die metrisch richtig und wohlklingend waren.
Lenau’s Mutter, Therese Maigraber, war die Tochter einer angesehenen Bürgerin in Ofen, in dessen Nähe sie Weinberge besaß. Im fünften Altersjahre verlor der Knabe den Vater und übersiedelte bald darauf mit der Mutter nach Tokaj. Hier reifte und gedieh mit dem Honigseime der feurigen Reben des Berges Mézes auch in ihm der dichterische Genius. Aus dieser Zeit erzählt Lenau selbst, er glaube, der Mutter die Phantasie und das leicht erregbare Gefühl verdanken zu müssen, ähnlich wie Goethe „die Kunst zu fabuliren“ von der Mutter hatte. Und er berichtet auch, was sehr zu beachten, wie er bei der jahrelang sterbenden Mutter als trauriger Krankenwärter ausgehalten, bei der liebevollen Mutter, vor deren Schrank nach ihrem Ableben der Sohn steht, in welchem ihr Gebetbuch noch aufgeschlagen liegt und das Gebet zeigt:
„Wie eine Mutter um Segen
Für ihre Kinder zum Himmel fleht.“
Und da weinte er bitterlich und
„– – – – – – zerriß
Die Freudenrechnung in seinem Herzen.“
Seitdem erhielt sein ohnehin schon ernstes Gemüth eine noch tiefere, unheilbar kranke Stimmung. Vor der Meerfahrt nimmt Faust-Lenau vom mondbeschienenen Grabe der leidenschaftlich geliebten Mutter tiefrührenden Abschied. Er steht verzweifelnd da, klagend über die Macht des Todes,
„Daß er die Mutter kann
Von ihrem Kinde reißen.“
Ein schmerzlich empfundenes Lied, das der Unvergeßlichen geweiht ist, endet mit den Versen:
„Mensch, du flieh mit deinem Schmerz
An die heimathlichste Stelle,
An des Trostes reinste Quelle,
Flüchte an das Mutterherz! –
Doch die Mütter sterben bald;
Hat man dir begraben deine,
Flüchte in den tiefsten Wald
Mit dem wunden Reh – und weine!“
[836] Die Mutter Heinrich Heine’s, des ungezogenen Lieblings der Grazien, Betty van Geldern, muß eine Frau von ausgezeichneten Eigenschaften des Geistes und Herzens gewesen sein. Ihr Einfluß auf die Herzens- und Geistesbildung ihres ältesten Sohnes Harry, wie er als Kind genannt wurde, muß nach Allem, was von ihr berichtet wird, sehr bedeutend gewesen sein. Sie nährte ihre vier Kinder selbst und gab ihnen auch den ersten Lese- und Schreibunterricht. Heine gedenkt noch „der braunen Thür, worauf Mutter mich die Buchstaben mit Kreide schreiben lehrte, – ach Gott! Madame, wenn ich ein berühmter Schriftsteller werde, so hat das meiner Mutter genug Mühe gekostet.“ – Sie leitete auch den späteren Unterricht und die Lectüre der Kinder. Heine nennt sie eine Schülerin Rousseau’s, und sein Bruder Maximilian erzählt, daß Goethe ihr Lieblingsschriftsteller gewesen sei, und daß sie sich besonders an dessen Elegien erfreut habe.
Bei der guten Erziehung, die sie im elterlichen Hause und im Umgange mit ihren gelehrten Brüdern genossen, läßt sich ohnehin mit Sicherheit annehmen, daß sie einen mehr als gewöhnlichen Grad allgemeiner Bildung besaß und nicht wenig dazu beitrug, schon früh in ihrem begabten Sohne das Interesse für die Meisterwerke der Kunst und Poesie und für eine idealere Lebensauffassung zu wecken.
Es ist bekannt, daß die poetischen Neigungen und die ersten Arbeiten des spätern Dichters lange Zeit keine sonderlich anregende Aufmunterung im elterlichen Hause fanden, welches Frau Betty zu einer Stätte des Goethe-Cultus geweiht hatte, in dem mit großer Vorliebe meist nur von Goethe gelesen und gesprochen wurde. „Wie soll der Junge aufkommen,“ rief einst Papa Heine in verdrießlicher Mißbilligung hierüber aus, „wie soll der Junge aufkommen, wenn man immer und immer nur von Goethe lesen und reden will!“ und schon der Name Goethe war ihm zuwider, so oft er ein Buch mit demselben in die Hand nahm.
Was that Harry?
Er ließ heimlich alle Bücher, die Goethe’s Namen trugen, umbinden, das „Goethe“ säuberlich ausradiren und statt dessen den Namen Schulze hinsetzen. Seine Absicht gelang. Papa Heine las nunmehr die Gedichte von Schulze und mochte beruhigt denken: der ist doch noch ärger als Harry. Aber die milde, wohlunterrichtete Mutter hatte den Schalksstreich des übermüthigen Sohnes sofort erkannt, schlug in Abwesenheit des Vaters eins dieser Bücher auf und sagte, indem sie den Finger auf den hineingeschmuggelten Namen legte: „Mein Sohn, möchtest Du einst nur halb so berühmt werden, wie der Schulze, der diese Gedichte verfaßt hat!“
Mit Eifer las Frau Betty die Schriften deutscher Patrioten und versäumte keine Gelegenheit, ihre herangewachsenen Söhne auf die traurigen politischen Zustände des damaligen Deutschlands aufmerksam zu machen, besonders auf die elende Kleinstaaterei. „Versprecht mir,“ wiederholte sie oft denselben, „versprecht mir, nie in einem kleinen Staate Eure Heimath zu suchen, wählt große Städte in großen Staaten, aber behaltet ein deutsches Herz für das deutsche Volk!“
Und der älteste ihrer Söhne, Heinrich, der Dichter, ging bekanntlich nach Paris, der zweite, Gustav, nach Wien, der dritte, Maximilian, nach Petersburg.
Die innige Liebe, welche die Kinder bis in’s späteste Alter für die Mutter bewahrten, ist ein schönes Zeugniß dafür, daß Frau Betty es verstanden, nicht blos die treue Pflegerin der Kindheit, sondern auch die Theilnehmerin des geistigen Lebens ihrer Kinder zu sein. Heinrich, der Dichter, hat ihr in zahlreichen Liedern und Sonetten, in den „Nachtgedanken“, in dem Wintermärchen „Deutschland“ und an anderen Orten die zärtlichsten Gefühle geweiht. Wir erinnern nur an sein rührend schönes Sonett:
- An meine Mutter.
Ich bin’s gewohnt den Kopf recht hoch zu tragen,
Mein Sinn ist auch ein Bischen starr und zähe;
Wenn selbst der König mir in’s Antlitz sähe,
Ich würde nicht die Augen niederschlagen.
Doch, liebe Mutter, offen will ich’s sagen:
Wie mächtig auch mein stolzer Muth sich blähe,
In deiner selig süßen, trauten Nähe
Ergreift mich oft ein demuthsvolles Zagen.
Ist es dein Geist, der heimlich mich bezwinget,
Dein hoher Geist, der Alles kühn durchdringet,
Und blitzend sich zum Himmelslichte schwinget?
Quält mich Erinnerung, daß ich verübet
So manche That, die dir das Herz betrübet,
Das schöne Herz, das mich so sehr geliebet?
Auf Zacharias Werner’s Charakter und literarische Entwickelung übte die Mutter einen unverkennbar unheimlichen Einfluß. „Schon mit dem ersten Hauche,“ sagt Laube in seiner Literaturgeschichte, „scheint er von ihr die Anlage zu allem Ungestüm,
[837] aller Kraft, all den Gegensätzen, aller ungelösten Verwirrung empfangen zu haben. Seitdem er seinen Vater verloren, der Professor der Geschichte und Beredsamkeit an der Universität zu Königsberg war, blieb er bis zum zweiundzwanzigsten Jahre bei der Mutter, einer Nichte des Dichters Valentin Pietsch. Werner selbst nennt sie eine reine heilige Kunstseele und Märtyrerin. Hippel, der Dichter der ‚Lebensläufe in aufsteigender Linie‘, sagte von ihr, daß sie jeden Gegenstand mit Adlerblicken durchschaute, und auch Hoffmann, der Verfasser der ‚Serapionsbrüder‘, giebt ihr das Zeugniß, daß sie mit Geist und Phantasie hoch begabt gewesen sei.
In ihrem besten Alter verfiel sie aber in eine schwärmerische Gemüthskrankheit, von der sie nie genas und in der sich der Wahn in ihr ausbildete, sie sei die Jungfrau Maria und ihr Sohn der Heiland der Welt. Es ist unverkennbar, daß diese Geistesart der Mutter, in welcher Weise auch deren Zerrüttung sich ausgesprochen haben mag, nicht ohne tiefen Einfluß auf das empfängliche Gemüth des Sohnes geblieben ist, des philosophisch gebildeten protestantischen Dichters von ‚Dr. Martin Luther oder die Weihe der Kraft‘, des Dichters, in dem anfangs keine Spur von religiöser Schwärmerei sich findet, viel mehr gerade vom Gegentheile, des Dichters der endlich als eifernder, mystischer katholischer Bußprediger seine Schreibfeder testamentarisch vermacht hat der Schatzkammer der Mutter Gottes zu Mariazell als eines Hauptwerkzeuges seiner Verirrungen, seiner Sünden und seiner Reue.“
Justinus Kerner, der somnambule, hellsehende Dichter, berichtet in seinem „Bilderbuch aus der Knabenzeit“ über seine Mutter, eine geborene Stockmayer: „Sie war von kleiner Gestalt, zarter Natur und in ihrer Jugend von nicht gewöhnlicher Schönheit.“ Bei ihrer Ankunft als Braut in Ludwigsburg habe sie Schubart besungen:
„Die Nachtigall sang froh dazu:
Wie schön bist Du! wie schön bist Du!“
Durch ihr ganzes Leben waren stille Demuth und Gehorsam gegen ihren Eheherrn, ja selbst Furcht vor ihm, Hauptzüge ihres Charakters. Sein Wille war ihr strenges Gebot, und ihr ganzes Dichten und Trachten ging nur dahin, ihn bei gutem Muthe zu erhalten und alles Unbequeme von ihm zu entfernen. Auf seinem Todtenbette, wo er die Hostie nicht mehr verschlingen konnte, nahm sie dieselbe von den kalten, ersterbenden Lippen und verschlang sie in seinem Namen unter Gebet und Thränen. Diese krankhafte Excentricität zeigt bei ihren Schwestern noch trübere Erscheinungen. Eine ältere Schwester, die sehr geistreich gewesen und poetische Anlage gehabt haben soll, verfiel später in Melancholie; ihr Sohn wurde wahnsinnig. Ihre Tochter, deren Sohn der Dichter Wilhelm Hauff war, wurde Nachtwandlerin, und auch die jüngste Schwester der Mutter ist wahnsinnig gewesen. „Das Gefühlsleben,“ berichtet Kerner selbst, „herrschte bei meiner Mutter durchaus vor, aber nie erlitt sie eine Störung des Geistes. Es erzeugte sich in ihr kein Wahnsinn, aber, wenn man mich so nennen will, doch in ihr ein Poete, und so war es auch bei Wilhelm Hauff’s Mutter. Ich führe diese physischen Zustände einzelner Glieder meiner Familie an, weil daraus hervorgeht, wie Wahnsinn, Somnambulismus und Dichtkunst mit einander verwandt sind, und oft eins aus dem andern hervorgeht.“ – Bei dem Dichter der „Seherin von Prevorst“, der „Erscheinungen aus dem Nachtgebiete der Natur“ hat sich dies in hohem Grade bewahrheitet.
Und wie bei den erwähnten deutschen Dichtermüttern zeigen sich dieselben seelischen Uebertragungen auch bei Dichtermüttern fremder Nationalitäten. Dämonischer noch als bei dem vorgenannten deutschen Dichter Zacharias Werner sind die düstern Schatten, welche das Bild der Mutter Byron’s auf ihren großen Sohn wirft.
Lord Byron! Er war geboren – so charakterisirt ihn sein geistreicher Landsmann Macaulay – mit Ansprüchen auf Alles, was Menschen begehren und bewundern. Aber einem jeden der unzähligen Vortheile, welche ihm vor Andern zu Theil geworden, war ein Zusatz von Unglück und Entwürdigung beigegeben. Aus einem alten, edlen Hause entsprossen, trat er eine Erbschaft an, verkümmert und befleckt durch Verbrechen und Thorheiten seiner nächsten Vorfahren. Sein unmittelbarer Vorgänger war arm gestorben und nur die Milde seiner Richter hatte ihn vor dem Tode durch Henkershand bewahrt. Der junge Lord hatte große Geistesgaben, aber auch ihnen war viel Ungesundes beigemischt. Von Natur gefühlvoll und hochherzig, machten Launen ihn reizbar und wunderlich. Bei apollinischer Schönheit der Gesichtszüge war er doch nur ein Krüppel, der über die Straße hinkte.
Aber wie launisch auch das Schicksal gegen ihn war, war doch die Mutter noch tausendmal launischer. Von leidenschaftlichen Ausbrüchen des Zornes ging sie zu ebenso leidenschaftlichen Ausbrüchen einer ausschweifenden Zärtlichkeit über. Es schien, als ob die eigene Mutter nicht weniger als die Natur und alle seine Umgebungen es darauf angelegt hätten, ein verzogenes Kind aus ihm zu machen. Kein Wunder, daß er es geworden.
Catharina Gordon, die einzige und reiche Erbin aus altadeliger schottischer Familie, war die zweite Gattin des Capitain Byron. Der eheliche Friede ward ebenso schnell vernichtet, wie die ganze Habe der Frau schon nach einem Jahre verthan war. Das einzige Kind, George Byron, ward erst nach der Trennung der Eltern 1788 geboren und verlebte seine Kinder- und Jugendjahre bei der Mutter.
Züge ihres Charakters zeigten sich schon im zartesten Alter auch bei dem Kinde. Als George eines Tages gescholten wurde, weil er ein neues Röckchen, das ihm eben angezogen worden, beschmutzt hatte, erwiderte er kein Wort. Aber er wurde bleich wie der Tod, und mit beiden Händchen das Kleid ergreifend, zerriß er es von oben bis unten und trotzte in stummer Wuth dem Aerger der Wärterin. Ja, es wurde noch lange eine Untertasse als Reliquie aufbewahrt, aus welcher das Kind einst in einem solchen Anfalle von innerer Empörung ein Stück förmlich herausgebissen hatte. Die Mutter war ihm das Vorbild zu solchen Scenen; nur einer unbedeutenden Veranlassung bedurfte sie, um in so große Wuth zu gerathen, daß sie Alles umherwarf und zerbrach, daß sie sich die Haube vom Kopfe riß und mit Füßen zusammentrat.
Zum größten Unglücke für den Knaben war seine Erziehung ganz dieser Mutter überlassen, bei der selbst der Umstand, welcher sonst die Zärtlichkeit noch erhöht, dazu dienen mußte, das gestörte Verhältniß noch mehr zu vergiften. Das körperliche Mißgeschick ihres Sohnes, diese „Hintansetzung der Natur“, welche der Dichter bis an sein Ende bitter empfand, gab der Wildheit der Mutter leider nicht selten Veranlassung zu Spott und Hohn. Und wenn dieser Knabe dennoch bei alledem ein großer Dichter wurde, ist es zu verwundern, wenn seine Werke in reichem Maße von einem wahrhaft dämonischen Elemente durchdrungen wurden?
Dieses dämonische Element äußerte sich auch bei der Nachricht von dem Tode seiner Mutter. „Meine arme Mutter,“ schreibt er dem Freunde, „ist gestern gestorben, und ich komme von London, um sie in die Familiengruft zu geleiten. Erst gestern erfuhr ich, daß sie krank sei, und heute schon erhielt ich die Todesbotschaft. Ich fühle jetzt, wie wahr der Dichter spricht, wenn er sagt, daß wir nur Eine Mutter haben können. Friede sei mit ihr!“ Und doch war er dem Leichenzuge nicht gefolgt, sondern sah ihm nur vom Thore der Abtei mit eisiger Kälte nach und trat alsbald an seine täglichen Morgenübungen im Faustkampfe mit mehr als gewöhnlicher Heftigkeit. Daß dies aus der Marotte der Absonderlichkeit geschehen, darauf leitet überzeugend eine Beobachtung der Dienerin. Diese kam zufällig in der Nacht nach der Ankunft des Lords an der Thür des Zimmers vorüber, in dem die Entschlafene lag. Sie glaubte drinnen schwere Seufzer zu vernehmen, und als sie eintrat, sah sie zu ihrem Erstaunen Byron allein am Bette der Leiche in einem Strome von Thränen, und vom Schmerzgefühle überwältigt, rief er der Eintretenden entgegen: „Ach, ich hatte nur diese eine Freundin in der Welt, und sie ist von mir gegangen.“
Und auch in dieser Schmerzensäußerung ist der Charakter der Mutter zu erkennen. Bei der kältesten Gleichgültigkeit, bei allen Anfällen von Wuth und Zorn war sie im tiefsten Herzensgrunde doch von Stolz und Zärtlichkeit für den Sohn erfüllt. Seiner literarischen Thätigkeit widmete sie die zärtlichste Theilnahme. Sie ahnte seine Größe im Voraus. Man fand in ihrem Nachlasse eine sehr sorgfältig geordnete Sammlung von Urtheilen und losen Blättern, die das Genie des Sohnes anerkannt und verkündet hatten.
[838] Neben dieses Gemälde voll düsterer Schatten stellen wir ein Bild voll Licht und Wärme, das der Mutter von Alfons Lamartine. Alix des Roys – so hieß die Mutter unseres Dichters – war die Tochter des Generalintendanten des Herzogs von Orleans und der Untergouvernante der prinzlichen Kinder; sie nahm in ihren Kinderjahren Theil an den Lectionen und Spielen des nachmaligen Königs Louis Philipp, und die Bilder der berühmtesten Männer jener Zeit blieben ihrem Gedächtnisse eingeprägt, wie die Spuren vorweltlicher Wesen in dem Gesteine der Gebirge. Von Rousseau war sie schwärmerisch eingenommen. Sie bekannte sich nicht zur Religion seines Genies, aber zu der seines Herzens. Die Schrecken der Revolution hatten die Frau hart getroffen. Sie nährte den Sohn, während der angebetete Gatte an den Stufen des Schaffots stand. Was Wunder, wenn die Menschen, deren Leben aus so finsteren Tagen datirt, eine Neigung zur Traurigkeit und Melancholie haben.
Wenden wir uns indeß an ein anmuthigeres Bild aus der Kindheit des Dichters. Auf einem Kanapee von geflochtenem Stroh in der Ecke, welche von dem Kamine des einfachen Zimmers und der Wand des Alkovens gebildet wird, sitzt eine Frau, welche noch sehr jung zu sein scheint, obgleich sie schon beinahe fünfunddreißig Jahre zählt. Ihre hohe Gestalt besitzt noch die ganze Geschmeidigkeit und Eleganz des jungen Mädchens; ihre Züge sind so zart, ihre schwarzen Augen haben einen so offenen und durchdringenden Blick, ihre durchsichtige Haut läßt unter ihrem etwas blassen Gewebe so deutlich das Blau ihrer Adern und das flüchtige Roth ihrer geringsten Bewegung wahrnehmen, ihre tief schwarzen, aber sehr feinen Haare fallen so wellenförmig und seidenartig an ihren Wangen bis auf die Schultern herab, daß es unmöglich ist zu entscheiden, ob sie achtzehn oder dreißig Jahre zählt.
Diese halb auf ihre Kissen zurückgelehnte junge Frau hält ein kleines Mädchen, welches, mit dem Kopfe auf einer ihrer Schultern ruhend, eingeschlafen ist. Das Kind hat noch um seine Finger eine der langen schwarzen Haarlocken seiner Mutter geschlungen, mit welcher es gespielt hatte. Ein anderes, etwas älteres kleines Mädchen sitzt auf einem Schemel zu Füßen des Kanapees. Es ruht mit seinem blonden Köpfchen auf den Knieen seiner Mutter. Diese junge Frau ist des Dichters Mutter; die beiden Kinder sind seine Schwestern. – Lassen wir nun den Dichter selbst erzählen.
„Dem Kamine gegenüber sitzt ein Mann, den Ellenbogen auf den Tisch gestützt, mit einem Buche in der Hand. Er liest mit lauter Stimme vor. Ich höre‚ noch jetzt den männlichen, vollen, kräftigen und dessen ungeachtet biegsamen Ton dieser Stimme, welche lange, tönende Perioden dahinfließen läßt. Meine Mutter hört mit etwas geneigtem Kopfe träumerisch zu. Ich, mit meinem dem Vater zugewendeten Gesicht und auf eines seiner Kniee gestemmtem Arme, sauge jedes Wort ein, greife jeder Scene vor, verschlinge das Buch, dessen Blätter sich für meine ungeduldige Phantasie zu langsam umwenden. Was enthält dieses Buch? – das erste Buch, dessen so beim Eintritte in das Leben vernommener Inhalt mich wirklich lehrt, was ein Buch ist, und mir sozusagen die Welt der Rührung, der Liebe und der Träumerei öffnet?
Dieses Buch ist ‚Das befreite Jerusalem‘. – So war Tasso, von meinem Vater vorgelesen, von meiner Mutter mit Thränen in den Augen angehört, der erste Dichter, der die Saiten meiner Phantasie und meines Herzens gerührt hat.“ –
An anderen Stellen erzählt Lamartine:
„Meine Erziehung lag ganz in den mehr oder weniger heiteren Augen und dem mehr oder weniger offenen Lächeln meiner Mutter. Die Zügel meines Herzens lagen in dem ihrigen. Sie forderte von mir weiter Nichts als Güte und Wahrheit. Ich hatte keine Mühe, es zu sein. Mein Vater und meine Mutter waren meine ersten Lehrer. Ich sah sie lesen – und wollte lesen lernen; ich sah sie schreiben – und bat sie, mir zu helfen, Buchstaben zu machen. Meine Ideen standen mit denen meiner Mutter in steter Verbindung und entwickelten sich sozusagen in den ihrigen. Aus der Seele meiner Mutter sog ich alle nährenden Säfte meines jungen Lebens; ich las durch ihre Augen, fühlte durch ihre Eindrücke, liebte durch ihre Liebe. Sie übersetzte mir Alles, die Natur wie die Gefühle, die Herzensregungen wie die Gedanken. Der Unterricht, den ich erhielt, bestand nicht aus Lectionen; es war die Handlung des Lebens, Denkens und Fühlens selbst, welche ich unter ihren Augen mit ihr, wie sie und durch sie verrichtete. – So bildete sich mein Herz nach einem Muster, das ich nicht einmal zu betrachten brauchte, so sehr war es mit meinem eigenen Herzen verschmolzen.“
Schließlich noch eine einzige Stelle für deutsche Mütter.
„Meine Mutter,“ berichtet Lamartine, „kümmerte sich sehr wenig um das, was man unter Unterricht zu verstehen pflegt. Sie strebte nicht danach, aus mir ein für mein Alter früh entwickeltes Kind, ein sogenanntes Wunderkind, ein Genie zu machen. Sie reizte mich nicht zu dem Streben, es besser zu machen, als Andere, was bei Kindern meist oder oft eine Eifersucht des Stolzes ist. Sie verglich mich mit Niemand; sie erhöhte mich nicht und erniedrigte mich nicht durch gefährliche Vergleichungen. Sie dachte mit Recht, daß ich, wenn meine intellectuellen Kräfte einmal durch die Jahre und die Gesundheit des Körpers und Geistes entwickelt sein würden, ebenso geläufig wie ein anderes Kind das wenige Griechisch und Latein und Rechnen begreifen würde, aus dem die trivialen Kenntnisse bestehen, auf die man einen so hohen Werth legt. Was sie wollte, das war, aus mir ein glückliches Kind, einen gesunden Geist und eine liebende Seele, ein Geschöpf Gottes zu bilden und nicht eine Puppe der eitlen Selbstsucht und des Dünkels.“
Deutsche Mütter, beherzigt diese Erziehungsweise!
Anmerkungen (Wikisource)
- ↑ Da dieser Artikel vorzugsweise Frauen gewidmet ist, so sei es gestattet, hier an Stolle’s schönes Gedicht zu erinnern:
Wenn eine Mutter betet für ihr Kind.
Der reinste Ton, der durch das Weltall klingt,
Der reinste Strahl, der zu dem Himmel dringt,
Die heiligste der Blumen, die da blüht,
Die heiligste der Flammen, die da glüht,
Ihr findet sie allein, wo, fromm gesinnt,
Still eine Mutter betet für ihr Kind.
Der Thränen werden viele hier geweint,
So lange uns des Lebens Sonne scheint,
Und mancher Engel, er ist auserwählt,
Auf daß er uns’re stillen Thränen zählt –
Doch aller Thränen heiligste, sie rinnt,
Wenn eine Mutter betet für ihr Kind,
O schaut das Hüttchen dorten still und klein,
Nur matt erhellt von einer Lampe Schein!
Es sieht so trüb’, so arm, so elend aus,
Und gleichwohl ist’s ein kleines Gotteshaus,
Denn drinnen betet, fromm gesinnt,
Still eine treue Mutter für ihr Kind.
O nennt getrost es einen schönen Wahn,
Weil nimmer es des Leibes Augen sah’n,
Ich lasse mir die Botschaft rauben nicht,
Die Himmelsbotschaft, welche zu uns spricht:
Daß Engel Gottes stets versammelt sind,
Wenn eine Mutter betet für ihr Kind.