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Der Ultimus

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Textdaten
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Autor: Ferdinand Dieffenbach
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Titel: Der Ultimus
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aus: Die Gartenlaube, Heft 47, S. 789–791
Herausgeber: Ernst Keil
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Erscheinungsdatum: 1875
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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[789]
Der Ultimus.
Ein Lebensbild von Ferdinand Dieffenbach in Darmstadt.

„Setz’ Dich, Liebig! Du bist ein Schafskopf.“

Der, welcher so sprach, war Herr Johann Justus Storck, Conrector am Gymnasium zu Darmstadt, ein gefürchteter Schulmonarch, der sich durch seine Ausgaben der Fabeln des Phaedrus und des Cornelius Nepos auch eine gewisse literarische Unsterblichkeit von kurzer Dauer im Kreise der hessischen Schuljugend erworben hat.

Der mit dem Titel „Schafskopf“ Beehrte war Justus [790] Liebig, der vierzehnjährige Sohn des Materialisten Georg Liebig zu Darmstadt. Liebig saß mit noch zwei Unglücksgefährten untenan, auf jenem Plätzchen, auf dem man in der Schule nicht minder große Qualen aussteht, als sie wohl jemals ein armer Teufel auf der Armsünderbank, dem man vor seinen Augen das Stäbchen zerbrach, erdulden mußte.

Der Conrector Storck hatte gerade seinen schlechten Tag, denn ebenso unbefriedigt schied er von dem unter Liebig sitzenden Jungen, Georg Gervinus,[1] dem dreizehnjährigen Sohne des Darmstädter Gerbers Gervinus.

Nun drohte sich das Unheil über dem Haupte desjenigen, der zu allerunterst saß, dem eigentlichen Ultimus, dem vierzehnjährigen Johann Jacob Kaup, gleichfalls einem Darmstädter Bürgersohn, zu entladen. Allein der Gestrenge zog es vor, statt diesen auf die Folter zu spannen, wieder zu dem jungen Liebig zurückzukehren.

„Was willst Du werden, Liebig?“

„Chemiker.“

„Dummkopf – was ist denn das!?“ entgegnete Herr Storck mit verächtlichem Achselzucken. „Seht Ihr,“ fuhr er fort, „Ihr drei seid unwürdig in die Hallen der Wissenschaft einzutreten. Köpfe habt Ihr zwar größer und dicker wie alle Anderen, aber der Spiritus fehlt darin. Spart Euch die Mühe und Euren Eltern das schöne Geld! Liebig, Dein Latein reicht gerade aus zum Apotheker; Du, Gervinus, kannst weder Latein noch Deutsch, und Du, Kaup, kannst überhaupt gar nichts.“

In der That wurde Liebig – es war im Jahre 1814 – bald darauf zu einem obscuren Apotheker in Heppenheim in die Lehre gethan, und Gervinus wurde Lehrling in dem in Darmstadt noch bestehenden Ellenwaarengeschäfte von G. Schwab. Einige Jahre länger hielt es Kaup aus, wiewohl auch er die Anstalt nicht absolvirte.

Alle Drei sind in der Folge hochberühmt geworden, dem Conrector Storck aber bleibt der Ruhm, die drei größten Männer, welche überhaupt noch auf den Bänken des Darmstädter Gymnasiums saßen, für Dummköpfe erklärt zu haben.

Der Conrector Storck war sicher kein Genie, aber auch einem klügeren wäre es möglich gewesen, die drei späteren großen Gelehrten als Knaben zu unterschätzen. Es ließe sich ein eigenes Capitel über das Thema schreiben: „Das Genie auf der Schulbank.“ Die Genies bilden bekanntlich eine verschwindende Minderheit. Unsere Schulanstalten sind nicht dafür bestimmt, diese vereinzelten Genies aufzusuchen und ihre speciellen Fähigkeiten zu entwickeln, sondern sie sind für die große Zahl der Durchschnittsmenschen berechnet, und ihre Aufgabe ist es, diese in den Schulwissenschaften möglichst weit vorwärtszubringen. Das Genie aber empfindet in der Jugend nur die Befähigung für sein Fach, und erst später greift es auf andere Gebiete hinüber. Es ist eine gewisse einseitige, aber dafür um so kraftvollere Entwickelung der Geistesfähigkeiten nach der Seite des Faches hin, für welches es bestimmt ist, vorhanden. Daher sind dem Genie die Schulwissenschaften nicht immer der Weg, der zu dem ersehnten Ziele der Fachwissenschaft führt, sondern das Hinderniß, das es beseitigen soll, ehe es zu demselben gelangen darf. So kann’s kommen, daß ein mittelmäßig begabter, aber braver, fleißiger Junge, dem wir später in unbedeutender Stellung begegnen, als Primus der Classe und das Genie eines Liebig als Ultimus figurirt. Eine klägliche Rolle aber spielt dem nüchternen Schulmann gegenüber der phantasievolle Dichter, der, um in die Welt zu passen, einen Lebensberuf erwählen muß, zu dem er aber, er, der mit Zeus im Himmel lebt, selten recht passen will. Einer unserer ersten Romanschriftsteller gestand mir einst, daß es ihm als Gymnasiast nicht besser wie Liebig, Gervinus und Kaup ergangen sei, und von Vater Goethe, auf den heute jede Facultät stolz sein könnte, weiß man, daß er zu Straßburg im Doctorexamen durchfiel.

Wir schreiben diese Einleitung zum Troste der Eltern, deren Buben nicht recht auf der Schulbank vorwärtskommen. Zwar wird nicht aus jedem Ultimus ein Liebig, Gervinus oder Kaup, aber es ist doch Hoffnung vorhanden, daß, wenn ein Beruf für ihn erwählt wird, der seinen speciellen Befähigungen entspricht, noch ein ordentlicher und tüchtiger Mann aus ihm wird, der sich in seinem Kreise hervorthun und auszeichnen kann. Das Leben wird immer vielgestaltiger und mannigfaltiger und jede Befähigung, auch diejenige, welche sich innerhalb ganz enger Grenzen bewegt, kann zum Nutzen des Ganzen verwendet werden und Ehre und Geld einbringen. Einer meiner Jugendfreunde, der nie ein Examen machte und an dem Hopfen und Malz verloren schien, wurde, sobald er nur einige Anfangsgründe der Chemie kannte, auf eine anscheinend unbedeutende technische Frage aufmerksam, die ein Professor zu berücksichtigen nicht der Mühe werth gefunden hätte. Unbekümmert um schlechte Schulzeugnisse und Examina, lebte er nur für seine Lieblingsidee, und es gelang ihm, eine Erfindung zu machen, die sich von solcher Tragweite erwies, daß sie ihm jährlich viele Tausende einträgt.

Es gehört mit zur Bestimmung der „Gartenlaube“, Vorurtheile zu zerstreuen. Vorurtheile gegen einzelne Individuen entspringen aber gar zu häufig in der Schule. Unsere Schulmeister rühmen sich zwar, Königgrätz und den französischen Krieg gewonnen zu haben, aber wie manches Talent haben sie auch schon geschädigt und verkannt, wie manches Vorurtheil ist schon entsprungen durch unüberlegte Bemerkungen dünkelvoller Schulfüchse! Ein gewisser Kaiser hielt jeden für einen Räuber und Mörder, der mit seiner verballhornten griechischen Grammatik nicht zurecht kam. Mancher hat zeitlebens an solchen Vorurtheilen zu tragen. Eines dieser Vorurtheile ist dasjenige, welches sich häufig dem Ultimus anheftet, und um dagegen anzukämpfen, haben wir uns Ultimus Kaup zu unserer Schilderung auserwählt.

Im Jahre 1821 bezog Kaup die Universität Göttingen, die er bald enttäuscht wieder verließ, denn in dem berühmten Blumenbach erkannte er eine bedeutungslose Persönlichkeit, deren Grimassen und Hanswurstiaden nur für die Unterhaltung des zahlreichen gut zahlenden Auditoriums berechnet waren. Mit wenigen Gulden in der Tasche machte er sich auf den Weg nach Holland und fand einen gutmüthigen Schiffer, der ihn eine große Strecke rheinabwärts unentgeltlich mitnahm. Dort, in Leyden, war es, wo Temmink, der berühmte Director des großen Museums daselbst, sich des wissensdurstigen Jünglings annahm. Mit Ausbalgen von Thieren und Vögeln erwarb sich dieser seinen Lebensunterhalt, und als er, zweiundzwanzig Jahre alt (1825), in seine Vaterstadt zurückkehrte, war er ein Mann von reichem Wissen und unermüdlichem schöpferischem Streben. An dem Naturaliencabinete, dessen Inspector er nach einigen Jahren wurde, fand er eine Anstellung, und in der Folge verdankte ihm die Wissenschaft eine Fülle von Entdeckungen, die seinen Namen bei den Gelehrten aller Welttheile bekannt machten. Wiederholt hielt er sich später in Frankreich und England auf. Wissenschaftliche Koryphäen wie Owen, John Gould, John Edward, George Gray, Falconer Enneskillen und der Earl of Derby zählten zu seinen Freunden, und in Neuseeland benannte der berühmte Geolog Dr. Julius Haast in Christ-Church einen Berg ihm zu Ehren „Mount Kaup“. Das Darmstädter Naturaliencabinet, vorher in den Händen eines Oberforstrathes, für welchen die Wissenschaft ein verschlossenes Buch war, wurde durch ihn, namentlich durch seine paläontologischen Funde und Entdeckungen, zu einem der ersten des Continents, und noch heute kommen Naturforscher aus weiter Ferne, welche seine prachtvolle Sammlung vorsündfluthlicher Thiere benutzen. Als redende Zeugen der Größe Kaup’s stehen hier die gewaltigen Gerippe des in Eppelsheim aufgefundenen Dinotheriums, des Mastodons, des Halitheriums, des Mammuth und anderer Riesenthiere der Vorwelt.

Eine reiche wissenschaftliche Literatur verdanken wir Kaup und „von keinem anderen Zoologen,“ schreibt Professor Röder in Heidelberg, „kann in neuer Zeit gesagt werden, daß er wie er von früher Jugend bis zu seinem vollendeten siebenzigsten Jahre mit so beharrlichem Fleiße und solchem so überaus seltenen vergleichenden Scharfsinn nach und nach die ganze Thierwelt der eingehendsten Forschung unterzogen.“ Gleich [791] seinen Schulfreunden Liebig und Gervinus war er anerkanntermaßen ein Gelehrter und Forschergeist ersten Ranges. Seinen Darmstädter Landsleuten ist dieses nie recht klar geworden, ein Umstand, der zum Theil in einem bekannten Sprüchworte, zum Theil aber auch darin seine Erklärung findet, daß seine Wissenschaft nicht so unmittelbar in das praktische Leben eingreift wie die Chemie und daß sie der großen Masse der Gebildeten nicht so nahe liegt wie die Geschichte.

Der Umstand, daß das von Kaup bebaute wissenschaftliche Gebiet dem großen Publicum allzufern liegt, hindert uns auch auf seine wissenschaftlichen Leistungen näher einzugehen, nur eins sei hier gesagt: die Thatsache, daß wir in ihm einen deutschen Vorgänger Darwin’s vor uns haben, welcher dem englischen um viele Jahrzehnte voraus war, erregt heute, wo die Darwin’sche Theorie so viel von sich reden macht, ein allgemeineres Interesse. Im Jahre 1829 erschien von ihm eine kleine Schrift: „Skizzirte Entwickelungsgeschichte der europäischen Thierwelt“ – ein Werk, worin der später von Darwin verfochtene Gedanke einer Entwickelung höherer aus niederen Thierarten in einer Anzahl parallel laufender, vom Amphibium an durch die Vogelwelt hindurch bis zum Säugethier aufsteigender Reihen dergestalt bis in’s Einzelne durchgeführt war, daß diese geistreiche, von genauester Sachkunde zeugende Arbeit sicherlich das größte Aufsehen erregt haben würde, wenn der Verfasser ein Ausländer gewesen wäre, oder wenn englische und französische Naturforscher damals sich in dem Maße wie heutzutage mit der wissenschaftlichen Literatur unseres Vaterlandes beschäftigt hätten.

Später, vom Jahre 1848 an, verwarf er auf Grund reiferer wissenschaftlicher Kenntnisse und Erfahrungen diese seine frühere Ansicht auf das Entschiedenste und in Briefen an Professor Leonhardi zu Prag 1871 erklärte er seine „Entwickelungsgeschichte“ für eine Jugendsünde. „Es giebt körperliche Epidemien,“ sagt er „die, wie Pest, Cholera und Blattern, wie ein Wunder in der Welt liegen und ganze Welttheile anstecken; allein es giebt auch geistige Epidemien wie Autodafés, Hexenprocesse, Bluthochzeiten, Infallibilitäten, Tischrücken, Homöopathie, Gall’sche Schädellehre und die Lehre von Transmutationen und dem den Giraffenhals verlängernden Kampf um’s Dasein. Statt zu sagen: ‚in den Giraffen tritt der Vogeltypus auf, wie bei der Hyäne, dem Faulthiere, der Fledermaus, den Pitheciden (Orang, Chimpanse, Gorilla), und es ist deshalb ganz natürlich, daß die vorderen Extremitäten höher entwickelt als die hinteren sind,‘ nimmt man lieber Wunder an und glaubt, daß ein kurzhalsiges Thier mit kurzen Vorderbeinen durch den stetigen Gebrauch immer länger und länger geworden sei. Gnade der Zoologie, Botanik, Mineralogie, Anatomie und Chemie, wenn ein solcher Unsinn sich weiter Bahn brechen könnte.“

Dieser Widerruf Kaup’s ist natürlich für die Wissenschaft nicht maßgebend, dem großen Publicum kann er aber eine Mahnung zur Besonnenheit sein. Bei Kaup ist es anzuerkennen, und er hat diese Tugend mit seinem Jugendfreunde Liebig gemein, daß er frühere, von ihm später als irrig erkannte Meinungen ungescheut und rückhaltslos widerrief. Ein Ruhm aber muß ihm noch bleiben, der nämlich, daß er zu einer Zeit, wo wissenschaftliche Vorurtheile und phantastische Hypothesen manchem Gelehrten Ruhm und Ansehen verliehen, gleich seinem Freunde Liebig durch Anwendung strenger analytischer Methoden zu einer rationellen Entwickelung der zoologischen Wissenschaft den Grund legte.

Kaup starb am 4. Juli 1873, siebenzig Jahre alt, nach kurzer Krankheit.

Möge ihm, dem Todten, seine Vaterstadt die Anerkennung zu Theil werden lassen, die sie dem Lebenden versagt hat! Man sammelt schon seit längerer Zeit in Darmstadt zu einem Liebig-Denkmal. Wäre es nicht geeigneter, die drei großen Söhne Darmstadts, die drei Jugendfreunde Liebig, Gervinus und Kaup, durch ein gemeinsames Denkmal zu ehren? Diese Anregung dient vielleicht dazu, in der Heimath und im Ausland an diese Ehrenpflicht zu mahnen. Wir schließen mit dem Ausspruche eines gefeierten deutschen Naturforschers, mit Georg Forster’s Worten: „Der Nachruhm ist das eigentliche Erbe der wenigen Edlen. Oft zündete die Ehre, die man dem Andenken eines großen Mannes weihte, den Funken des Genius in einem anderen Busen an, und ein Zeitalter, welches bei den Verdiensten eines großen Mannes schweigt, verdient die Strafe, daß es keinen ähnlichen Mann aus seiner Mitte hervorbringen kann.“



  1. Die in Obigem enthaltenen Mittheilungen über die Jugend der drei Gelehrten beruhen theils auf eigenen Mittheilungen Kaup’s, wie er sie seinen Angehörigen erzählte, theils auf Mittheilungen von Schulfreunden. Einer der letzteren weicht nur hinsichtlich des jungen Gervinus von den anderen ab und versicherte mich, derselbe sei zwar fleißig gewesen und habe einen besseren Platz als seine Jugendfreunde inne gehabt, habe aber in gleicher Weise unter dem Zorne des gefürchteten Storck leiden müssen.