Nicht im Geleise
Die beiden Freunde, welche mit langsamen Schritten auf dem Bürgersteig einherwanderten, sahen oftmals ihren ruhigen Gang durch all die Hindernisse unterbrochen, welche Straßen- und Häuserauffrischungen im Sommer dem Verkehre der deutschen Residenz bieten. Hier qualmte ihnen eine Wolke von Mauerschutt entgegen; da baute sich ein Gerüst bis an die Grenzen des Fahrdammes vor; dort dampfte aus einem Asphaltkessel widriger Dunst und Arbeiter lagen auf der Erde, den schwarzen heißen Brei mit flachen Hölzern glatt auf den Boden zu streichen.
Dabei erfüllte ein unendliches Getöse die Luft, Gefährte aller Art mischten dumpf das Rollen ihrer Räder und hart klappten die trottenden Pferdehufe dazwischen.
Das Auge, welches den Himmel suchte, fand nur dessen blassen Glanz über dem steigenden Dunstgewölk, zwischen dem unentwirrbaren Hin und Her von Telephondrähten, welche droben von Dach zu Dach sich spannen. Eine fast unerträgliche Hitze beklemmte den Athem und machte im Verein mit dem Straßenlärm jedes Gespräch unmöglich.
Erst als die Freunde dem Potsdamer Platz entronnen waren und sich in der Bellevuestraße nebeneinander fanden, jetzt durch nichts behindert, zusammen Schritt zu halten, sagte Marbod Steinweber, das dunkle Haupt aufathmend erhoben:
„Nach dieser mehrstündigen Streiferei durch die Straßen wundere ich mich noch mehr, Dich in Berlin zu finden. Der Lärm und die Hitze sind einfach erdrückend. Ich gehorche dem Zwange, der mich am ersten August meine Stellung antreten heißt. Aber Du, unabhängig wie Du bist …“
„Ich bitte Dich,“ unterbrach der Freund ihn etwas ungeduldig, „mir nie von meiner Unabhängigkeit zu reden. Ich bin so unfrei wie möglich. Aber davon abgesehen. Du hast einen Tag mit schwülbrütender Gewitterluft getroffen, sonst ist es in Berlin gerade im Sommer reizend zu leben. Von all den Schrecknissen kannst Du Dich jetzt gut erholen. Wir finden im Zoologischen Garten einige nette oder einige unangenehme Menschen, jedenfalls Bekannte also, die ich Dir empfehlen, oder vor denen ich Dich warnen kann. Aber laß uns fahren, diese langsam vor uns schlendernden Hausväter und Hausmütter machen ja das Vorwärtskommen unmöglich.“
Dabei trug sein feines, schönes Gesicht einen Ausdruck äußerster Ermüdung. Er war blaß und sein blondes, weiches Haar umgab eine Stirn voll Adel und Gedanken. Die wohlgebildete Gestalt trug er lässig, aber mit einem gewissen vornehmen Bewußtsein.
Marbod Steinweber sah den Freund forschend und voll Sorge an. Der innige Ausdruck verklärte sein männlich [222] kraftvolles Gesicht. Seit der Zeit, daß er und Alfred von Haumond einige Semester zusammen studiert hatten, liebte er ihn mit einem ihm selbst unerklärlichen, zärtlichen Mitleid.
Alfred fühlte den Blick des neben ihm Sitzenden. Er streckte ihm die Hand hin und nickte ihm dankbar zu.
„Mach Dir keine Gedanken meinetwegen. Du weißt, ich habe einmal nicht das Temperament zum Glücklichsein,“ sagte er lachend.
Es war noch immer das kindliche und liebenswürdige Lachen, das Marbod schon früher so an ihm geliebt; ein Lachen, mit welchem er die Sorgen, den Zorn und die Ungeduld zu entwaffnen pflegte; ein Lachen, welches sein von vielen und vorzeitigen Spuren seelischer Erregungen gezeichnetes Angesicht zu bestrickender Jugendschöne verklärte.
Marbod schüttelte den Kopf, mißbilligend, ärgerlich. Jedoch er sprach nichts weiter, er wußte, daß alle Fragen ihm nicht beantwortet würden, aber daß, in der rechten Stunde dazu, der Freund ihm sein Herz eröffnen werde.
Ihr Wagen gerieth allmählich in eine ganze Reihe anderer hinein, und Alfred hatte jetzt dieselbe Ungeduld wie vorher bei ihrem Gange unter langsam schlendernden Menschen. Alle Welt entrann der heißen Stadt und strebte dem kühlen Garten zu, wo Natur und Leben in jenem den Großstädtern gewohnten Gemisch genossen werden konnten. Alfred sagte. „Wir wollen aussteigen“ und verließ den Wagen so schnell, daß der andere über ihn lächelte wie über ein launenhaftes Kind.
„Siehst Du, das sind unsere Freuden: ein paar grüne Bäume, ein bißchen Musik, viel geputzte Menschen, umherrennende Kellner mit überlaufenden Bierseideln, zuweilen ein fernes Löwengebrüll, der Schrei eines Affen, Thiergeruch, und über dem allem der erblassende Abendhimmel. Ein Gemisch von Salon-, Wüsten- und Waldstimmung. Wo ist da Harmonie? Wenn Du wüßtest, wie ich nach Harmonie lechze!“
Zu diesem Erguß seines Freundes sagte Marbod Steinweber verwundert. „Ja, warum suchst Du sie denn nicht in der Stille und Schönheit Deines Landsitzes? Wenn ich solche Scholle mein nennte, hielte mich nichts in der Stadt.“
„Du sprichst wie der Taube von Musik. die Noten kannst Du lesen, aber dem Klange ist Dein Ohr verschlossen. Was ist diese Scholle? Ein Landgut, das ich bebauen kann? Nein, die kleinen Acker- und Wiesenstreifen, die dazu gehören, ernähren kaum das Pferd und die Kuh meines Verwalters. Eine herrschaftliche Villa? Nein, es fehlt der Park, es fehlt die Dienerschaft, die Equipage, der große Stil. Es war eine sonderbare Idee von meinem einsiedlerischen Vater, sich an einem der theuersten Plätze Deutschlands in so unpraktischer Weise anzukaufen und damit den dritten Theil meines kleinen Vermögens in vollkommen nutzloser Weise todt hinzulegen. Jedes Jahr, wenn ich da in meinem Landhäuschen den Herbst verbringe, erkenne ich von neuem, daß ich für diese thatenlose Einsamkeit nicht passe. Ich brauche Menschen, Menschen. Ein Weib!“
„So heirathe doch! Mit einem Weibe wird Dir die kleine Villa an dem Schwarzwald ein Paradies sein, und brauchst Du dann doch noch Menschen, hast Du Baden-Baden ja nahe genug,“ rieth Marbod herzlich.
„Heirathe! Wie Du das so einfach sagst! Ich weiß ein Weib, – eines – aber sprechen wir nicht davon! Sieh dort, unser alter Verbindungsbruder Ludolf Ravenswann mit seiner Frau. Wollen wir sie begrüßen? Ich verkehre ein wenig bei ihnen, obgleich es mir sozusagen gegen den Strich geht, denn Ravenswann ist mir nicht lieb und die Frau haßt mich, während sie mir entsetzlich ist,“ sagte Alfred, indem er den Freund am Arm festhielt und mit dem Stock auf einen fernen Tisch hindeutete, den Marbod natürlich nicht sogleich aus dem Gewirr von sitzenden Menschen herausfinden konnte.
„Wie, Ravenswann hat geheirathet? Das wird eine sehr wichtige und umständliche Sache für ihn gewesen sein, zu entscheiden, welches Mädchen er mit seiner Person beglücken solle,“ lachte Marbod. Sie waren unter einem Baume zwischen dem Musiktempel und dem Restaurationshause stehen geblieben, und Marbod setzte sich den Kneifer auf, um den Besprochenen zu suchen.
„Aber er hat wie immer das Praktischste gethan. Er hat eine schwer reiche Hansestädterin genommen, ich weiß nicht, ob aus Hamburg, Lübeck oder Bremen. Sie kocht vorzüglich, sage ich Dir, ist groß, schön gewachsen, vielleicht ein bißchen platt in der Taille, hat einen rosigen Teint und auf den Wangen einige Aederchen, die auf spätere Kupferröthe hindeuten, ist immer so glatt gekämmt, als tauche sie den Kamm in Oel oder Wasser, und trägt stets ein großkarrirtes braun-gelbes Kleid, eine Spitzenrüsche am Hals und diese mit einer großen Gemme geschlossen. Philosophische Gespräche dürfen in ihrer Gegenwart nicht geführt werden, und übrigens heißt sie Mietze.“
Steinweber lachte.
„Du bist noch immer boshaft, merke ich. Aber da entdecke ich sie, – in einem hast Du unrecht, sie hat ein helles Kleid an.“
Ernsthaft versicherte Alfred:
„Komm, sieh selbst; Du irrst Dich. Es ist gewiß gelb und braun karrirt. Es kann gar nicht anders sein. So habe ich sie zuerst gesehen und sehe sie ewig vor mir.“
Sie wanden sich durch die Menschen und Stühle und näherten sich dem Tisch, wo die von Alfred beschriebene Dame neben einem großen, mageren, blondbärtigen Manne saß. Er trug eine Brille und hatte ein ernstes, fast sorgenvolles Gesicht.
„Die Grazien standen nicht an seiner Wiege,“ murmelte Alfred noch und hob dann seine Stimme zu lauter Begrüßung.
„Meine gnädigste Frau, lieber Ravenswann, hier bringe ich einen lieben Menschen, der von nun an der unserige werden will,“ sagte er, indem er Marbod auf die Schulter schlug.
Ravenswann erhob sich, über sein trockenes Gesicht flog ein Schimmer wirklicher Freude, der Sonnenschein der Erinnerung an einstigen Jugendübermuth. Er schüttelte Marbod die Hand und stellte ihn seiner Frau vor, eine Handlung, welche Alfred mit einer ganz ernsthaften Erläuterung begleitete:
„Doktor Steinweber ist als Rechtskonsulent bei der großen Lebensversicherungsgesellschaft Borussia mit einem Gehalt von zehntausend Mark angestellt. Aber er hat nebstbei, gleich mir, die üble Angewohnheit, die Erscheinungen des modernen Lebens in Feuilletons, Novellen und Aufsätzen zu glossiren, ein Beweis von Leichtsinn, meine gnädigste Frau, der ihn in Ihren Augen verdächtig machen kann, aber den Sie ihm vielleicht um seiner erst erwähnten beruhigenden Eigenschaft willen verzeihen.“
Frau Marie Ravenswann lächelte ein wenig, halb höflich, halb unbehaglich. Sie konnte der Wortgewandtheit Alfreds mit ihren erfassenden Gedanken nie schnell genug folgen, um sich gleich klar zu werden, ob er spotte oder verbindlich sei. Als sie einmal ihrem Gatten klagte, daß sein Freund sich über sie zu belustigen scheine, sagte dieser abwehrend und voll Würde. „Das wird er sich meiner Frau gegenüber nie erlauben.“
Man setzte sich und Steinweber sah seine Jugendgenossen aufmerksam an.
„Wie sehr Ihr Euch verändert habt, trotz der hundert kleinen vertrauten Züge, insbesondere in Alfreds Gesicht und Wesen! Und wie wenig muß in mir vorgegangen sein, denn soweit man über sich selbst urtheilen kann, bin ich noch ganz derselbe,“ sagte er.
„Sehr natürlich, mein Alter,“ antwortete Alfred heiter, „Du bist wie ein stolzes edles Roß Deinen ruhigen Gang vorwärts geschritten, und wenn Dir Hindernisse kamen, hast Du sie im sicheren Sprung genommen. Ravenswann dagegen wühlt wie ein Maulwurf in seiner Berufsarbeit weiter – da flieht das Licht von Stirn und Augen; und ich, nun ich bin wie ein Spatz auf dem Wege, ducke mich im Regen, lärme vergnügt im Sonnenschein und bin ein vollkommen nutzloses Individuum.“
Marbod lachte und Ravenswann mußte wenigstens seine Mundwinkel ein wenig in die Höhe ziehen.
Frau Ravenswann aber sagte gereizt: „Das geht denn doch über den S-paß, daß Sie meinen Mann mit einem Maulwurf vergleichen.“
„Aber Mietze!“ beschwichtigte sie der Gatte, dem sie oft genug die Schwäche vorgeworfen, daß er sich von Alfred von Haumond alles gefallen lasse.
„Nein, das s-teht ihm nicht an,“ beharrte sie ärgerlich.
„Womit kann ich Sie versöhnen?“ fragte Alfred und sah sie mit einem Ausdruck fast zärtlicher Neckerei an. Er hatte immer eine liebevolle Aufwallung für diejenigen, denen er eine von ihm verursachte Kränkung ansah. Und eigentlich gegen ihren Willen fühlte Frau Marie sich stets durch diesen Ton besänftigt.
Marbod begann nach alten Genossen zu fragen, die er durch einen mehrjährigen Aufenthalt im Ausland aus dem Blick [223] verloren. Alfred war der einzige gewesen, mit dem er in Verbindung geblieben; das heißt, er hatte zuweilen geschrieben und Alfred hatte ihm, als einziges Zeichen, daß seine Briefe willkommen und erwünscht wären, die wechselnden Adressen angegeben.
Marbod vertiefte sich mit dem über alle und alles genau unterrichteten Ravenswann in ein Gespräch über Peter und Paul und Fritz und Heinrich. Frau Mietze saß schweigend dabei. Alfred begann nach fünf Minuten unruhig auf seinem Stuhl zu werden, sah nach der Uhr, las das Programm, knöpfte sein leichtes Sommerjackett zu und nach weiteren zwei Minuten wieder auf und seufzte laut.
„Und Weber?“ fragte Marbod, als sie schon fast das ganze Corps durchgegangen waren.
„Der ist von der Leiter gefallen,“ sagte Alfred.
„Was?“ fragten die beiben andern Männer wie aus einem Munde.
„Nun ja, er war schon recht hübsch hoch geklettert, da wollte er mit einem Mal einige Sprossen zugleich nehmen und stürzte herab.“
„Wie meinst Du das?“ fragte Marbod.
„Für mich,“ begann Alfred, während er abermals nach der Uhr sah, „klettert die ganze Menschheit auf einer Leiter. Ich sehe sie aufklimmen und mit zitternden Fingern und gierigen Augen emporstreben. Droben hängen, wie die Siegespreise auf einer Kletterstange, die Ziele. Glück, Ruhm, Liebe, Geld und Macht. Und im Gedränge nach oben giebt einer dem andern kräftige Fußtritte. Es kommt auch vor, daß einer den andern hinunterwirft, noch öfter aber, daß einer, der zu schnell hinaufwollte, fehl tritt und purzelt. Der arme Weber wollte Geld haben und als er zweihunderttausend beisammen hatte, sollte es auf einmal eine Million werden. Seine Spekulation mit österreichischen Kreditaktien mißrieth ihm, ein Termingeschäft mit Kaffee ebenso, er hatte einige hunderttausend Differenzen zu zahlen, anstatt sie einzuheimsen, und da erschoß er sich, der arme Kerl. – Mir ist die Kletterei in der Seele zuwider. Ich halte nicht mit.“
„Na, na,“ sagte Ravenswann, indem er glaubte witzig zu sein und komisch war, „was die Liebe anlangt, so bist Du immer voran. Das ist schon kein Klettern mehr, das ist die reine Steeplechase.“
Alfred lächelte mitleidig.
„Wann darf man denn gratuliren?“ fragte Frau Mietze mit einer gewissen spitzfindigen Betonung.
„Wozu?“ fragte er seelenruhig entgegen.
„Nun, zu Ihrer Verlobung mit der Baronin Offingen. Frau Doktor Schneider war noch heute bei mir und sagte, alle Leute s-prächen davon, es ginge gar nicht mehr anders, man sähe Sie jeden Tag bei ihr, und wenn diesem Verkehr keine Verlobung folge, sei die Dame sehr kompromittirt. Ich sagte aber, so weit ich Herrn von Haumond kenne, würde er die Welt gewiß einmal mit einer Heirathsanzeige überraschen, und so eine gewöhnliche Verlobungszeit vorher sei ihm nicht apart genug,“ erzählte sie mit vielem Behagen.
„Wie nett von Frau Doktor Schneider und ‚allen Leuten‘, sich so für mich zu interessiren!“ antwortete Alfred verbindlich, fast mit einem dankbaren Ton.
Frau Ravenswann ärgerte sich, sie hatte gedacht, er werde etwas Aufklärendes sagen, denn sie hatte sich ihrer Freundin gegenüber gerühmt, ihm ins Gewissen reden zu wollen und etwas Sicheres über diesen fragwürdigen Fall zu erfahren. Ja, sie hatte auch ihrem Manne davon gesprochen, daß es seine Aufgabe als Freund sei, Alfred auf die Pflicht, sich zu verloben, hinzuweisen, und sie glaubte fest, daß dieser dem Rathe eines so bedeutenden, gediegenen und soliden Mannes folgen müsse.
„Sie weichen mir aus,“ sagte sie, „und es wäre doch Pflicht, gegen uns, die wir Ihre nächsten Freunde sind, offen zu s-prechen.“ Immer, wenn Neugier oder Bevormundungssucht sich in die Angelegenheiten anderer drängen, nehmen sie die Maske der Freundschaft vor.
„Darin muß ich Ihnen recht geben, meine gnädigste Frau. Und wenn ich erst ‚allen Leuten‘ etwas mitzutheilen haben werde, sollen Sie von diesen die erste sein, welche etwas erfährt,“ antwortete Alfred mit einem sehr ernsthaften Gesicht.
Die Frau war befriedigt, der Mann dachte darüber nach, ob nicht eine versteckte Impertinenz in Alfreds Worten gelegen habe, doch ließ ihm Marbod nicht Zeit, sich darüber klar zu werden, sondern fragte ihn nach seiner Berufsthätigkeit. Seine Vorgesetzten, sein Bureaudienst, das Aufrücken seiner Nebenangestellten – Ravenswann war im Finanzministerium – bildeten stets dieses Mannes Lieblingsgespräch, ja, fast sein ausschließliches. Mittags unterhielt er seine Frau, abends seine Freunde mit den kleinen Vorkommnissen seines Arbeitstages und hatte die Gewohnheit, von diesen ausgehend sich soweit zu erregen, daß er eine Art Vortrag hielt, der entweder vom Bimetallismus handelte, oder die Unnützlichkeit und Schädlichkeit der Parlamente und des daraus entspringenden Rechts der Abgeordneten, das Budget zu bemängeln, hervorhob. Angriffe und Beschneidungen des Staatsbudgets nahm er als persönliche Beleidigungen, und seine Frau, obschon sie von diesen Dingen weiter nichts verstand, fühlte sich dann mitbeleidigt und verachtete herzlich Menschen, die eine Sache bemängeln konnten, an der ein so bedeutender Kopf wie ihr Ludolf mitgearbeitet hatte.
Alfred sah noch zweimal nach der Uhr, während Ravenswann mit der ihm eigenen trockenen Stimme, die er in regelmäßigen Zwischenräumen kurz räusperte, in immer demselben Tonfall auf Marbod einsprach. Dabei lärmte ein von Blechinstrumenten wiedergegebenes Wagnersches Musikstück durch die Luft und dicht hinter Alfred hatte sich ein unwahrscheinlich dicker Mensch auf einen der kleinen Stühle gesetzt, so zwar, daß er den breiten Rücken dieses Menschen an seinen Schultern zu fühlen glaubte. Die eisernen Stuhllehnen quetschten sich wenigstens mit einem schneidenden Geräusch aneinander. Und als der dicke Mensch nun noch gar mißtönig ausspuckte, schrak Alfred so zusammen, daß er gleich danach aufstand und mit fast bebender Stimme sagte:
„Ich halte diesen Musiklärm und dieses Menschenaneinander nicht mehr aus. Zudem ist es die Zeit, wo ich noch einer Einladung zur Baronin Offingen zu folgen habe.“
„Wie schade, ich dachte, wir könnten den Abend zusammen beendigen,“ meinte Marbod.
„Du kommst natürlich mit!“
„Geht das?“
„O,“ sagte Frau Mietze ungewöhnlich lebhaft, „die Offingen ist nicht so schwierig.“
Alfred, der ohnehin schon sehr bleich aussah, biß sich auf die Lippen. Aber es war ihm nicht mehr der Mühe werth, ein scharf verweisendes Wort zu sagen.
„Sie kennen die Dame auch? Sie verkehren auch mit ihr?“ war die natürliche Frage Marbods.
Frau Marie Ravenswann kniff ihre Lippen erst zusammen, ehe sie sie öffnete, um zu antworten:
„Kennen – o ja! Aber wir verkehren nicht.“
Darin lag eine solche Abwehr, ein solcher Richterspruch, daß Marbod erstaunt zu dem Freund aufblickte, den Frau Marie mit eben dieser Dame vorhin verlobt gesagt. Er las in Alfreds Augen aber einen so ruhigen Spott, daß er nicht mehr besorgt um die Erklärung dieser hervortretenden Feindschaft war.
„Du mußt wissen“ sagte Alfred, „die beiden Damen passen nicht besser zusammen als Wasser und Feuer. Und außerdem hat unsere verehrte Frau Assessor noch von ihrer Heimatstadt her die Gewohnheit, nur mit Leuten zu verkehren, denen sie auf irgend eine Weise verwandt ist, oder die ihr wenigstens von irgend einem Verwandten günstig geschildert worden sind.“
„Eine Vorsicht,“ meinte Ravenswann gereizt, „die nicht genug zu loben ist, besonders in unserer modernen, von fragwürdigen Elementen durchsetzten Gesellschaft.“
„Aber wir wollten ja gehen,“ mahnte Alfred ungeduldig, als hätte er gar nicht gehört, was der Assessor gesprochen.
„Sie werden uns bald besuchen?“ fragte Frau Ravenswann sehr liebenswürdig den sich erhebenden Marbod. Dieser sagte zu, und man schied von einander, wobei Alfred sich so heiter und freundlich zeigte, als wären gar keine scharfen Worte hin und her geflogen.
„Es ist doch seltsam,“ sagte er dann, als er mit dem Freunde dem Ausgang zuschritt, „im Augenblick, wo ich den Leuten Adieu biete, fühle ich immer ein Wohlwollen für sie und ich denke, daß man doch einst manche gute Stunde mit Ravenswann hatte. Freilich, doch eigentlich nicht mit ihm, sondern bloß in seiner zufälligen Gegenwart, aber auch das verbindet.“
„Haben sie Kinder?“
„Noch nicht. Und die Natur verhüte, daß sich diese steifleinene Rasse weiter fortpflanze!“
Sie schwiegen eine lange Zeit. Alfred führte den Freund durch die eleganten Villenstraßen des Thiergartenviertels. Der [226] Abend war vollends hereingebrochen. Im Doppelschimmer der Straßenlaternen und des von kleiner Mondsichel sanft leuchtenden Himmels ergingen sich Leute auf den Bürgersteigen. Hinter den Gittern, welche die Vorgärten von der Straße trennten, blühte es reich von Rosen und Caprifolium, und die durch den Abendschatten Unsichtbaren verkündeten ihr Dasein in schweren und fast betäubenden Düften. Aus Fenstern und Veranden quoll Lichtschein, man hörte auch da und dort aus dem Dunkel sprechen und lachen.
Alfred öffnete eine Gitterpforte und trat mit dem Freunde in einen Garten, daraus ihnen aufdringlich starker Blumenduft entgegendrang.
„Wie ich diese heißen Düfte und diese schwülen, dunklen Sommerabende liebe!“ sagte Alfred, indem er vor einem Rosenparterre stehen blieb und sich im Schein des Lichts, das vom Hausthore herfiel, eine halberschlossene Blüthe suchte.
„Wie ist die Frau, zu der Du mich führst, und was ist sie Dir?“ fragte Marbod, der die Empfindung hatte, als zögere sein Freund nur bei den Rosen, um vor ihrem Eintritt in das Haus noch irgend etwas zu sagen, vielleicht eine Erklärung von Dingen, die er sehen, von Personen, die er kennen lernen sollte, und durch die Frage wollte er es ihm erleichtern.
„Ich kann doch nichts sagen. Sieh selbst!“ antwortete der andere nach kurzem Besinnen.
„Sie ist Aristokratin?“ fragte Marbod, dem es denn doch unbehaglich war, so unvorbereitet in ein vollkommen fremdes Haus zu treten.
„Eine Aristokratin des Bewußtseins; die Geburt ist ihr ein Zufall, die Freiherrnkrone ein Nebensächliches. Sie ist Witwe, jung, hat einen Knaben und lebt hier mit einer alten Tante, welche die Stelle einer dame d’honneur vertritt. Aber das ist auch wieder nur ein Zufall, weil die hilflos kränkliche alte Dame eines Anhaltes bedurfte; Gerda ist nicht die Frau, sich bloß um eines Scheines willen die Gesellschaft einer Person aufzuladen, die ihr unnöthig oder gar lästig ist. Alles andere wirst Du selbst beobachten“ sagte Alfred.
„Sind wir allein da? Wie können wir im Straßenanzug hingehen?“ fragte Marbod noch, den schon im Thore Stehenden am Arme erfassend.
„Wegen des letzteren Umstandes werde ich uns freilich entschuldigen müssen, wir haben heute den Freibrief des ‚Zugereisten‘ und des ‚Bärenführers‘ für uns. Wen wir da treffen, weiß ich nicht. Es ist unberechenbar, denn sie liebt es, ihren Salon bunt zu bevölkern,“ erklärte Alfred mit einer ihm sonst vielem Fragen gegenüber fremden Geduld, die unschwer verrieth, wie gern er über diesen Gegenstand sprach, „man trifft Leute aus der besten Gesellschaft, Damen wie Herren; große, berühmte Menschen; und dann wieder werdende Namen, Männer und Frauen, die ihr Genie vorerst nur durch einige Proben in ihrer Kunst und einige Unregelmäßigkeiten ihrer Lebensführung bewiesen haben, Leute also, die ebenso leicht Abenteurer sein, wie Monumentalerscheinungen werden können. Demzufolge ist die Sprache in ihrem Salon wie die Sprache an unseren Landesgrenzen: man spricht offiziell deutsch, aber es ist je nachdem mit französisch, holländisch, dänisch, polnisch untermischt. So spricht man bei ihr die Sprache der besten Gesellschaft, aber hier und da kommen Grenzlaute vor, Töne aus anderen Reichen. Und nun zum drittenmal: sieh selbst! Komm!“
Eine Glocke schlug an.
Die Thür der Erdgeschoßwohnung wurde von einem Diener geöffnet, dessen einfache vornehme Kleidung einen ebenso wohlthuenden Eindruck machte wie die Einrichtung des Flurs. Man sah da weder gebleichte Palmenzweige, noch orientalische Teppiche oder chinesische Vasen. Die hinter dem Schutz von weißem Milchglas brennende Lampe beschien nur einen den Boden bedeckenden Teppich, einen dunkel umrahmten Spiegel und dichtfaltige tiefbraune Vorhänge, welche alle auf den Flur mündenden Thüren verhüllten.
Ganz denselben Eindruck einer fast an Strenge grenzenden Einfachheit würden die Zimmer gemacht haben, welche die Freunde nun betraten, wenn eine Fülle von Blumen in Schalen und Vasen und exotische Pflanzen in grünender Frische nicht den Zauber von Anmuth und Freudigkeit verbreitet hätten. Es waren drei Wohnräume, deren Folge man vom Eingang aus schon durch die einander gegenüberliegenden Thüröffnungen übersah. Eine fast auffallende Helle durchströmte die Räume und ein Wohlgeruch, der zu frisch und natürlich war, um betäubend zu wirken.
Marbod befand sich in einer Spannung, die an Aufgeregtheit grenzte. Er fühlte, daß dieses Haus und seine Herrin im Dasein des Freundes jetzt das Wichtigste seien, und zitterte fast davor, einer Angelegenheit näher zu kommen, die, er wußte selbst nicht warum, ihm keineswegs einfach und glückverheißend erschien.
Im zweiten Zimmer saß eine ältliche Dame, die sich bei ihrem Eintritt nicht erhob. Marbod hatte sogleich den Eindruck, daß diese kleine, zusammengefallene Gestalt mit dem halb kindlichen, halb mißmuthigen Zug im farblosen Gesichte, wie er stets Leidenden oft eignet, nicht hierher passe. Freude am Schönen und an der Kraft, das war es, was sich in der Einrichtung dieses Heims aussprach.
Alfred begrüßte die alte Dame und wurde von ihr begrüßt in einer Art, die verrieth, daß man sich täglich sah. Er nannte sie „Tantchen“, stellte den Freund vor und fragte, wie es ihr ginge.
„Ach,“ klagte die Dame, „ich habe nur von zwölf bis halb drei und dann noch von fünf bis sechs Uhr geschlafen, trotzdem ich ein und ein halbes Schlafpulver genommen hatte. Sie müssen wissen,“ wandte sie sich erklärend an Marbod, „daß, seit ich vor sieben Jahren ein schweres Nervenfieber durchmachte, ich stets leidend bin, mir und andern zur Last.“
„Aber Tantchen,“ sagte Alfred, „niemand zur Last! Gerda pflegt Sie mit liebender Hingabe, und das wird auch später so bleiben, wenn …“ Er verstummte. Das Tantchen sah Marbod an, als wenn sie fragen wollte: Du weißt natürlich alles?
Nebenan ging eine Thür. Ein schneller kleiner Schritt wurde hörbar und dann ein Freudenruf, und fast zugleich schon sah Marbod, daß ein Knabe von etwa sechs Jahren mit glückselig leuchtendem Gesicht und ausgestreckten Armen auf Alfred zulief, mit einem Satz auf seinen Knieen war und die Händchen um seinen Nacken faltete.
„Du Strick, Du bist noch nicht zu Bett?“
„Mama hat gesagt, daß ich aufbleiben soll, bis Du kommst, und ich soll Dir leise was sagen.“
„So sag’s!“
Der schöne Knabe neigte seine zarte Wange an die Alfreds und flüsterte mit seinen Lippen in des Freundes Ohr so leise wie Kinder flüstern, und vollkommen unverständlich. Für Marbod war es ein seltsam ergreifender Anblick, das Kind mit dem schweren dunklen Haargelock sich so an das blonde Haupt Alfreds schmiegen zu sehen. Der Knabe hatte blaue, fast flammende Augen und einen Blick, wie er Kindern eigen ist, deren zarter Körper dem voreilenden Flug des sich entwickelnden Geistes nicht nachkommen kann.
„Du mußt es lauter sagen!“
Nun flüsterte das Kind so laut, wie man mit voller Anstrengung, nur ohne Stimmklang, spricht:
„Du wirst bald mein Papa!“
In das leicht bewegliche Gesicht Alfreds schoß heftiges Erröthen. Er schloß die Augen. Man sah, ein fast trunkenes Glücksgefühl überwältigte ihn. Er hielt den Knaben fest an sich gepreßt, und dieser legte in seligem Frieden sein Haupt an die Schulter des von ihm Angebeteten.
Die Tante und Marbod hatten das Glückswort gehört. Die Tante führte ihr Taschentuch an die Augen, Marbod sah vor sich nieder und erwog, ob er nicht wieder gehen sollte.
Diese stummen Minuten mochten länger gedauert haben, als sich alle bewußt waren. Alfred schreckte erst auf, als an derselben Thür, durch welche der Knabe gekommen war, ein Frauenkleid rauschte. Er sprang auf, das Kind von sich gleiten lassend, und eilte in das andere Zimmer.
„Gerda!“ rief er, und dann war wieder Schweigen.
In diesen Augenblicken verwünschte Marbod den Einfall des Freundes, ihn mit hierher gebracht zu haben. Um nicht zu lauschen auf das, was nebenan vielleicht mit heißen Flüsterworten und Küssen besiegelt wurde, begann er ein Gespräch mit dem Knaben, denn die Tante hielt es für ihre Pflicht, sich jetzt heftig zu rühren, und vergoß Thränen in ihr Tüchlein.
„Wie heißt Du, mein Kind?“
„Hat er es Dir nicht gesagt? Ich bin Alexander von Offingen. Er und Mama nennen mich aber Sascha,“ antwortete der Knabe. Der freie, schöne Aufblick, den das Kind beim Sprechen hatte, war bezaubernd. Und die Art, wie er Alfred nur mit „er“ [227] bezeichnete, verrieth eine abgöttische Liebe, wie sie eben nur begeisterungsfähige Kinder für schöne, liebenswürdige Männer haben, die ihnen viel Zeit und Neigung schenken.
Kennst Du ihn schon lange?“ fragte Marbod weiter.
„Seit wir hier wohnen, schon ein Jahr. Er besucht mich und Mama jeden Tag. Er hat mich lesen gelehrt und ‚Heil Dir im Siegerkranz‘ auf dem Klavier. Ich habe immer zu Mama gesagt, ich möchte wohl, daß er mein Papa wäre. Und nun wird er es. O, dann ist er den ganzen Tag bei uns,“ sagte Sascha mit leuchtendem Gesicht.
„Du liebst ihn wohl sehr?“ fragte Marbod, ergriffen seine Hand auf die dunklen Locken legend.
„Ja!“ sagte der Knabe.
Es war ein seltsames „Ja“. Kurz, ernst, von eiserner Bestimmtheit. Ein „Ja“ wie aus dem Munde eines Mannes, der ein Gelöbniß für das Leben macht. Marbod hatte dabei das Gefühl, daß dieses Kind beängstigend eindringlich denke und empfinde. Und ihm schien, als stände in dem blassen, durchsichtigen Antlitz eine fremde, unirdische Schrift wie auf den Stirnen von Todgeweihten.
Sein Gespräch mit Sascha, bei dem er seine wohllautende Stimme keineswegs gedämpft hatte, mochte die beiden da drinnen gemahnt haben, sich ihrem Glücksrausch zu entreißen. Sie erschienen auf der Schwelle, und das Kind lief ihnen entgegen, beider Kniee zugleich umfassend.
[241]
Marbod hatte erwartet, eine schöne Frau zu sehen. In dem
Glanze des Glücks, der jetzt auf ihren Zügen lag, erschien
die Baronin Offingen ihm mehr als das. Ihr Haar, ihre Augen,
ja selbst die Farben und Züge des Gesichtes glichen denselben Einzelheiten
bei ihrem Knaben. Ihr lächelnder Mund war von berückender
Schönheit. Temperament und Güte sprachen aus den
charakteristischen Linien, mit
denen frühe Lebenserfahrungen
ihr Antlitz gezeichnet
hatten.
Wie sie und Alfred so nebeneinander standen, schien es, als müsse die Natur sie von jeher für einander bestimmt haben.
Marbod war ein wenig befangen und wußte nicht, ob er das erste Wort zu sprechen oder zu erwarten habe. Doch jetzt ging Gerda geradeswegs auf ihn zu, gab ihm die Hand und sagte:
„Ich kenne Sie. Ich bin sehr glücklich, daß Sie gerade jetzt an Alfreds Seite sind. Versuchen Sie, auch mich kennen zu lernen und liebzugewinnen.“
Noch mehr als die herzliche Klangfärbung in ihren Worten nahm ihm der edle Freimuth ihres Blickes das Gefühl, als sei er hier nicht am Platze.
„Dazu bedürfte es nicht erst des Versuches,“ sprach er ebenso herzlich, „Sie sind mir von dieser Stunde an eins mit Alfred, und ihn liebe ich, wie man nur einen Freund lieben kann.“
„Und nicht wahr, Kinder,“ fragte das alte Fräulein aus ihrer Sofaecke heraus, während ihre magern Fingerchen ein Flacon mit Riechsalz zu ihrer Nase führten, „jetzt ist Euer Entschluß ein fester und endgültiger? Ich bin wirklich den fortwährenden Aufregungen nicht gewachsen. Ihr werdet nicht morgen wieder sagen, daß es doch nicht geht?“
Auf Gerdas Angesicht erschien eine flammende Gluth. Sie streckte Alfred beide Hände hin und rief:
„Nein, tausendmal nein! Wie könnten wir ohne einander leben! Wir werden mit heißem Bemühen versuchen, uns ineinander zu fügen.“
Und sie sahen sich an, fest, gewaltig, das ganze Leben ihrer Seelen in verheißende Blicke zusammengefaßt.
„So war es ein hartes Ringen, ehe Ihr Euch einander ergabt?“ fragte Marbod.
Gerda schloß die Augen. Ein Schatten unaussprechlicher Qual verdunkelte plötzlich alle Glücksstrahlen auf ihrem Gesicht.
Sie neigte nur bejahend das Haupt.
Alfred zog sie tröstend an sich.
„Warst Du allein der gequälte Mensch?“ fragte er heiß. Sie schienen die Anwesenden zu vergessen.
Die Tante winkte Marbod zu sich heran und flüsterte:
„Nicht alle Menschen, die nicht ohne einander leben können, verstehen es, mit einander zu leben.“
Von dieser Aeußerung fühlte Marbod sich fast [242] noch mehr betroffen als von den Schlüssen, die er aus den eben gewechselten Reden gezogen. Er kannte seinen Freund und wußte, daß das Glück, welches dieser einem Weibe zu geben vermochte, nur ein unruhvolles sein könnte.
Jetzt hörte man die Flurglocke und mehrere Stimmen, die draußen lachten und sprachen.
„Heute kommen noch Menschen?“ fragte Alfred heftig.
„Das weißt Du doch, es ist mein Dienstag!“ sagte Gerda; „auch ich bin wenig gestimmt, jetzt Gäste zu haben.“
„Du hättest absagen können oder mir erst morgen unser Glück durch Sascha verkünden lassen sollen,“ antwortete er, während zwischen seinen Brauen eine tiefe Falte erschien.
„Mein Gott, ich wußte doch heute morgen noch nicht, daß … daß Du mir jene Zeilen senden würdest! Du schreibst mir: ‚Ich ertrage diesen Zustand nicht mehr!‘ Und ich ende ihn, ohne zu bedenken, was die nächste Stunde uns für Zwang auferlegt. Willst Du mir deshalb grollen?“ fragte sie. Es war kein Vorwurf, aber eine stolze Abwehr in ihrem Ton.
Er ging hastig auf und ab.
„Wer kommt denn?“
„Nur vier oder fünf Menschen. Die Gräfin Mollin, die nie ausbleibt, dann Doktor Bendel, den ich gebeten habe, um ihn mit unserem kleinen Prasch bekannt zu machen. Du weißt doch, daß Prasch sein Buch in diesen Tagen herausgiebt. Und außerdem noch die Mara und Direktor Damberg.“
Alfred biß sich auf die Lippen.
„Diesen Menschen, vor dem ich Dich gewarnt habe!“ sagte er mit mühsam unterdrücktem Zorn.
„Bitte,“ schmeichelte Gerda mit bestrickender Liebenswürdigkeit, indem sie ihm die Wange streichelte, als wäre er ein Kind, „nicht gleich böse sein! Meine arme kleine Mara wird immer von Damberg so herunter gemacht, dem guten Ding schnürt’s schon die Kehle zu, wenn sie weiß, er sitzt im Parkett, und da habe ich ihn mir eingeladen, Du kannst Dir wohl denken, weshalb. Du wirst sehen, bei Maras nächster Rolle wird er sie für eine große Sängerin erklären.“
„Du bist für alle zart besorgt, nur nicht für mich,“ sagte er noch. Dann erschien von den besprochenen Gästen die Gräfin Mollin mit der Sängerin und Herrn von Prasch zusammen. Gerda begrüßte sie mit einer vollkommen heiteren Stirn, stellte Doktor Marbod Steinweber vor und lachte und plauderte so unbefangen, als wenn keineswegs vor wenigen Minuten die heftigsten Erregungen durch ihre Seele gezogen wären.
Alfred, den man um sein blasses Aussehen befragte, sagte, daß er Kopfweh habe, und zog sich mit Sascha in eine Zimmerecke zurück. Da saßen sie auf einem kleinen Sofa; der Knabe hatte sich aus einer Vase eine Handvoll Wasserrosen genommen und bog nun mit seinen Fingerchen die dunklen Hülsen von den wachsweißen, halberschlossenen Blüthen. Dabei hatte er sein dunkles Haupt gegen Alfreds ihn umschlingenden Arm gelegt. Sie plauderten leise zusammen. Eine Fächerpalme, die ihre Blätter von hinten herüberstreckte, warf einen Schatten auf Alfreds Gesicht.
Die Gräfin Mollin besah sich die Gruppe durch ihre langstielige Lorgnette und sagte zu Mara:
„Wie für einen Maler posirt. Wenn Gerda und Haumond sich wirklich vermählen sollten, das Kind dürfte kein Glückshinderniß werden. Diese Liebe ist wahrhaft rührend.“
Die Mara schüttelte das schwarzhaarige Haupt, und über ihr braunes, unregelmäßiges und temperamentvolles Gesicht, in dem zwei schwarzbraune Augen brannten, ging ein spöttisches Lächeln.
„Die – sich heirathen?“ sagte sie, die zarten Schultern zuckend, „nie im Leben! Einen Haumond sich zu erhalten, dazu gehört mehr Selbstüberwindung, als Gerda besitzt.“
Die Gräfin Mollin, eine übermäßig üppige Dame, deren kluges Gesicht und knabenhaft kurz abgeschnittenes Haar ihr, der Vierzigjährigen, ein fast keckes Aeußere gaben, sah, immer durch ihre langstielige Lorgnette, der Mara gerade ins Gesicht.
„Sie trauten sich diese Selbstüberwindung zu?“ fragte sie.
Es war in Gerdas Salon ein offenes Geheimniß, daß Alfred von Haumond, ehe er Gerda gekannt, die Mara stark ausgezeichnet habe und daß diese ihn noch liebe.
Unterdessen setzte Herr von Prasch, ein kleiner, sehr zierlich gewachsener Mann mit einem niedlichen Gesicht, in dem, wie vom Friseur angeklebt, ein dunkles Schnurr- und ein Kinnbärtchen saß, während er sein Haar wie ein preußischer Lieutenant trug – unterdessen setzte Herr von Prasch Gerda und Marbod den Inhalt seines Buches auseinander. Es handelte sich um eine psychologische Zergliederung Wagnerscher Frauengestalten.
Jetzt erschienen auch Doktor Bendel, ein schöner und eleganter Mann semitischer Abstammung, die seine Züge auch nicht verleugneten, und Direktor Damberg, ein ältlicher, rundlicher Herr, in dessen röthliches Gesicht graue Haarsträhne fielen und dessen helle Augen über Brillengläser hinweg, suchend halb und halb zerstreut, fortsahen. Seine Bewegungen waren hastig und unsicher, während Doktor Bendel sich mit vollkommener Sicherheit, die an Gleichgültigkeit streifte, benahm.
Bendel kannte den Namen Marbod Steinweber, freute sich, einen so talentvollen Kollegen jetzt hier zu haben, und erbat sich sogleich die Mitarbeiterschaft für sein Blatt. Damberg flüsterte darauf Prasch zu, daß dies eine Höflichkeitslüge sei, denn Bendel, dies wisse jedermann, erkenne nur einen Schriftsteller an, nämlich den Moritz Bendel.
Herr von Prasch sagte zu Bendel, daß er sich freue, dem berühmten und eminenten Kenner Wagners vorgestellt zu sein, und kam sogleich auf sein Buch. Bendel versprach etwas zurückhaltend, es zu besprechen, wenn es ihm gefiele, und zu schweigen, wenn es ihm nicht gefiele, und auch dies Schweigen sei eigentlich ein unerlaubtes Zugeständniß an den Schützling der Baronin Offingen. Prasch war gewiß, daß Bendel entzückt sein werde, und sprach viel und mit Enthusiasmus vom „Meister“.
Hierüber sagte Bendel nachher zur Gräfin: „Ein kleines Gefäß für eine so große Begeisterung!“
Gerda machte mittlerweile zwischen der Mara und Damberg die Diplomatin. Sie sprach bevormundend und eindringlich für die Freundin.
„Mara ist zu klug, um nicht den Nutzen der abfälligen Bemerkungen einzusehen, die sie andrerseits natürlich schmerzen. Wir sind uns seit langem einig, daß sie nur noch von Ihnen das lernen kann, was ihr fehlt. Deshalb bitte ich Sie: Mara soll die Carmen übernehmen, studieren Sie sie ihr ein.“
„Aber meine Damen, meine Zeit ist so durch meine Musikschule und meine Berichterstatterpflichten ausgefüllt, daß ich kaum weiß …“ sagte Damberg nachdenklich.
„Seien wir doch ungenirt! In Geschästssachen liebe ich das. Und Stunden geben ist doch einmal Ihr Beruf, lieber Direktor. Mara verlangt ja keine Gefälligkeit von Ihnen, sondern eine Leistung, die man bezahlt. Wir wissen, Sie nehmen zwanzig Mark für die Stunde. Mit Vergnügen wird Mara zehn oder fünfzehn Stunden nehmen. Sie schlagen ein?“
„Es ist freilich verlockend, mein Fräulein, Ihrem eminenten Talent die letzte Feile zu geben und Ihnen weiter zu helfen auf der Bahn des Ruhms, wo Ihrer das höchste Ziel harrt. Also ja denn!“ sagte der dicke Mann, indem er behaglich nachrechnete, daß es sich doch gelohnt habe, herzukommen.
Gerda und die Mara sahen sich an. Ein Blick, mit dem sie sich darüber verständigten, daß die Sängerin ein oder zweimal der Form halber hingehen, aber gewiß nicht seine Unterweisungen, die als stimmmörderisch bekannt waren, befolgen werde.
Damberg bat die Mara jetzt, etwas zu singen, er werde sich ein Vergnügen daraus machen, sie zu begleiten. Darauf begaben sie sich an den Flügel, der inmitten des letzten Zimmers aufgestellt war, und die Sängerin begann das Lied Mignons von Thomas: „Kennst Du das Land?“
Marbod fühlte sich von dem raschen Durcheinander von verschiedenen Gesprächsstoffen, deren keiner gründlich erörtert, sondern nur gestreift wurde, wie betäubt. Er ging in das erste Zimmer und setzte sich dort auf einen Stuhl am Fenster, den Ellbogen auf das Fensterbrett, den Kopf in die Hand gestützt. Er fühlte den brennenden Wunsch, sich mit der Frau auszusprechen, die sich heute seinem Freunde anverlobt hatte, und wußte, daß sie, die ihm noch ganz fremd war, ihm doch mehr Aufschlüsse über sich, Alfred und ihre Liebe geben werde, als er von ihm zu erwarten hatte.
Als hätte sie sein Verlangen getheilt, kam sie mit leisen, leichten Schritten gegangen und stand vor ihm an den dunklen Falten der Fenstervorhänge. An ihrem weißen Wollkleide trug sie einen Strauß dunkler, ananasduftiger Kalykanthusblüthen, ihr Haar war schmucklos; er sah jetzt noch mehr als vorhin, wie [243] schön, ja fast bezwingend ihre Züge und ihre Erscheinung waren. Mit ihren ernsten Augen sah sie ihn an.
„Sagen Sie mir, was Sie denken!“ befahl sie einfach.
„Ich denke,“ antwortete er, ihr fest in die Augen sehend, „ob es in der That nicht möglich war, Alfred heute abend diese Menschen zu ersparen.“
„Nein!“ sagte sie traurig. „Er weiß, daß ich für Dienstag abend stets einige Bekannte einzuladen pflege. Und vor anderthalb Stunden bekam ich jenen Rohrpostbrief, in welchem die Worte standen: ‚Ende diesen Zustand, ich ertrage ihn nicht mehr!‘ In solch kurzer Frist kann man nicht geschehene Einladungen rückgängig machen, ohne zu gewärtigen, daß den einen oder andern die Absage nicht mehr daheim trifft.“
Marbod erinnerte sich, daß Alfred auf dem Wege zum Zoologischen Garten plötzlich, aus brütendem Sinnen auffahrend, in ein Postbureau getreten war mit den Worten. „Ich habe eine Zeile zu schreiben.“
„Dann wäre es besser gewesen, ihm sein Glück erst zu verkünden, wenn die andern Gäste gegangen,“ sagte Marbod, „denn er leidet.“
„Wie – ich hätte, das erlösende Wort auf stummen Lippen zurückhaltend, viele Stunden seine Gegenwart ertragen sollen? Nein, ich muß alles, was meine Seele bewegt, gleich aussprechen, oder ich leide, wie bei Gewitterluft,“ sagte sie.
Sie hatte eine merkwürdige Art zu sprechen; ruhig und maßvoll im Zeitmaß, aber etwas gedrückt im Ton, so daß jede Rede bei ihr als Aeußerung gewaltsam beherrschter Leidenschaft erschien.
Marbod fühlte auch, daß von ihr ein Zauber ausging, den er hätte einen wehmuthsvollen nennen mögen, und doch konnte er sich nicht erklären, woher ihr dieser kam.
„Aber ich habe ihm das Kind gelassen,“ sprach sie weiter, da er schwieg; „er liebt es, und seine Gegenwart macht ihn zufrieden. Sonst ist dies eine Stunde, wo Sascha schon schlummert.“
„Ich wußte nicht, daß Alfred so kinderlieb ist.“
„Vielleicht ist er es mit Auswahl. Meinen Knaben betet er an, er liebt mich oft nur um seinetwillen – o ja, in Stunden! Ich fühle es. Ein geheimnißvolles Band schlingt sich um die beiden. Wenn Sascha fiebert, wird ihm wohl, sobald Alfreds Hand auf seinem Haupte liegt. Das beglückt und quält mich zugleich. Alfred wird eines Tages beklagen, daß der Knabe nicht sein Sohn ist,“ sagte sie.
„Auf einen Todten, den er nicht kannte, auf eine Vergangenheit, an die er kein Recht hatte, kann er nie eifersüchtig sein,“ sprach Marbod bestimmt.
„Das fürchte ich nicht. Ich liebte meinen ersten Gatten von Herzen und war zufrieden, glücklich mit ihm. Das weiß Alfred, und auch, daß es langer Zeit bedurfte, ehe diese Wunde, die der Tod geschlagen, heilte. Vielleicht verstehen Sie mit der Zeit, wie ich es meine,“ sagte sie langsam.
Marbod seufzte. Und seine Gedankenfolge mit einer lauten Bemerkung abschließend, sagte er vor sich hin:
„Es giebt in der Liebe keine äußeren, es giebt nur innere Hindernisse. Euer Leben scheint ein glatter Weg zu sein, auf dem Ihr ohne Schwierigkeiten zu einander gelangen könnt, und Ihr selbst thürmt Euch tausend Steine des Anstoßes in den Weg.“
Gerda sah ihn groß an.
„Aber wir lieben uns,“ sprach sie nach einer Pause, „wir werden uns besiegen.“
Ihm erzitterte das Herz. In den einfachen Worten lag eine Gewalt des Ausdrucks, vor der er erschrak.
Sie schwiegen beide lange. Aus den andern Räumen klang Lachen, und jetzt fing die Mara wieder an zu singen. „So laßt uns das Leben genießen.“
Doktor Bendel erschien im Zimmer.
„Pardon, wenn ich eine konfidentielle Unterhaltung störe. Aber Donizetti singen hören ist schon so schlimm, daß ich ihn nicht noch singen sehen will – die Mara glaubt sich dabei zu bacchantisch sein sollenden Gesten verpflichtet,“ sagte er heiter. „Ueberdies singt sie das Trinklied in jeder Gesellschaft. Das werden Sie bald bemerken, lieber Doktor.“
„Ich werde dazu kaum Gelegenheit haben.“
„Wie, so fremd, oder so einsiedlerisch?“
„So fremd. Außer Alfred kenne ich nur den Assessor Ravenswann,“ sagte Marbod.
„Den im Finanzministerium?“ fragte Doktor Bendel; „er soll ein Mensch ohne eigene Gedanken, mit eiserner Arbeitskraft, hochmüthig gegen die Untergebenen, devot gegen die Vorgesetzten sein. Er kann es noch zu hohen Amtswürden bringen, bei den Fähigkeiten.“
„Er und seine Frau sind Leute, die, wenn man von der großen Zeitordnung im Planetensystem spricht, gleich auf den richtigen Gang ihrer Taschenuhren zu sprechen kommen,“ sagte Gerda mit ungewöhnlicher Lebhaftigkeit.
„Also alles in allem Menschen,“ schloß Marbod, „die nicht selbst erleben, sondern bloß, was andere erleben, glossieren. Da freilich werde ich mich nach mehr und vielseitigeren Beziehungen umschauen.“
Jetzt erschien Alfred im Zimmer, auf seinem Arm den schlaftrunkenen Knaben.
„Es ist bald zehn Uhr,“ sagte er; seine Stimme klang fast tonlos wie die jemandes, der sich bei zu vielem Sprechen ermüdet hat. „Es hieße die Unvernunft auf die Spitze treiben, das arme Kind noch länger hier zu halten. Sie gestatten, daß ich es in sein Stübchen bringe.“
„Aber beeilen Sie sich! Wir werden gleich zu Tisch gehen,“ rief Gerda ihm nach.
An der Thür zögerte Alfred. Er sah die Geliebte an, durchdringend und ernst. Sie ging auf ihn zu, wie es Marbod schien mit unsicherem Schritt. Dann knieete sie vor ihrem Knaben nieder. Sie umarmte das schon halb schlafende Kind und gab ihm einen langen Kuß auf die Stirn. Dabei suchte ihr Auge das des Mannes.
Und dann ging er mit dem Kinde.
Man wartete noch einige Minuten auf ihn, nachdem der Diener schon gemeldet hatte, daß man zu Tisch gehen könne. Gerda war so unruhig, daß sie sich kaum beherrschen konnte, fürchtete aber auffällig zu werden, wenn sie selbst ging, nach Alfred zu sehen.
Sie bat Marbod, ihn zu rufen.
Dieser ließ sich vom Diener das Zimmer des Knaben zeigen und trat dann in ein Kabinett, in welchem ein mattes, grüngedämpftes Licht schwamm. Eine Thür gähnte auf in einen dunklen Raum, der vermuthlich Gerdas Zimmer war. In dem Kabinett befand sich außer dem Kindertischchen und einem Spielzeugschrank nur ein von Spitzen und grüner Seide umhangenes Bett. Und dort schlummerte im wohligen Schatten der schöne Knabe.
Marbod beugte sich lauschend über ihn, um zu hören, ob er wirklich schlafe, oder Auskunft geben könne, wo Alfred geblieben sei. Da bemerkte er auf der seidenen Decke einen Zettel, nahm ihn und las, an das Nachtschränkchen, auf dem die Lampe brannte, herantretend.
„Ich bin fortgegangen. Ich ertrug es nicht.“
Er kehrte in die Wohnräume zurück. Gerda erwartete ihn schon an der Thür und nahm mit bebenden Fingern den Zettel.
Und dann beobachtete er, wie mit Sekundenschnelle die tiefe Erregung in ihrem Gesicht einer stolzen Fassung Platz machte. Ihr Auge blitzte und ihr Mund konnte den Gästen freundliche Worte sagen. –
Als Marbod in dieser Nacht in sein Hotel zurückkehrte, beherrschte in seiner Erinnerung alle wechselnden, einstürmenden Eindrücke des Tages die Gestalt dieser Frau. Und er dachte, seine tiefen Sorgen, die ihm um ihret- und Alfreds willen erwachten, niederkämpfend:
„Frauen, wie sie eine ist, fällt das Glück nicht fertig vom Himmel: sie bauen es sich aus den Lavasteinen der Selbstüberwindung auf.“
Seit Stunden wachte Alfred. Eine immer wachsende Ungeduld bemächtigte sich seiner, aber er war wie jeder Mensch der Sklave seiner Hausordnung. Seinem Wunsch, aufzustehen und den Tag zu beginnen, konnte er nicht Folge geben. Alles im Hause schlief noch, die Wirthin, sein Diener, das Feuer auf dem Herde. Er hatte das Bedürfniß, etwas zu lesen und zu schreiben, irgend eine Arbeit zu versuchen, aber seine Zunge und seine Lippen brannten ihm trocken, er fühlte eine körperliche Schwäche und hatte, fast wie ein eigensinniger Kranker, das gierige Bedürfniß nach einem erquickenden Getränk. Das Wasser auf seinem Nachttischchen [246] war schal, die Luft im Zimmer unerträglich heiß. Die Morgensonne prallte gegen die Persienne, deren Stäbchen wagerecht übereinander standen und ein grelles Licht durchließen.
Seitdem von der Straße her die ersten Töne des Tageslebens heraufschallten, stieg die Ungeduld in Alfreds Brust bis zum Zorn. Er begriff nicht, wie man bei dem schönen Sommerwetter im Bett bleiben könne, und vergaß, daß er sonst nie die Dienste seiner Wirthin vor acht oder gar neun Uhr in Anspruch nahm. Er beschloß, auf diese unerhörte Nachlässigkeit hin noch heute auszuziehen und auch seinen Diener zu entlassen, der um sieben Uhr noch schlief. Und zuletzt stand er doch auf. Fast zugleich bewegte sich drinnen im Wohnzimmer etwas. Also endlich ein Mensch, wahrscheinlich Fritz, der jetzt erst aufzuräumen begann.
„Fritz!“ rief er herrisch.
In der Thürspalte erschien die Gestalt eines jungen Burschen in rothweißer Morgenjacke und leinener Schürze. Der Mensch hatte dunkles Haar, welches so sorgfältig und zierlich geordnet war wie bei einem Friseurgehilfen; dazu ein kluges blasses Gesicht und sehr helle Augen mit einem merkwürdig sicheren, fast frechen Blick.
„Der Herr sind schon auf?“ fragte er verwundert.
Alfred, der seiner gereizten Morgenstimmung eine Erleichterung hatte verschaffen wollen und Fritzen ein Donnerwetter zugedacht hatte, bei dem auch die aufgesummten Unterlassungssünden der ganzen vorigen Woche mitpoltern sollten, fühlte sich beim Anblick dieses gekämmtem Hauptes, dieses frechen Blickes und dieser grünweiß karrirten Krawatte, die ein wahrscheinlich unechter Amethyst schmückte, augenblicklich entwaffnet. Er stritt sich nie mit Leuten, die unter ihm standen, und er fühlte, daß es ein Streit, kein einseitiges Schelten geworden wäre. Fritz war ja im Recht, sich zu wundern.
„Frisches Wasser! Die Morgenpost! Dann schnell Thee!“ sagte er kurz.
Fritz zuckte, als er hinausging, ein wenig die Achseln. Was das nun sollte! Sonst war er gewohnt, bei seinem Thee zunächst die Morgenpost durchzugehen, wenngleich er den politischen Standpunkt seines Herrn gründlich verachtete und auch die kleinen novellistischen Arbeiten desselben, die stets mit vollem Namen gezeichnet waren, scharf und abfällig kritisirte. Als er den Briefkasten entleerte, in welchen just eben der Postbote die Morgenpost gesteckt – man hörte noch seinen stapfenden Tritt die zweite Treppe empor – hatte er wenigstens die Entschädigung, sich boshaft über die kleine Sammlung von Zeitungen, Couverts, Karten freuen zu können. Erstens war eine Zurücksendung von einer Redaktion dabei; Fritz kannte das genau, er hatte an dieselbe Adresse, die als Absenderin obenauf gedruckt stand, vor vier Wochen ein ebensolches eingeschriebenes Couvert zur Post getragen. Zweitens fehlte zwischen den Briefen eine gewisse Handschrift und ein gewisses Couvert mit G. O. und der Freiherrnkrone. Fritz hatte längst beobachtet, daß solche Briefe fast täglich kamen und von seinem Herrn mit zitternden Fingern aufgerissen wurden.
Mit seinem kältesten Gesicht trug er die Postsachen zu seinem Herrn hinein, der gerade vor dem Spiegel stand und sich eine weiße Batistkrawatte zurechtknüpfte. Und richtig, Alfred riß die Stücke auseinander, warf sie auf den nahen Tisch, eins nach dem andern, und endlich das letzte.
Er versuchte, sich ruhig weiter anzukleiden. Wann hätte Gerda denn noch schreiben sollen? Sie müßte schon gerade in der Nacht nach dem Fortgang der Gäste noch jemand zum Hauptpostamt geschickt haben, wenn sie es hätte ermöglichen wollen, ihm heute morgen einen Gruß zukommen zu lassen. Und warum that sie nicht so? Um einem geliebten Menschen ein beruhigendes Wort zu sagen, durfte keine Stunde zu spät, kein Weg zu weit sein.
Aber vielleicht fühlte Gerda gar nicht, daß er der Beruhigung bedurfte, vielleicht nahm sie es für Launenhaftigkeit, daß er gestern gegangen, und grollte ihm. Das war’s ja überhaupt: für die feinen Bewegungen in seinem Seelenleben fehlte ihr das Verständniß, oder der Wille zum Verstehen. Sie forderte von ihm, er solle immer klar, gefaßt, beherrscht sein wie sie. Sie wollte ihn verändern, erziehen, anstatt die Eigenart seines Wesens hinzunehmen als etwas Unabänderliches.
Aber in der Liebe zwischen einem Mann und einem Weibe ist es das Naturgesetz, daß das Weib im Mann aufgeht.
So grübelte Alfred, saß in seiner Sofaecke und genoß gewohnheitsmäßig seinen Thee, ohne zu bemerken, daß das Wasser zu diesem nicht gekocht hatte, daß die Eier zu hart und das Fleisch trocken war. Er vergaß auch die Postsachen, die verstreut zwischen den Frühstücksgeräthen lagen. Fritz hatte sie nicht zusammengerafft, sondern mit einer gewissen Impertinenz für jedes Stück Geschirr eine freie Stelle ausgesucht.
Die Uhr schlug eben acht.
„Noch kann ich nicht zu ihr, noch nicht, um sie zu fragen, ob sie denn gestern abend meine Qualen nicht begriff,“ murmelte er, auf die Uhr sehend.
Fritz, der gerade an dem Schreibtisch, auf welchem die Uhr stand, unnöthig lange Staub wischte, weil dort eine neue Photographie der Baronin lag mit einer Widmung, die er nicht gleich lesen und verstehen konnte – Fritz drehte sich um.
„Sagten der Herr etwas?“
„Sind Sie noch immer da? Ich will allein sein,“ sagte Alfred auffahrend. Er war sich der Gegenwart des Menschen nicht bewußt gewesen.
„Sehr wohl,“ antwortete Fritz kühl. In einem Punkt berührte er sich mit seinem Herrn, wie dieser sich nicht mit Untergebenen stritt, ärgerte er sich nie über Vorgesetzte, aber er rechnete immer mit ihnen ab, über jede Ungerechtigkeit, Härte oder gezeigte Ungeduld.
Die Gelegenheit dazu kam schon eine Viertelstunde später.
An der Etagenthür klingelte es schüchtern. Fritz, der mit der Wirthin auf dem besten Fuße stand, ging aus Gefälligkeit, um zu öffnen, denn er stand gerade mit Frau Meyns in ein Gespräch vertieft auf dem Korridor.
„Ich will zu ihm,“ sagte der kleine Knabe, der vor der Glasthür gewartet hatte und einen großen Rosenstrauß in der Hand hielt.
„Zu ‚ihm‘?“ lachte Fritz spöttisch und sah sich den Jungen an. Die feine Gestalt in dem weißen Matrosenanzug mit blauem Kragen schien ihm nicht unbekannt. Richtig, das war der kleine Sohn der Baronin Offingen.
„Wenn Du mit ‚ihm‘ Herrn von Haumond meinst, mein Junge, so kannst Du nicht zu ihm, denn er will allein sein,“ sagte Fritz.
Die übergroßen, glanzvollen Augen des Kindes bekamen einen Thränenschimmer.
„Aber ich will ihm diese Rosen von Mama bringen,“ rief es weinerlich.
Fritz griff mit frechen Händen nach dem Strauß, da der Kleine diesen aber festhielt, so kniff er wenigstens eine halberschlossene dunkle Rose heraus. Er befestigte sie in dem Knopfloch seiner Jacke – vor Kindern genirte er sich nie, sie mochten so hochgeboren sein, wie sie wollten, sie waren für ihn noch keine Menschen, denn sie hatten noch kein Geld – und sagte wohlwollend:
„Gieb mir das Bouquet, ich trag’s nachher hinein.“
„Wenn er auch allein sein will, ich darf doch zu ihm,“ rief Sascha, während die ersten Thränen der Angst über seine zarten Wangen rannen.
„Hilft nichts. Er hat’s mal gesagt. Gieb mir die Blumen!“ sagte Fritz mit beginnender Ungeduld. Er wußte ganz genau, daß sein Herr über den Besuch des Kindes gejubelt haben würde.
„Nein, ich gebe sie nicht,“ rief der Kleine heftig und machte kehrt. Er hielt sich auf der fremden und mit glatten Hanfmatten belegten Treppe vorsichtig am Geländer fest, seine kleine heiße Hand glitt auf dem kühlen Mahagoniholz entlang.
Unten im Flur des Hauses ging seine Mutter auf dem bunten Fliesenfußboden hin und her. Als sie ihren Knaben mit den Blumen und allein zurückkommen sah, wurden ihr vor Schreck Hände und Füße schwer.
So hatte er den lieben kleinen Sendboten gar nicht empfangen? So zürnte er? Mein Gott, warum denn so beharrlich und so grundlos? Er mußte doch begreifen, daß sie gestern ebenso gelitten wie er. Aber das war das Fürchterliche in seinem Wesen, diese Art und Weise, von der geliebten Frau blind oft Unmögliches zu verlangen und zu grollen, wenn sie nicht gewähren konnte.
Sascha weinte an dem Gewand seiner Mutter. Sie zitterte heftig. In ihre Wangen stieg brennendes Roth. So hatte sie [247] sich gedemüthigt! Ihr leidenschaftliches Herz hatte sie getrieben, ihm am frühen Morgen, an sein Bett, wie sie seinen sonstigen Gewohnheiten nach glauben mußte, den Liebling mit den beredtesten Blumen zu senden. Und er hatte den Gruß ihrer heißen Liebe verschmäht!“
„Was – was sagte er?“ fragte sie fast lallend. Der Knabe erzählte, daß er von Fritz abgewiesen worden und daß Fritz überhaupt gar nicht erst zu ihm hinein gegangen sei.
In Gerdas Herzen kehrte augenblicklich ein jubelnder Muth zurück. Sie lachte, während in ihren Wimpern noch die Thräne des Schmerzes hing.
„So geh’ noch einmal! Sage dem Fritz, daß ich unten warte und daß er sich Unannehmlichkeiten aussetze, wenn er Dich nicht einlasse. Ihm aber sagst Du nichts davon, daß ich hier bin. Wenn Du in zehn Minuten nicht wiederkommst, bin ich um elf Uhr mit Tantchen im Wagen vor der Thür. Hast Du das verstanden?“
„Ja, Mama – so lange darf ich dann bei ihm bleiben,“ jubelte das Kind und kletterte schon wieder hurtig die Treppe empor.
Oben zuckte Monsieur Fritz mit philosophischem Gleichmuth die Achseln, als das Kind zum zweiten Male vor ihm stand. Die Drohungen des Knaben, daß Mama böse werde, wenn man ihn nicht einließe, berührten ihn nicht im mindesten. Er schob den Kleinen vor sich her bis an die Stubenthür, öffnete diese und zeigte ihm mit einer nachdrücklichen Handbewegung, daß er nur da hinein gehen möge.
Alfred hatte seinen schmerzenden Kopf gegen die Rückwand des Sofas gelegt und die Augen mit der Hand bedeckt. Jede Erregung schmerzlicher Art wirkte körperlich auf ihn zurück. Das Geräusch an der Thür schreckte ihn auf, unwillig erhob er das Haupt.
Da sah er das Kind der Geliebten auf sich zueilen. „Junge!“ schrie er entzückt auf. Schon knieete er vor dem Knaben nieder und umschlang ihn innig mit beiden Armen, während dieser den Strauß vorsichtig und stets in ausgestreckter Hand hielt.
„Mama schickt Dich?“ fragte Alfred, das zarte Gesichtchen wieder und wieder küssend.
„Ja, und bis Elf soll ich bei Dir bleiben, dann wird Mama mit Tantchen im Wagen unten warten,“ sagte Sascha, sich loslösend. Seine Augen gingen im Zimmer umher.
Während Alfred in dankbar seligen Gedanken schwelgte, fragte das lebhafte Kind:
„Wer ist der Mann mit den vielen Ordenssternen? Dein Papa? Der ist auch todt, nicht wahr, wie meiner? Aber ich habe nun wieder einen. Und wer ist die weiße Frau ohne Arme? Und die in der andern Ecke mit der Schale und der Kanne? Ist das Dein Schreibtisch? O, da ist ja meine Mama, einmal, zweimal, dreimal, Mama im Winterhut und Mama im Ballkleid und Mama in ihrem Hauskleid. Den Plüschsessel kenne ich, den hat Mama gestickt. Und was ist in der Schachtel?“
„Du Schlingel,“ sagte Alfred zärtlich, „die Schachtel hast Du zuerst gesehen und fragst zuletzt danach. Lauf hin und öffne sie. Ich hätte sie Dir heute mitgebracht.“
Das Kind fragte vergnügt:
„Rothe Husaren?“
Eine Schachtel voll solcher hatte er sich vorgestern gewünscht. Alfred nickte.
Sascha trug die Schachtel vom Schreibtisch an den Frühstückstisch und begann auszupacken. Ihm gegenüber saß Alfred und bereitete ihm ein Schinkenbrötchen. Dabei sprachen sie immerfort zusammen.
In das Herz des Mannes war Sonnenhelle eingezogen. Künftig sollte es keine einsamen Stunden voll selbstquälerischer Zweifelsgedanken mehr für ihn geben. Dieses schöne, heitere, lernbegierige Kind sollte immer in seiner Nähe weilen und dazu das Weib, das über alles geliebte Weib. Seine zweck- und ziellosen Tage hatten einen Inhalt: er konnte diese junge Seele zum Verständniß des Lebens führen. Das Glücksgefühl in seiner Brust ward so mächtig, daß sich seine Augen feuchteten.
„Du Papa – ich sage schon immer Papa, nicht wahr?“
Alfred mußte sich gewaltsam fassen, um seine Rührung zu bemeistern. „Also was wolltest Du den Papa fragen?“ sagte er lächelnd.
„Warum Du alle die Briefe auf dem Tisch noch nicht gelesen hast. Ich möchte gern die Freimarken haben.“
„Es sind ja lauter gewöhnliche,“ meinte Alfred, die Briefe zusammensuchend.
„Das schadet nichts. Mama hat mir gezeigt, wie man aus Zehn- und Fünfpfennigmarken schöne Sterne kleben kann.“
Dem Liebling zu Gefallen öffnete Alfred einen Brief nach dem andern. Er sah jeder Handschrift den Absender und wahrscheinlichen Inhalt an und fühlte keine Neigung zum Lesen. Aber das Unbekannte übt immer auf die Neugier einen Reiz. Er sah da eine fremde Schrift von weiblicher Hand und allerlei Postbemerkungen auf dem Couvert, welche bekundeten, daß der Brief nach Baden-Baden gerichtet gewesen war und ihm nach Berlin nachgegangen sei.
Ihn überkam immer ein Unbehagen bei Zuschriften von unbekannter Seite. Wie erstaunte er aber, als er, das Briefblatt aus dem Couvert ziehend, demselben beigefügt, auf vergilbtem Papier, einige Zeilen von der Hand seines Vaters vorfand!
Sein Unbehagen stieg zur zitternden Erregung. Das Geheimnißvolle, was ihm da entgegentrat, war ihm entsetzlich. Er haßte alles, was nach theatermäßiger Verwicklung aussah, und wenn man seine Antheilnahme verscherzen wollte, brauchte man nur mit dramatisch gefärbtem Vortrag zu reden. Je mehr er selbst die Beute der widersprechendsten und entgegengesetztesten Erregungen sein konnte, um so mehr liebte er bei andern einfache Gefaßtheit.
Seine Aufmerksamkeit erwecken zu wollen, für welche Angelegenheit auch immer, durch ein altes geschriebenes Wort seines vor vier Jahren verstorbenen Vaters, däuchte ihn überspannt, wenn nicht gar verdächtig. Daher las er auch ziemlich ungerührt das Folgende: „Wenn Du, meine theure Freundin, eines Tages eines männlichen Rathes bedürfen solltest, wende Dich an meinen Sohn. Er wird Dir und Deiner Tochter beistehen, wenn Du ihn in meinem Namen um etwas bittest. Sage ihm dann, daß ich Dich geliebt habe, aber daß unüberwindliche Hindernisse zwischen uns standen, aber sage ihm nicht …“
Hier brach das Blatt, welches offenbar von einer Briefseite abgeschnitten war, ab, und Alfred fühlte übrigens auch nicht die mindeste Neugier, weder auf das, was ihm nicht gesagt werden sollte, noch auf das, was die Briefschreiberin von ihm wollte.
Seine Seele war so stark und ausschließlich mit sich und Gerda beschäftigt, daß er jede Angelegenheit, die sich herandrängte, als unbescheidene Störung empfand. Indeß las er seines Vaters Zeilen noch einige Male durch und seine heiße Liebe für Gerda gab ihm doch zuletzt ein immer wachsendes Verständniß für den Roman, den sein Vater offenbar erlebt hatte.
Alfreds Mutter war bei seiner Geburt gestorben. Daß sein Vater sich nicht wieder vermählt hatte, war für ihn eine Thatsache, über die er eigentlich nicht viel nachgedacht; zuweilen, wenn seine Gedanken durch die Frage irgend eines Dritten doch darauf gedrängt wurden, hatte er einfach mit der Pietät des Sohnes für die Frau, die ihn geboren, angenommen, daß sein Vater die früh verlorene Gattin lebenslänglich betrauert habe.
Und nun erfuhr er, daß sein Vater doch wieder geliebt und gewünscht hatte, aber hoffnungslos. O, er wußte, wie die Hoffnungslosigkeit wehthut! In all den Monaten des bitteren Kampfes, da er oft daran verzweifelte, sich jemals mit der geliebten Frau verständigen zu können, da hatte er sie kennen gelernt, diese Todestraurigkeit. Er erinnerte sich nun auch, daß sein Vater oft sorgenvoll und eigentlich immer freudlos erschienen war. Eine unglückliche Liebe hatte also die ganze zweite Lebenshälfte des Verstorbenen verschattet!
Für erwachsene Menschen, welche selbst schon die Leidenschaft kennen, hat es etwas ungemein Peinvolles, ihren Eltern, welche für ihre Vorstellung immer auf dem hohen Ufer der unberührten Tugend zu stehen schienen, im Strome der ungeregelten Herzenswünsche zu begegnen. Sein Vater hatte eine Frau geliebt, die an einen andern vermählt war, und diese Frau wandte sich nun an ihn, an Alfred, um Rath, vielleicht gar um Hilfe.
Mit finsterem Gesicht nahm er nun endlich auch ihre Zeilen in die Hand und seine Stirn entrunzelte sich keineswegs, als er las:
„Hochverehrter Herr! Die beifolgenden Worte von Ihres Vaters Hand führen mich bei Ihnen beredter ein, als alle meine Erzählungen von Leid und Noth vermöchten. Mein Gatte, welcher zur Zeit, da Ihr theurer Vater starb, noch lebte, hat meine Tochter und mich vollkommen mittellos in der Welt zurückgelassen. Seine Familie hat, aus der Erkenntniß heraus, daß er durch frevelhafte Wirthschaft mein großes Vermögen aufrieb, bis jetzt für mich und [248] mein Kind gesorgt; die Sorgen, der Gram, langjährige Kränklichkeit setzen meinen Tagen das erwünschte Ziel. Gründe der heiligsten und ernstesten Art, wie ich Sie dringend bitte zu glauben, verbieten es mir, für mein Kind noch über meinen Tod hinaus die Fürsorge der Familie meines verstorbenen Gatten anzunehmen. In Ihre Hand wünschte ich die gerichtliche Vormundschaft und damit das Recht, für das Fortkommen meiner Tochter zu sorgen, legen zu dürfen. Ich bin überzeugt, daß Sie mir dies nicht abschlagen können, wenn Sie mich nur erst gehört haben.
Wir lebten bisher das Nomadenleben, wie es Menschen führen, die an allen möglichen Heilstationen die Gesundheit oder den Tod suchen und beides nicht finden. Nunmehr siedeln wir Ihretwegen nach Baden über, denn ich denke mir, daß Sie, wie Ihr Vater sonst pflegte, Ihre Sommertage in Ihrem dortigen Heim verleben.
Eine Wohnung haben wir schon im voraus gemiethet, so bescheiden, wie sie meinen Mitteln angemessen ist. Ich bitte Sie, hierin keine Klage zu sehen und auch in keiner Weise den Versuch zu machen, mir ein weniger beschränktes Leben zu ermöglichen. Für mich will ich nichts. Für meine Tochter freilich viel, aber das will ich in Uebereinstimmung mit Ihrem Vater.
Ich erwarte eine Nachricht, wann Sie uns aufzusuchen gedenken, und schreibe Ihnen dann ein Wort, ob meine Kräfte mir gestatten, Sie zu sehen.
[261]
Alfred las den Brief Josephes noch einmal.
„Papa, warum liest Du immer denselben Brief?“ fragte der kleine Alexander.
„Weil sehr viel unangenehme Sachen darin stehen,“ sagte er.
„Dann wirf ihn doch fort! Mama sagte gestern mittag zu Tantchen. ‚Er ist ein Mensch, der immer Sonnenschein haben muß.‘ Damit meinte sie Dich. Und heute scheint die Sonne so heiß. Fahre doch nachher mit uns in die Sonne,“ plauderte das Kind.
Alfred nahm es auf den Schoß.
„Ja, es soll immer Sonnenschein sein bei uns. Wir beide, Du und ich, wollen Deine Mama so lieb haben.“
„So lieb,“ wiederholte der Knabe und drückte fest, fest seine Arme um Alfreds Hals, um den Grad der Liebe zu bezeichnen.
„Und den ganzen Tag wollen wir bei ihr sein, und sie und ich werden Dich zusammen alles lehren, was kleine Menschen lernen müssen, damit sie groß und verständig werden,“ fuhr Alfred fort.
„Hast Du denn dazu immer Zeit?“ fragte Sascha und sah ihn groß an.
„Glücklicherweise ja! Aber warum meinst Du?“ fragte Alfred dagegen und forschte mit argwöhnischen Blicken in den offenen Kinderzügen. Sein Herz schlug. Jetzt würde von diesen unschuldigen Lippen irgend ein bedeutungsvolles Wort kommen, ein Wort, das Gerda vielleicht nicht ohne Absicht vor den immer wachsam lauschenden kleinen Ohren gesagt …
Aber das Kind sprach nur nachdenklich. „Ich meine nur so. Die Papas von Willy und Wolff und Karl haben immer keine Zeit, mit kleinen Jungen zu spielen.“
Die Väter seiner Spielgenossen – Alfred kannte sie alle wohl, der eine war Bankier, der andere ein hervorragender Parlamentarier, der dritte ein Staatsbeamter.
„Die haben auch alle einen Beruf,“ erläuterte Alfred.
„Den müssen alle Männer haben, sagt Mama,“ rief das altkluge Kind.
Da war es nun doch, das böse Wort, das Wort, welches gleich auf eine ganze Reihe vergangener und zukünftiger Kämpfe hinwies.
„Wann sagte Mama das?“ rief Alfred heftig.
„Ich weiß nicht mehr. Bitte, mach doch dem Husaren das Bein gerade,“ und dabei hielt die kleine Faust einen verbogenen Zinnsoldaten fast unter Alfreds Nase.
„War es, als sie mit Tantchen gerade von mir sprach?“ forschte Alfred weiter. Aber er bog doch gehorsam das krumme Bein wieder zurecht.
Der Knabe war mit seinen Gedanken schon ganz von dem Gespräch entfernt. Auch hatte er schon jeden Soldaten vom Pferd genommen und wieder draufgesetzt. Nun mußte etwas anderes kommen.
„Hast Du schwarze Farbe, Papa?“
„Nein! Was soll’s?“
„Ich wollte aus den Schimmeln Rappen machen.“
„Das geht nun nicht.“
„Was soll ich denn nun anfangen?“
Alfred wußte für das geliebte Kind immer Rath.
„Komm,“ sagte er, „Du kannst zeichnen.“
Er setzte den Kleinen an den Schreibtisch, stellte einen Karton Briefpapier und einige Bleistifte vor ihn hin und bat ihn, ein [262] bißchen stille zu sein, da er, Alfred, noch die Briefe lesen und sich nachher umkleiden müsse.
Alfred las zum dritten Male den Brief von Josephe Thomas. Alle Menschen, die stark mit sich beschäftigt sind, haben die Neigung, in jedem Ereigniß seine Beziehungen aufzuspüren, die zu ihnen selbst hinüberleiten. So hafteten alle seine Gedanken zuletzt an der Stelle, wo diese Frau ihm sagte, daß sie für ihre Tochter viel wolle, aber dies in Uebereinstimmung mit seinem verstorbenen Vater.
Das konnte natürlich nur den einzigen Sinn haben, daß diese beiden, die sich einst hoffnungslos geliebt hatten, ihren trauernden Herzen zur Entschädigung eine Verbindung ihrer Kinder erhofften. Sein Vater hatte ihm freilich nie dergleichen angedeutet, aber er begriff solche Zurückhaltung gar wohl und verstand, wie peinlich es für einen Vater sein müsse, dem erwachsenen Sohn von einer Liebe zu reden, die einer andern Frau als dieses Sohnes Mutter gegolten.
Wie doppelt unangenehm wurde nun diese Annäherung! In zwiefacher Weise ward die arme Frau nun schon enttäuscht: er war nicht in Baden und nicht mehr Herr seiner Hand. Was würde Gerda zu dieser Geschichte sagen? Aber sie, taktvoll und von schnellen Entschlüssen, würde sicher am besten wissen, in welcher Art er sich aus der Sache ziehen könne.
In seinen Gedanken, die sich lange im Kreise um denselben Punkt gedreht hatten, störte ihn ein unterdrücktes Kichern. Er sah auf und sah seinen Liebling mit dem seligsten Gesicht vor dem Schreibtisch, wo ein Haufen Briefpapier, mit Blei verschmiert, in einem Meer von Tinte schwamm, und wo die mit Schimmeln berittene Husarenschwadron sich jetzt auf grell lila Pferden präsentirte. Der Junge hatte ebensolche Hände und sein weißer Anzug war lila getigert.
„Sie sind lila, Papa,“ jubelte der Kleine, „ich dachte, Deine Tinte sei schwarz, und ich wollte Rappen damit machen.“
Alfred war entzückt. Er lachte Thränen und besah sich die Hände des Kleinen.
Dann rief er: „Fritz, Fritz!“
Fritz kam nur, wenn man klingelte, das war er so gewohnt, und er ließ sich nie in seinen Gewohnheiten stören. Als Alfred sechsmal gerufen, drückte er einmal auf die elektrische Glocke, und allsogleich erschien Fritz.
„Warum kamen Sie nicht? Ich habe sechsmal gerufen,“ schalt der Herr.
„Weil ich das Geschrei nicht leiden kann,“ dachte Fritz, sagte aber ruhig:
„Ich höre draußen nur die Glocke.“
Das konnte sein Herr nun nehmen, wie er wollte, denn zu Fritzens Eigenthümlichkeiten gehörte auch, daß er nie log.
Auf die Tintenbescherung warf er nur einen Blick der Verachtung und sagte:
„Die grüne Tuchplatte muß erneuert werden. Der Anzug des jungen Herrchens ist verdorben. Soll aus seinem Hause ein anderer geholt werden?“
„Nein, wir bleiben so, Schlingel, was?“ meinte Alfred. „Nur die kleinen Fäuste wollen wir waschen.“
Damit hatten sie genug zu thun, die lila Tinte war echt, und als man einen Wagen vor dem Hause halten hörte, befanden sich noch vier Hände zusammen im lila Seifenschaum.
„Geh hinunter! Ich lasse die Frau Baronin bitten, einen Augenblick zu verziehen.“
Fritz sagte unten am Wagenschlag. „Frau Baronin mögen einen Augenblick verziehen. Es ist ein kleines Unglück vorgefallen – der Herr eilen sich soviel wie möglich.“
Gerda, die strahlend vor Schönheit und Glück im offenen Landauer saß, schaute auf.
„Ein Unglück – mein Sohn? Herr von Haumond?“
„Der junge Herr. Ein kleines Malheur wirklich nur …“
Gerda war schon aus dem Wagen und auf dem Flur.
„Aber Frau Baronin!“ rief Fritz mit vergnügtem Gesicht hinter ihr her.
Doch sie hastete schon treppauf.
Gerade kam aus dem zweiten Stockwerk, wo sie bei einer Freundin zum Frühbesuch gewesen, Frau Mietze Ravenswann herab. Mit hohem Interesse sah sie die Dame kommen, das weiße Kleid, der weiße Federhut und der weiße Tüllschirm derselben erschienen ihr sehr auffallend. Richtig, das war ja die Offingen, und so hastig. Frau Ravenswann stand still, aber ohne sie scheinbar zu sehen und ohne sie zu grüßen, ging die Baronin in die Thür der ersten Etage, welche, auch sehr seltsam, nicht verschlossen war, sondern ein wenig offen stand, als habe man jemand erwartet, der nicht erst klingeln sollte. Natürlich, in der Zeit, daß man steht und wartet, bis geöffnet wird, können zuviel Menschen einen sehen.
„Ich muß doch mit Ludolf darüber s-prechen,“ dachte sie entrüstet, „ob wir überhaupt Haumond noch bei uns empfangen können. Sie that, als wenn sie mich nicht sähe, dabei s-tand die Thür auf, sie wurde offenbar erwartet und s-türzte nur so hinein. Nein, alles was recht ist, aber das finde ich zu s-tark, selbst wenn sie sich s-päter heirathen sollten.“
Und während ihr das Herz vor sittlicher Entrüstung pochte, ging Frau Mietze Ravenswann geradeswegs zu ihrer Freundin, der Frau Doktor Schneider, um dieser ihre Wahrnehmung mitzutheilen. Denn zu einer solchen sittlichen Entrüstung gehören immer zwei gute Hausfrauen, das fühlte auch Frau Mietze deutlich.
Gerda, die anstatt Blut – wie sie gefürchtet – Tinte sah, lachte wider Willen über das Unheil.
Aber nachher, als man in ihrem Hause gewesen war, um den Knaben sauber umzukleiden, sagte sie doch:
„Bist Du Dir aber über den Schaden klar, den Du angestiftet hast, Sascha? Nicht nur, daß Dein Anzug verdorben ist, auch der Tisch, der doch nicht Dein Eigenthum war und den Du schon deshalb hättest in acht nehmen müssen, ist ruinirt.“
„Das nenne ich Erziehungspedanterie,“ fiel Alfred ein, „willst Du ihm nicht lieber noch vorrechnen, daß von dem Gelde, was all dies kostet, eine arme Familie so und so viel Tage hätte leben können?“
„Das wäre nicht so unklug, wie Du es zu finden scheinst, denn man muß Kindern früh den Werth der Dinge klar machen, will man sie nicht zum Verschwenden erziehen,“ antwortete Gerda ruhig.
Alfred schwieg. Sie hatten sich beide vorgenommen, sich heute durch keinerlei Meinungsverschiedenheit reizen zu lassen.
Der Wagen rollte durch die Leipzigerstraße den Linden zu, denn Sascha hatte gebeten, daß man dem Aufzuge der Wache zusehen wolle.
Gerda und Alfred hatten sich, ehe sie dem zustimmten, eine Minute darüber gestritten, ob der Kaiser anwesend sei oder nicht, aber Gerda wußte es ganz gewiß und hatte es erst heute morgen in der Zeitung gelesen, daß der Kaiser von Babelsberg aus einige Tage nach Berlin gekommen sei.
Das Tantchen saß beleidigt und schweigend neben Gerda im Wagen. Erstens hatte Alfred sie gar nicht nach ihrem Befinden gefragt, und zweitens dachte niemand daran, ob ihr auch der Lärm und die Menschenmenge nicht zuviel für die Nerven werden möchten.
So unterblieb jedes Gespräch, das bei dem Rollen des Wagens und dem Getöse der Straße ohnehin beschwerlich gewesen wäre. Sascha ließ seine aufmerksamen Augen unaufhörlich in der Runde wandern. Eine Zeit lang verfolgte er einen Sprengwagen, an dem sie vorbeikamen. Er dachte angestrengt darüber nach, wie aus der dicken, rothen, liegenden Tonne der breite feine Regen kommen könne, der quer über die Straße weiterrückte, dem Gange der bequem schreitenden Zugpferde folgend. Sein Wunsch, auch einmal auf so einer rothen Tonne fahren zu dürfen, wurde durch das brennende Interesse abgelöst, welches ein in seiner Nationaltracht vorbeigehender Chinese ihm erweckte.
Er fragte Alfred, was das für ein Mann sei, weshalb er einen blauseidenen Kittel ohne Gürtel und so komische Schuhe und einen langen Zopf habe und solchen Sonnenschirm, wie die Gräfin Mollin ihn zwischen weißen Palmen in der Salonecke habe. Alfred erzählte ihm von China, von der Größe und Fremdartigkeit des Landes. Und als der unersättliche Knabe immer weiter fragte, warum denn die Chinesen hierher kämen, sprach Alfred von der Gesandtschaft, und wie die verschiedenen Kulturen einander vertrauter würden und ihre Schätze austauschten durch diese diplomatischen Beziehungen. Obgleich er das alles so einfach wie möglich und auch dem Verstand eines Kindes angepaßt vortrug, fand Gerda das zu viel für den ohnehin immer überangestrengten Kopf des Kindes.
[263] „Fülle sein armes kleines Gehirn nicht mit Stoff, den es noch nicht verarbeiten kann,“ bat sie herzlich.
„Jeder muß die Nahrung haben, die er verdauen kann. Sascha ist eben seinen Jahren voraus,“ antwortete er.
„Um so mehr ist es meine Pflicht, ihn zurückzuhalten,“ sagte sie entschieden.
„Ich denke darin anders und werde, ohne ihn zu überanstrengen, immer Belehrendes mit ihm sprechen,“ sprach Alfred mit einem Ton, der sich Widerspruch verbat.
„Mir scheint, zunächst habe ich doch zu bestimmen, wie mein Sohn erzogen werden soll,“ rief sie erregt.
Alfred zog den groß aufschauenden Knaben an sich.
„O, daß Du nicht mein Sohn bist!“ sagte er schmerzlich, „niemand sollte mir drein reden, auch die Mutter nicht.“
Sie sahen sich an, voll Schmerz und Zorn. Aber der flammende Blick ihrer Augen wandelte sich in heiße Liebe. Gerdas Lippen öffneten sich ein wenig, ihr Haupt neigte sich leise vorwärts ihm zu. Er drückte ihr stumm und heftig die Hand.
„Da ist die Tante Mollin und Herr von Prasch,“ rief Sascha und nickte immerzu.
Gerda ließ auf einen Wink der Gräfin halten.
Die Gräfin trug einen weißen Strohhut mit einfachem schwarzen Band, wie ihn Knaben und ganz junge Mädchen zu tragen pflegten. Der saß keck genug auf ihrem kurzen Haar. Sie hatte ihre Körperfülle in ein enganliegendes Kleid von blau und weiß gestreifter Leinwand gehüllt und dachte nicht daran, ihre üppige Taille mit einer Mantille zu verhüllen. Sie hielt ihre langgestielte Lorgnette vor die Augen und stand so auf dem Granitrand des asphaltirten Bürgersteigs. Neben ihr erschien Herr von Prasch, der übrigens ganz denselben Hut aufhatte, in seinem hellgrauen Jackettanzug wie ein Nippfigürchen.
„Du wünschest, Hilda?“ fragte Gerda aus dem Wagen.
„Nur zu wissen, wohin Ihr wollt,“ erklärte die Gräfin mit der ihr eigenen Unbefangenheit.
„Den Kaiser sehen und die Musik hören,“ rief Sascha.
„Das ist noch viel zu früh. Kommt einstweilen mit ins Café Bauer, wo Prasch und ich gerade die Morgenzeitungen lesen wollten; Kutscher, Café Bauer!“ rief die Gräfin und setzte ihren Weg fort in der seelenruhigen Gewißheit, daß der Kutscher sammt seinen Fahrgästen einfach ihren Anordnungen folgen würde.
Haumond und Gerda lachten. Das Tantchen machte sich in ihrer Wagenecke noch kümmerlicher. Sie war neuerdings beleidigt, daß auch die Mollin nicht nach ihrem Befinden gefragt hatte.
Sie stiegen vor dem Café aus, als auch schon die Gräfin mit ihrem Begleiter um die Ecke der Friedrichstraße kam, und gingen die Treppe hinauf. Sascha wollte oben auf dem Balkon stehen, die Gräfin oben die Zeitung lesen. Ob das Tantchen die Treppen steigen könne, fragte niemand, deshalb stützte sie sich viel scherer, als es ihr nöthig gewesen wäre, auf Alfreds Arm, damit man es doch bemerke. Leider bemerkte es aber niemand.
Oben fand Alfred zu seinem Erstaunen Marbod Steinweber an einem Marmortischchen hinter der „Neuen Freien Presse“ sitzend, den Rücken dem Saal, das Gesicht, oder besser gesagt, das Zeitungsblatt der geöffneten Balkonthür zugekehrt.
„Mein alter Junge, Du? Ich denke, Du büffelst heute schon auf Deinem Bureau?“ rief Alfred erfreut.
„Für heute waren meine Pflichten mit der Vorstellung bei Ueber- und Untergeordneten beendigt,“ sagte Steinweber, nachdem er Gerda die Hand geküßt.
„Und wie geht es Ihnen heute?“ fragte er das Tantchen.
Sie athmete auf, unendlich beglückt.
„Danke,“ sagte sie mit schmerzlicher Stimme, „ich hatte gestern abend zu viel Erregungen, so daß ich, trotzdem ich wieder ein und ein halbes Schlafpulver nahm, nur von zwei bis halb fünf Uhr geschlafen habe.“
„Das thut mir recht leid,“ sagte Marbod gutmüthig.
„Nur nicht muthlos, Tantchen,“ tröstete Gerda, „heute morgen geht es desto besser.“
„Im Gegentheil,“ widersprach das alte Fräulein gereizt, „ich habe heute morgen, wie mir mein Doktor befahl, versucht, anstatt Kakao Gerstenschleim zu trinken, aber das ist mir schlecht bekommen.“
„Alfred, ein Glas Portwein für Tantchen, Sascha und ich nehmen etwas Süßes,“ befahl Gerda.
„Bitte, Herr Doktor,“ sagte Prasch, Steinweber am Arm nehmend, „auf ein Wort! Sie schreiben doch zuweilen für die ‚Morgenpost‘. Wenn Sie da ein Wort über mein Wagnerbuch einfließen lassen wollten, wäre ich Ihnen dankbar. Aber bitte, vermeiden Sie es, mich, wie es vorgestern in der ‚Abendzeitung‘ geschah, in einer Weise zu charakterisiren, als ob das Wagnerkommentiren meine Specialität sei. Doktor Bendel sagte gestern sehr richtig, daß schon zu viel über Wagner geschrieben sei, und daß man mit weiterem warten müsse, bis seine Biographie erschienen, die er selbst seiner Frau diktirt haben soll. Und da die Gräfin Mollin durch einen glücklichen Zufall im Besitz eines Briefes ist, den Hölderlin an eine Freundin der verstorbenen Schwiegermutter der Gräfin schrieb, so will ich jetzt ein Buch über Hölderlin verfassen. Finden Sie nicht auch, daß über diesen edlen Dichter, der doch die deutsche Sprache um mehr Worte bereichert hat als selbst ein Schiller, noch zu wenig geschrieben ist, und daß man deshalb unsere Idee eine glückliche nennen muß?“
Und dann trug er Steinweber alles vor, was er in der Nacht und heute morgen von Hölderlin gelesen.
Die Gräfin saß unfern, mit drei um den Halter aufgerollten Zeitungen in ihrem breiten Schoß und einer vierten in ihren weißen, fleischigen Händen. Zum Lesen trug sie einen Kneifer. Alle paar Minuten rief sie mit ihrer tiefen Altstimme über den Zeitungsrand weg.
„Das wird Sie interessiren, Prasch,“ und las ihm einige Zeilen vor.
Das Tantchen las in dem „Journal amusant“ und entrüstete sich dabei, daß man sie in ein Lokal führe, wo ein derartiges Blatt aufliege.
Draußen auf dem Balkon aber saßen Gerda und Alfred. Zwischen ihnen war das winzige Marmortischchen; unfern stand Sascha am Eisengeländer und starrte auf das bunte Straßengetriebe hinab.
Alfred hatte der Geliebten den Brief der Frau Josephe Thomas gegeben und die Zeilen seines Vaters.
„Ohne Dich gehört zu haben, wollte ich nicht antworten,“ sagte er, „aber Du begreifst, daß mir diese ganze Geschichte mehr als lästig ist. Ja, wenn man einfach mit einer Geldsendung antworten könnte! Aber das verbietet sich durch die Zeilen meines Vaters, darin ist nicht von Hilfe, sondern von Rath und Stütze die Rede.“
Gerda dachte nicht lange nach.
„Du wirst der armen Frau eine Depesche senden, worin Du ihr sagst, daß Du ihren Brief hier und heute empfingst. Ferner, daß Du morgen abend in Baden eintriffst,“ entschied Gerda.
Er sah sie erblassend an.
„Du schickst mich fort? Jetzt? Du glaubst, ich könnte mich von Dir trennen, nachdem ich Dich eben gefunden? Und das um einer Frau willen, die mein Vater geliebt, die mich nichts angeht,“ rief er zitternd.
„Wer spricht von Trennung?“ fragte sie, ihn mit glücklichem Lächeln ansehend. „Ich gehe auch nach Baden. Müssen wir, Sascha und ich, nicht auch den Ort kennen, wo wir vielleicht künftig wohnen sollen?“
„Geliebte! Engel!“ sagte er mit heißer Dankbarkeit. „Du weißt immer das Richtige. Ja, wir wollen fort von hier, wo wir – laß es uns doch frei gestehen! – nur ausharrten, weil wir uns nicht losreißen konnten, ehe die Entscheidung gefallen. Sascha, mein Junge, wir wollen reisen, Du, Mama und ich! In die Berge und den Wald!“
Der Knabe hörte nicht. Er sah und war mit allen seinen Sinnen auf der Straße.
Die beiden Glücklichen sprachen leise von künftigen Tagen; unter dem Tischchen hielten sie ihre Finger ineinander verschlungen, und ihre Augen erzählten sich von brennenden Wünschen.
Drunten fluthete in der steigenden Hitze des Sommertages das Gelärm vorbei. In den verstaubten Lindenkronen rauschte ein schwüler Wind. Aus dem Saal drang zuweilen die laute Stimme der Gräfin oder das Knistern eines Zeitungsblattes oder das Klappern von Geschirr auf Marmorplatten heraus.
Und doch war ihnen beiden so friedvoll glücklich im Herzen, als seien sie weltentrückt und allein.
„Mama, ich glaube, es gehen schon eine ganze Menge Leute zum Kaiser,“ sagte Sascha und bemühte sich, das Köpfchen stark seitwärts legend, bis zum Denkmal Friedrichs des Großen die [264] Straße hinauf zu sehen, was ihm die Reihe der Lindenkronen natürlich unmöglich machte.
„Ja, wir müssen gehen,“ rief Alfred aufspringend. Als sie sich von den Bekannten verabschieden wollten, sagte Marbod, daß er sich anzuschließen gedenke; die Gräfin Mollin, welche gerade einen Artikel las von einem Kritiker, den sie verachtete, über einen Autor, den sie haßte, hatte in ihrer zornigen Aufmerksamkeit für diese „Lächerlichkeit“ keine Zeit zu mehr als einem Kopfnicken, das sie mit einem unklaren Laut begleitete, den man bei einigem guten Willen für ein „Adieu“ nehmen konnte. Herr von Prasch hielt Alfred am Rockärmel zurück.
„Auf ein Wort!“ sagte er, „ich konnte bisher keine Gelegenheit finden, mit Ihnen über die Sache zu sprechen, lieber Haumond. Sie werden doch mein Wagnerbuch recensiren? Und nicht wahr, Sie weisen bei dieser Gelegenheit darauf hin, daß man von demselben Autor demnächst werthvolle Inedita über Hölderlin veröffentlicht sehen wird? Durch einen wunderbaren Zufall hat sich nämlich ein Brief vorgefunden, den Hölderlin einer Freundin der verstorbenen Schwiegermutter der Gräfin …“
„Ich recensire keine Bücher,“ fiel Alfred ihm schroff in die Rede, „und am wenigsten solche, die aus den Papierkorbschnitzeln großer Männer gemacht werden.“
Prasch blieb ganz verblüfft stehen; seiner naiven Zudringlichkeit, die einer kindlichen Liebenswürdigkeit nicht entbehrte, war solche Abfertigung noch nicht zu theil geworden, denn niemand nahm ihn ernst oder vermochte ihm Ernstes zu sagen.
Während Marbod, halb aus Gutmüthigkeit für das kränkliche alte Fräulein halb aus Rücksicht auf die Liebenden, die er nicht stören wollte, das Tantchen am Arm voraus führte, meinte Gerda draußen:
„Ein wenig sanfter hättest Du ihn abfertigen können.“
„Seit dieser kleine Mensch, um aus seinem Nichts heraus sich zu etwas zu machen, angefangen hat, den großen Mann zu suchen, an dem er emporklettern kann, ist er mir einfach unerträglich,“ schalt Alfred.
„Mein Gott,“ sprach sie beschönigend, „er will sich eben der Protektion und des Wohlwollens von Hilda Mollin werth zeigen. Beides empfing er pränumerando, und da sie nun einmal eine bedeutende Frau ist …“
„Dafür gilt und es zu sein glaubt, in der That aber nur bizarr ist,“ fiel Alfred spöttisch ein.
„So giebt der Kleine sich bei der Jagd nach einem litterarischen Nimbus die größte Mühe,“ vollendete Gerda.
„Nun, meinetwegen können sich beide so albern benehmen, wie sie wollen. Nur uns sollen sie ungeschoren lassen. Soviel weiß ich: in meinem Hause wird weder Prasch noch die Mollin empfangen, wenn ich erst verheirathet bin,“ sagte Alfred. Er hatte in der That bis zu dieser Sekunde an die beiden harmlosen Menschen, die zur besten Gesellschaft gehörten und außer ihren Steckenpferden, die sie allerdings mit etwas drolligen Allüren ritten, durchaus tadellos waren, nur mit vollkommenster Gleichgültigkeit gedacht. Aber daß Gerda sie gegen ihn in Schutz nahm, reizte ihn, so daß er etwas Aeußerstes sagen mußte.
„Wie,“ sagte Gerda empört, „Hilda Mollin in unserem Hause nicht empfangen? Sie, die schon bei meinen Eltern verkehrte, als ich ein Kind war? An deren Persönlichkeit sich mir theuerste Jugenderinnerungen knüpfen? Gehört es denn überhaupt zu Deinen Principien, nur Leute zu empfangen, die gerade nur Deiner Individualität zusagen?“
„Hilda Mollin mitsammt Deinen theuren Jugenderinnerungen will ich Dir nicht entziehen. Aber was das Princip anbelangt, bin ich allerdings der Meinung, daß in streitigen Fällen die liebende Frau es vorzieht, auf den Umgang jemandes zu verzichten, der dem Gatten nicht gefällt,“ erklärte Alfred.
Marbod sah sich schon nach den beiden um, denn er hörte unschwer, daß ihre Stimmen in Unmuth verschärft waren.
„So?“ fragte Gerda scharf, „und wenn das nun gerade jemand ist, von dem sich die Frau aus tausend Gründen nicht lossagen kann und mag? Und wenn umgekehrt der Mann einen theuren Freund hat, welcher der Frau nicht gefällt? Soll er ihn auch aufgeben? Opferfreudige Selbstüberwindung steht nicht in dem Programm Deines Lebens zu zweit?“
Sie stritten weiter, mit steigender Erbitterung. Der Knabe, welcher neben Marbod und dem alten Fräulein einhergegangen war, hörte den Ton, den er schon kennen mußte. Als sie nun in einer Gruppe dicht nebeneinander standen, sagte er:
„Ach, streitet Euch doch nicht!“
Gerda erschrak. Sie sah in das leuchtende, feuchtschimmernde Auge ihres schönen Kindes.
Von gleichem Impuls ergriffen, bückten sie und Alfred sich gleichzeitig, den Knaben zu küssen.
Dann nahmen sie ihn vor sich, während sie selbst Arm in Arm, eng aneinander geschmiegt, inmitten der Menschen stehen blieben.
Der Platz um das Denkmal Friedrichs des Großen war dicht gedrängt voll von Leuten aus allen Bevölkerungsklassen. Bis an die Mauern der Akademie und das Gitter vor der Universität standen sie in der Mittagshitze unter dem vielfach gefleckten und unregelmäßig unterbrochenen Dach von Sonnenschirmen. Vor dem Palais des Kaisers war der Fahrdamm frei gehalten. Oben auf dem Dachfirst hing die Purpurstandarte schlaff an ihrer Stange herab. Die meisten Fenster des Palais waren weiß verhangen. Nur im unteren Geschoß sah man die schwarzen blanken Glasscheiben das Straßenbild spiegelgleich wiedergeben. Uebrigens regte sich hinter denselben nichts. Die Schildwache ging langsam vor dem Thore auf und ab.
Mittagsschwüle und Erwartung brütete über dem Ganzen.
Da klang ein fernes Dröhnen, das sich bald mit Schmettern vermengte und endlich als Militärmusik und Marschtritt aufziehender Soldaten zu erkennen war.
Sascha klagte, daß er nichts sehen könne. Ohne weiteres nahm Alfred ihn auf den Arm. Und der Knabe klatschte glücklich in die Hände, als er den Vortrab von Kindern, Bummlern und Fremden sah, welcher der Musik voranzog.
Sein Jauchzen ward verschlungen von dem brausenden, frischen Klang eines Militärmarsches, der jetzt die ganze Luft erfüllte und sich hüben und drüben in durchdringenden Schallwellen an den Mauern brach.
„Sieh dort, auf das Fenster!“ schrie Alfred dem Kinde zu.
Ein tosendes Rufen ging jäh in die Lüfte empor, wie ein Schrei des Glücks und der Begeisterung, der sich immer wiederholte. Hüte, Schirme, Tücher schwenkten, von winkenden Händen gehalten, über den Köpfen der Menge. In jedem Herzen war eine heiße Erregung, und jedes Auge sah durch einen Thränenschleier auf das Eckfenster des Palais, wo die hohe Gestalt des greisen Kaisers das Haupt gütig neigte.
Und dann stieg der Jubel ins Maßlose. Neben dem hehren Greis, von dessen Hand leicht umschlungen, erschien ein kleiner blonder Knabe und legte das Händchen grüßend an die junge Stirn.
Des Kaisers Urenkel.
Da stieg plötzlich, von tausend Lippen wie auf ein unsichtbares Kommando hin zugleich angestimmt, das vaterländische Lied gen Himmel.
Und ganz falsch und ganz andächtig, die Händchen wie zum Gebet gefaltet, sang Sascha mit. „Heil Dir im Siegerkranz“.
Alfred hatte den freien Arm um Gerda gelegt, sie sahen sich an, Liebe und Begeisterung in den heißen Augen, und ihre Ohren hörten aus dem vieltausendstimmigen Gesang die eine, rührende, kindlich falsche Singstimme heraus.
Sie fühlten sich heilig eins: eins in der riesengroß aufwallenden Begeisterung für den erhabenen Greis und das Vaterland, eins in dem Entzücken über das warmempfindende, alles erfassende Kind.
Sie waren noch wie von einem schönen Traum umfangen, als das köstliche Bild sich schon verschoben hatte und die Straße begann, ihr gewöhnliches Gesicht zu zeigen.
„Was nun?“ fragte das alte Fräulein, dessen Entrüstung über alle diese unerhörten Strapazen immerfort lebendig gewesen war, selbst während alle Welt dem Kaiser zujauchzte; „ich meinerseits kann keinen Schritt mehr gehen, und so gern ich auch Seiner Majestät meine Huldigung darbringe, muß ich doch gestehen, daß es in dieser Form nur für Leute mit eisernen Nerven möglich ist.“
„Kommen die Herren zu Tisch?“ fragte Gerda, während Alfred für die Damen eine vorüberfahrende Droschke anhielt.
Alfred sah ihr in die Augen, traurig und innig. In der lebhaften Erinnerung an den Streit, den sie vorhin gehabt, und an die Wonne, die sie eben zusammen gefühlt, sagte er:
„Wir wollen uns heute nicht sehen. Du wirst auch Deine [266] Sachen zu packen haben, Gerda. Wenn es Dir so recht ist, treffen wir uns heute nacht um elf Uhr auf dem Friedrichstraßenbahnhof. Ich werde alles besorgen, Billette und Plätze im Schlafwagen. Tantchen fährt doch mit?“
Gerda nickte. Ja, so war es besser. In der Unruhe der Abreisestimmung fänden sie doch gewiß hundert Anlässe zu Meinungsverschiedenheiten. Hier war alles Hast, Unnatur, Zwang. In dem Frieden der Wälder würde auch in ihre Liebe der Frieden kommen.
Das Tantchen und Marbod standen vorerst stumm vor Staunen.
Nun wollten diese beiden unruhigen Menschen wieder reisen, und kein Mensch wußte davon.
„Aber das ist stark,“ brachte das Tantchen endlich mit bebenden Lippen heraus.
„Es geht nach Baden-Baden,“ sagte Gerda und geleitete die alte Dame vorsichtig an die Droschke. „Alfred hat dort zu thun. Auch Dir wird es gut sein, Tantchen, Tannenluft zu athmen. Und was Herrn Doktor Steinweber betrifft, so wird er uns in den vier Wochen, die wir wegzubleiben denken, nicht vergessen.“
Marbod nahm ihre dargebotene Hand. Er sah sie an, fast ängstlich. Man merkte wohl, es war ihm leid, daß sie ging, ohne daß er lange und ausführlich mit ihr hatte sprechen können. Und in der That, er hätte sie bitten mögen, innig und eindringlich – er wußte selbst nicht, um was. Für seinen Freund? Aber sie liebte diesen doch, groß und voll Leidenschaft. Was brauchte er da zu bitten. „Verlaß ihn nicht!“ Und doch war’s, als müsse er dieses sinnlose Wort herausstoßen gerade dieses.
„Du verläßt mich heute keinen Augenblick “ sagte Alfred ganz bestimmt, als die Damen fortfuhren. „Du mußt freilich zusehen, wie ich einpacke, aber das ist eine halbe Stunde. Der ganze sonstige Tag ist frei für unsern Willen.“
„Leider nicht der meinige. Ich bin für den Abend von Ravenswann eingeladen,“ sprach Marbod, Arm in Arm mit dem Freunde die Richtung nach der Wohnung desselben einschlagend.
„Sage ab!“
„Ludolf giebt seiner Einladung erhöhte Wichtigkeit, indem er dabei schreibt, daß sie in einigen Tagen verreisen, sein Sommerurlaub beginnt, und daß der heutige Abend der letzte ist, an welchem sie mich vorher noch bei sich sehen können,“ erzählte Marbod, worauf Alfred lachend meinte, daß es dann freilich kein Entrinnen gäbe. Er sei überzeugt, daß das Ehepaar, wenn es in acht Tagen reisen wolle, bis dahin jede Stunde mit Vorbereitungen zu thun habe.
In seiner Wohnung berief Alfred seinen Diener, theilte diesem mit, daß man heute abend reise, und daß Fritz unter seiner Aufsicht schleunigst zu packen habe.
„Hatten der Herr gedacht, mich mitzunehmen?“ fragte Fritz, seinen Herrn ansehend.
„Natürlich!“
„Ich muß den Herrn darauf aufmerksam machen, daß Sie beim Engagement eine Verpflichtung meinerseits, mit auf Reisen zu gehen, nicht erwähnt haben,“ sagte Fritz kühl. Er hatte keine Neigung, bei der Hitze in der Eisenbahn zu sitzen und sich von der guten Verpflegung zu trennen, die ihm Frau Meyns angedeihen ließ. Als eingefleischter Berliner fühlte er sich überdies nur hier am rechten Schauplatz für sein Thun und Nichtthun.
Alfred war sekundenlang stumm vor Erstaunen.
„Aber das ist doch selbstverständlich,“ antwortete er endlich.
„Keineswegs,“ erwiderte Fritz, „ich könnte dem Herrn ja sagen, daß ich alte Eltern oder dergleichen hätte, denen meine stete Gegenwart hier unentbehrlich wäre; es ist nicht der Fall, aber es könnte so sein und würde dann doch klar beweisen, daß die Verpflichtung, mit auf Reisen zu gehen, nicht selbstverständlich ist.“
Marbod bewunderte die Geduld des Freundes, der, anstatt heftig zu werden, ganz wohlwollend fragte:
„Also, Sie wollen nicht mit nach Baden-Baden?“
Fritz besann sich einige Augenblicke. Baden-Baden? Seine vorige Herrschaft war ebenfalls dort, wie ihm die Jungfer derselben, eine seiner „Bräute“, geschrieben. Einer angenehmen Unterhaltung in den Freistunden war er dort also sicher.
„Dorthin – o ja,“ sagte er langsam und ging, um nach den Koffern zu sehen.
„Wie kannst Du das ertragen?“ rief Marbod, „der Mensch ist ja frech und blasirt.“
„Weder das eine, noch das andere,“ antwortete Alfred heiter, „er ist immer logisch und lügt nie. Daß er mich nicht als seinen Herrn und sich nicht als meinen Sklaven, sondern unser Verhältniß als einen Vertrag mit genau abgegrenzten Rechten und Pflichten ansieht, ist vielleicht etwas – modern. Er sieht mich keineswegs für etwas Höheres an als sich selbst. Aber er murrt auch nicht darüber, daß ich es besser habe.“
Marbod stand am Schreibtisch und besah Gerdas Bilder, während Alfred aus Schränken und Schubladen Sachen zusammentrug und auf den Tisch häufte.
„Ich sehe Dich mit einem unspmpathischen untergeordneten Menschen Geduld haben,“ begann Marbod, „ich sehe Dich fast gütig seine Art und Weise psychologisch erklären. Und mit einem andern menschlichen Wesen, dem höchsten, das für Dich die Erde trägt, sehe ich Dich in fortwährenden ungeduldigen Streitereien.“
Alfred warf die Bücher, welche er gerade in der Hand hielt, polternd zu Boden.
„Warum rührst Du daran?“ rief er heftig, sank in den nächsten Stuhl und preßte die geballte Faust gegen die Stirn.
„Das ist mein Freundesrecht. Früher, wenn Dich Unklarheiten quälten, brachte ich Dich auch zum Sprechen, und redend ward Dir’s frei in der Seele und licht,“ sprach der andere, sein ernstes Auge liebevoll auf den Freund richtend.
„Und jetzt ist das Allerschlimmste, daß ich nicht einmal davon reden kann, daß ich mir in meinen eigenen Gedanken in schweigenden, schlaflosen Nächten nicht einmal die Räthsel zu lösen vermag, welche wie dunkle Schatten zwischen mir und der Geliebten schweben,“ sagte Alfred fast tonlos vor sich hin. „Oft ist mir, als müßte ich daran zu Grunde gehen. Jedes ihrer Worte reizt mich, und schweigt sie, so reizt mich ihre Geduld. Wir greifen uns fortwährend an, oder wir bestreben uns, uns gegenseitig zu schonen. Das eine ist so quälend wie das andere. Das eine beleidigt, das andere demüthigt. Tausendmal hatten wir uns vorgenommen – sie und ich, denn sie fühlt alles ebenso und ringt es in erschreckender Gleichheit genau so durch – tausendmal haben wir uns vorgenommen, uns nie wieder zu sehen. Aber mein Herz erschrak dann, und Todesgrauen lähmte alle meine Sinne. Ein Leben ohne sie!? Das ist kein Leben mehr. Und dann kommen wieder göttliche Augenblicke, wo unsere Seelen zusammen emporfliegen als eine Seele zu den höchstem beseligendsten Empfindungen. Ueber alle großen Fragen dieses Daseins denken wir gleich. Oft erscheint es uns, als habe die Natur in ihr und in mir zweimal das gleiche Wesen geprägt. Wir haben täglich das Seltsame, daß wir zugleich das Gleiche denken und einer in des andern stumme Gedanken hinein laut die Bejahung oder Verneinung spricht, denn das eine hat gefühlt, was das andere gerade denkt. Und doch, und doch dies stete Aufbäumen gegeneinander!“
„Mein Gott,“ rief Marbod leise und erschüttert, „wie soll das enden? Hast Du nie an diese Lösung des Räthsels gedacht, daß die Gefühle, welche Gerda und Dich immer wieder zu einander – zwängen möcht ich sagen, aus Eurem heftigen Temperament entspringen, daß eine rein sinnliche Leidenschaft Euch für einander erfaßt hat?“
Alfred schüttelte verneinend sein blondes Haupt. „Nein, wenn es das allein wäre, was uns zu einander zöge, liebte ich dann so ihr Kind? Sieh,“ fuhr er, weich werdend, fort, „wie ich diesen Knaben liebe, kann ich Dir mit keinem Worte sagen. Er ist von ihrem Fleisch und Blut, er hat ihre Augen; wenn ich ihn küsse, liebkose ich zugleich sie, und er, das ist immer der Friede in ihr, die Liebe zu ihr, das Glück mit ihr. O, wäre er mein Knabe! Mein Kind! Mir ist, als wären sie und ich dann waffenlos gegen einander.“
Die Augen des Mannes waren feucht und sein Angesicht blaß.
Marbod war sehr ergriffen. Er preßte die Hand des Freundes innig.
„Mein lieber, alter Junge,“ sagte er zärtlich, „da sehe ich einen Sonnenstrahl der Hoffnung das Gewölk durchbrechen. Heirathet, heirathet so schnell wie möglich, und im Besitz werdet Ihr Ruhe finden. Ihr werdet eigene Kinder haben, und wie einst aus dem Chaos die beste aller möglichen Welten entstand, so wird sich auch aus den gährenden Elementargewalten Eurer Liebe eine ganz philisterhaft glückliche Ehe gestalten.“
Alfred versuchte dem Freunde zu Gefallen ein Lächeln. Dieser sah ein, daß man ihn ganz von seinen Grübeleien entfernen müsse.
[277]
Das Gespräch schlich sich mühsam hin. Alfred sprach in solchem
Fall aus einer Art von Bosheit kein Wort, um zu sehen,
bei welchem nichtssagenden Thema die mit armseligem Gedankengepäck
umhersuchenden Geister denn endlich landen und sich häuslich
niederlassen würden. Marbod hatte auf die Fragen, „wie ihm
Berlin gefalle“, „wo er wohne“, „was er schon gesehen und was
für Bekannte er habe“, eingehend geantwortet. Endlich brachte
Ravenswann die Rede auf den gerade in Mailand tagenden Bimetallistenkongreß,
holte seine
Zeitung herbei und unterbrach
seinen Vortrag, denn in einen
solchen artete seine Unterhaltung
sofort aus, durch die Vorlesung
von Zeitungsstellen, die ihm
in seinen Ansichten recht gaben.
Marie stand dabei ab und zu
geräuschlos auf und ging hinaus,
um in der Küche nach dem
Rechten zu sehen. Jedesmal,
wenn sie die Thür öffnete, kam
ein Bratenduft mit herein.
Und endlich saßen sie denn im Speisezimmer um diesen vortrefflichen Braten und aßen ziemlich schweigsam. Frau Mietze hatte von der Aufregung, ob das Essen auch gut gerathen sei, kupferrothe Wangen. Sie stand auch noch vom Tisch mehrmals auf, nicht ohne sich gegen ihren Nachbar Marbod Steinweber stets zu entschuldigen.
„Meine beiden Mädchen sind so unzuverlässig,“ sagte sie, „Sie glauben gar nicht, wenn man nicht selbst hinterans-teht, kommen sie nicht vom Fleck.“
Alfred, welcher Frau Doktor Schneider zu Tisch geführt hatte, sah den Freund öfters mit einem Blick an, den man hätte schadenfroh nennen können. Wenn er allein hier gewesen war, hatte er die bleiern schleichenden Stunden nur mit der größten inneren Ungeduld ertragen. Da er jetzt unschwer Marbod ansah, daß dieser litt, freute er sich wie ein böser Junge. Marbod verstand ihn wohl und lachte ihm einmal zu, nicht ohne ihm zärtlich zu drohen.
„Warum drohen Sie ihm?“ fragte Frau Mietze, die scherzhafte Gebärde eifrig erfassend. „Er ist wohl immer gräßlich leichtsinnig, und Sie haben genug zu thun, ihm Moral zu predigen?“
Und dabei dachte sie mit gierigem Interesse an die Begegnung von heute früh, und was dieser Haumond schon alles erlebt haben mochte.
„So schlimm ist es nicht,“ sagte Marbod heiter, „ich drohe ihm, weil er mich, den gestern Angekommenen, heute schon wieder verlassen will.“
„Wieso heute? Das geht ja gar nicht mehr.“
„Er reist heute nacht nach Baden-Baden,“ erzählte Marbod.
Vor Erstaunen schwieg die ganze Gesellschaft eine Minute lang.
„So plötzlich,“ sagte Frau Mietze, von Argwohn und Neugier fast gefoltert, „was ist denn passirt? Denn gestern sagten Sie noch keine Silbe davon. Und jetzt ist es schon nach neun Uhr. Man muß Vorbereitungen treffen. Das muß ich ges-tehen, das nenne ich eine s-tarke Seelenruhe.“
„Was braucht’s da langer Vorbereitungen?“ sprach Alfred, indem er sich Kompot auffüllte.
„Mein Diener ist mit dem Gepäck an der Bahn, mein Geld habe ich in der Tasche.“
„Warum erzähltest Du das gestern nicht? Wir hätten Dich heute abend nicht gestört, denn es war Dir gewiß ein Opfer,“ sagte Ravenswann.
„Im Gegentheil,“ versicherte Alfred, sich gegen Frau Marie mit einem so liebevollen Lächeln verneigend, daß dieser ein [278] angenehmer Schreck durch die Adern rann. Sie hatte sich schon oft ausgemalt, in welche Entrüstung sie gerathen würde, wenn dieser gefährliche Don Juan es etwa wagen sollte, sich ihr bedeutungsvoll zu nähern. Und dieses Lächeln eben war ganz entschieden ein verfängliches gewesen. Ach, sie wünschte so sehr, sich einmal sittlich entrüsten zu dürfen!
Aber für jetzt fand sie eine ganz andere als die ersehnte Gelegenheit dazu, denn Alfred sagte:
„Wir haben uns erst heute mittag entschlossen.“
„Wir?“ fragten beide Frauen aus einem Munde.
„Gerda und ich,“ sagte Alfred. Er sagte es wider seinen Willen und doch nicht gedankenlos. Es giebt Augenblicke, wo der Verstand das Wort, das von den Lippen geht, zurückhalten will, tadelt, ja verdammt, und wo eine unberechenbare, sekundenschnelle Regung doch den Mund zwingt, zu sprechen.
„Gerda – das ist Baronin Offingen? Also man darf doch gratuliren?“ fragte Frau Mietze.
„Demnächst offiziell, so lange bitte ich Sie, es als vertrauliche Freundesäußerung zu bewahren,“ sagte Alfred, über sich selbst ärgerlich dem erstaunten Auge Marbods ausweichend.
„Und Sie reisen zusammen? Und die Nacht durch? Wie merkwürdig!“ sprach die Doktorin Schneider, indem sie ihren Gatten durch einen Blick fragte, ob sich das schicke.
„Lieber Herr von Haumond,“ begann Frau Mietze mit mütterlich nachsichtigem Ton, „erlauben Sie mir, daß ich Sie auf etwas aufmerksam mache: eine der ersten Anstandsregeln im Verkehr zwischen Brautleuten ist, daß sie nicht zusammen reisen. Als Ludolf und ich ein Brautpaar waren, durften wir keine halbe Stunde weit allein auf der Eisenbahn fahren.“
„Ich könnte Ihnen mit der Königin in ‚Don Carlos‘ antworten: ‚Bloß Zwang bewacht die Frauen Spaniens? Schützt sie ein Zeuge mehr als ihre Tugend?‘ Was die Frau Baronin von Offingen anbetrifft,“ sagte Alfred mit beißendem Spott, „so ist sie eine Dame aus der großen Welt und giebt sich selbst die Gesetze, nach denen zu handeln sie für gut findet. Zu Ihrer Beruhigung jedoch, meine theuerste Gönnerin, kann ich Ihnen mittheilen, daß uns ein ganzer Apparat von Begleitung: eine Tante, ein Kind, zwei Domestiken, umgeben wird. Ich denke, die ‚Tante‘ muß doch etwas sehr Beschwichtigendes für Sie haben.“
„Einerlei,“ beharrte sie eigensinnig. „Die böse Welt weiß die Details so nicht und bes-pricht es dann doch nachher im schlimmen Sinn. Das Ungewöhnliche muß man immer vermeiden.“
„Sind Sie auch der Meinung, meine Gnädigste?“ fragte Alfred die Doktorin Schneider.
„Gott,“ sagte diese mit ihrem jugendlichsten Lächeln, „ich darf mir eigentlich gar kein Urtheil erlauben. Wissen Sie, ich habe so furchtbar jung geheirathet, daß ich eigentlich nichts vom Leben kennen lernte. Männe, was meinst Du?“
Auf diesen Zärtlichkeitsanruf antwortete Herr Doktor Schneider:
„Im Geleise bleiben! Immer im Geleise bleiben!“
„Ganz entschieden, ganz entschieden!“ bekräftigte Ravenswann, indem er Alfred das Glas vollgoß, sozusagen, um durch diese kleine Aufmerksamkeit anzudeuten, daß sein Wohlwollen als Wirth dem Gast gegenüber trotz der Meinungsverschiedenheit das lebhafteste sei.
„Gewiß,“ sprach Alfred, sich besonders an die Damen wendend, „gewiß ist es bequemer, wenn die Ereignisse des Lebens alle in dem Geleise sanft einherfahren, das durch den Gebrauch ausgeglättet ist. Wenn Herr Schulze durch Herrn und Frau Lehmann dem Fräulein Müller vorgestellt wird, und aus dieser Bekanntschaft entspringt eine so korrekte Verbindung, daß selbst die ganze, sonst sehr eigene Familie Meier nichts daran zu tadeln findet, dann ist das sicherlich eine sehr nette Sache. Aber sehen Sie, meine Damen, es sind just nur die ‚sehr netten Sachen‘, welche in das Geleise ohne Beschwerde hineingehen. Wenn die Leidenschaft und der Zorn und das Unglück ihre Riesenleiber emporrecken und mit ihren ehernen Füßen zu einem Ziele schreiten wollen, dann ist’s in dem Geleise zu eng. Und wenn Menschen voll Temperament, Menschen mit scharfgekanteten Charakteren sich im Geleise des Lebens treffen, dann erweist sich dies abermals als zu eng, und sie stoßen und reiben sich aneinander, bis sie beide sich auf andern ungebahnten und eigenen Wegen zurechtzufinden suchen. Und zum drittenmal ist es zu eng, wenn einen Menschen durch irgend einen unverschuldeten Umstand ein Sonderschicksal trifft, das ihn von allen Mitwandernden merkwürdig unterscheidet. Das macht den Mitwandernden Angst, und sie haben keine Ruhe, bis sie ihn ihrerseits aus dem Geleise gestoßen haben, in welchem er vielleicht gern geblieben wäre. Kraftlose Menschen gehen auf den Umwegen zu Grunde, aber die mit ganzen Sinnen und stolzem Muth tauchen sich in Drachenblut, und weder die Dornen ihres Weges ritzen ihr Gewand, noch trifft der Schmutz ihre Stirn, den die Hände der ‚Nächstenliebe‘ vom allgemeinen Geleise zu ihnen hinüberwerfen wollen.“
„Gott behüte uns alle davor,“ sprach Ravenswann bedächtig, „verschuldet oder unverschuldet von dem sichern Weg des Herkömmlichen fortgerissen zu werden!“
„Aber ich sehe nicht ein,“ rief Frau Mietze, die sich gerade aus ihrem gelb- und braunkarrirten Kleid einen Weinfleck rieb, „was das mit Ihnen und der Baronin Offingen zu thun hat und in welchem Zusammenhang es mit Ihrer gemeinsamen Reise s-teht.“
„Vielleicht,“ sagte Marbod, für den Freund das Wort nehmend, dem er tiefe Ergriffenheit ansah, „hätte Alfred besser gethan, Ihnen ein Wort von Theodor Storm zu citiren:
‚Der eine fragt: was kommt danach?
Der andre fragt nur: ist es recht?
Und also unterscheidet sich
Der Freie von dem Knecht.‘“
„Sie suchen demnach das Wesen der Freiheit darin, ohne Rücksicht auf die Erscheinungsform und die Folgen Ihrer Thaten immer den Eingebungen Ihres Willens zu folgen?“ fragte Doktor Schneider mit strafender Betonung.
Marbod lächelte.
„Unser Wille ist schon unfrei, wenn er sich in Handlung umsetzt, denn diese ist immer den Gesetzen der Erscheinungswelt untergeordnet. Die moralische Freiheit ist etwas Metaphysisches und daher immer nur vollkommen in unserem Charakter, nicht in unsern Thaten zu finden. Doch scheint mir deshalb gerade nöthig, um die moralische Freiheit uns möglichst zu bewahren, daß wir immer so handeln, wie es unserm Willen und nicht den hergebrachten Meinungen anderer am nächsten kommt,“ sagte er.
„So ist Ihnen Ihr Wille mehr Gesetz als die von Ihren Eltern und Voreltern beglaubigte sogenannte gute Sitte?“ fragte der Doktor weiter im Ton, wie ein Erzieher einen unartigen Buben zum Geständniß gethaner Unart bringt, und Frau Doktor Schneider schlug die unschuldigen Augen zum Plafond auf.
„Allerdings,“ erwiderte Marbod ruhig, „denn ich lebe mein Dasein nach den Bedürfnissen meiner Individualität aus und nicht nach dem, was Menschen, die in andern Zeiten unter andern Kulturbedingungen lebten, an Gesetzen zusammengetragen haben, und was Sie selbst eben nur die ‚sogenannte‘ gute Sitte nennen, was aber in der That nichts ist als eine Kette von Gewohnheitsansichten, geschaffen durch klimatische, kulturelle und sociale Verhältnisse, respektive – Unverhältnisse.“
Da Doktor Schneider nichts zu entgegnen wußte, trank er in stummem Widerspruch sein Glas Rothwein aus.
Alfred aber erhob sich und sagte, daß er gehen müsse, wenn er den Zug nicht versäumen wolle.
Marie meinte bedauernd:
„Ist es schon so s-pät? Sie können gewiß noch erst etwas Käse nehmen.“
Aber mit der Hast, die er zuweilen ohne ersichtlichen Grund zu zeigen pflegte, blieb Alfred dabei, daß er gehen müsse. Er verabschiedete sich von allen mit einem Händedruck und wechselte mit Marbod einen tiefen Blick.
„Bleib nur sitzen,“ sagte Frau Mietze zu dem Gatten, der sich erheben wollte, „laßt Euch nicht s-tören, ich begleite Haumond.“
Sie geleitete ihn in der That bis an die Thür des ersten Zimmers. Ihr war, als könnte er nicht so flüchtig gehen. Er hatte ihr den ganzen Abend kein Wort gesagt, über das sie sich ärgern konnte – freilich war sie sich dessen nicht bewußt, aber sie hatte das Gefühl, als wenn er sie weniger denn sonst beachtet hätte.
„Vielleicht kommen wir auch durch Baden,“ sagte sie, als er den Klopfer schon in der linken Hand hielt.
„Das wäre charmant,“ sprach er, mit seiner Rechten ihre Finger drückend. Die Pulse schlugen ihm in den Schläfen. Nur fort – hinaus!
[279] Frau Mietze fühlte den heftigen Druck. Ihr Herz klopfte. Es war doch stark, daß ein Mann wagte, so ihre Hand zu pressen. Sie ließ sie ihm, nur um zu sehen, od er sie wirklich im Druck festhielt. Und wirklich!
„Sie sind ein schrecklicher Mensch,“ sagte sie entrüstet. „Wenn man Sie zu bessern vermöchte, thäte man ein gutes Werk.“
Frauen, die ihn bessern wollten – das kannte er! Ein Lächeln spielte um seine Lippen, das Frau Marie sehr erregte.
„Also kommen Sie nach Baden, theure Freundin, und sehen Sie zu, was sich aus mir noch machen läßt. Ich empfehle mich Ihrer Güte und Geduld.“
Er küßte ihr die Hand, nicht ohne zu bemerken, daß dieselbe nach Küchenseife roch.
Sie kehrte zur Gesellschaft zurück und dachte:
„Er ist doch ein bedeutender Mensch. Schade, daß er unter dem Einfluß dieser Frau s-teht. Und gewiß ist er nur durch sie so leichtfertig geworden.“
Und sie nahm sich vor, ihn in jeder Weise zu „erziehen“.
Alfred fand draußen, daß der Sommerabend in dem engen, stark bewohnten und geräuschvollen Stadttheil keine Kühle gebracht. Der Lärm in der Königstraße dünkte ihm unerträglich. Ihm graute davor, in einen der erleuchteten, stark von Menschen gefüllten Omnibusse zu steigen, die schnell und mit der ihnen eigenthümlichen, schwankenden Bewegung vorüberzogen. Er drängte sich auf dem schmalen Bürgersteig zwischen den in Feierabendschritt wandelnden Leuten, vorüber an den geschlossenen Magazinfenstern, der Brücke zu. Nur fort aus der Straßenenge!
Und jäh war’s, als trete er in eine andere Welt. Weit und frei, vom wirkenden Mondlicht übergossen, dehnte sich drüben der Platz vor dem Schlosse. Dieses selbst ragte in düsterer Majestät in die Sommernacht hinein. Der schmale Wasserarm der Spree blinkte wie Eisen, kein Wellengekräusel verschob die metallisch glänzende Fläche, an deren Rand dort schwarz die Schloßmauern aufstiegen. Und inmitten der Brücke, die in kurzen Bogen das stille dunkle Wasser überschlug, reckte sich die erzene Gestalt des berittenen Großen Kurfürsten auf. Pferd und Mann standen schwarz vor dem lichtschimmernden Himmel. Die Umrisse der niedrigkauernden Sklaven an den vier Fußecken des Denkmals verschwammen ineinander.
Alfred konnte dieses Erzbild nie sehen, ohne sich bewegt zu fühlen. Es wirkte stets auf ihn wie eine Mahnpredigt zu Kraft und Mannhaftigkeit.
Und heute zumal, heute, wo seine Seele von Unsäglichem bestürmt war, wo ihm die Welt zu eng schien für alles Glück und allte Qual die er litt, heute war es ihm, als ob der Zufall, der ihn vorüberführte, eben kein Zufall gewesen. In Stunden, wo wir in uns keinen Halt finden, suchen wir ihn außer oder über uns. Alfred gehörte zu jenen Menschen, auf welche der Anblick eines großen Kunstwerkes befreiend und kräftigend wirkt, wie auf Gläubige ein Gebet in der Kirche.
Er hob die Stirn und sah mit neubelebtem Blick zum Himmel empor. Und eilig und freudig verfolgte er den Weg weiter.
Der Eilzug von Berlin nach Frankfurt raste durch die Nacht, an schlafenden, kleinen Stationen vorbei, hinein in den grau andämmernden Morgen.
Im Schlafwagen der ersten Klasse war alles still und stumm. Der schmale Korridor, der auf der einen Seite von der Fensterreihe begrenzt war, auf der andern von den rothen herabwallenden Vorhängen, welche die Eingänge in die Coupés verhüllten, war menschenleer. Ein kühles Silberlicht brach von draußen herein; auf den Feldern, die vorbeizufliegen schienen, lag der Schimmer des Thaues. Aus Waldestiefen flatterten leichte Nebelfetzen auf und zogen mit dem Morgenwind.
Es war sehr frisch, und die Frau, die jetzt mit blassem überwachten Gesicht und brennenden Augen aus den Falten des Vorhanges hervortrat, welcher das Coupé am Ende des Korridors von diesem quer abtheilte, hatte sich fest in ihren Staubmantel von dunkelblauer Seide gewickelt und um ihre dunklen Haare einen Gazeschleier gewunden.
Sie trat an ein Fenster und starrte in die vorbeijagende Gegend. Der anbrechende Tag kämpfte mit dem blassen Morgengrau. Waldige Hügel und üppige Wiesen, ein bräunlicher Fluß und weißgetünchte, rothbedachte Fachwerkhäuser, alles floh vorüber, alles in dem gleichen kalten Licht. Keine Sonne und kein Schatten – nur ein gleichmäßig helles Grau, dessen feuchte Kälte man schon durch den Blick mitzufühlen vermeinte.
Gerda erschauerte. Sie hatte eine vollkommen schlaflose und sehr unruhige Nacht hinter sich. Das Tantchen nahm die Jungfer für sich in Anspruch, Gerda theilte mit dem Kinde eine Schlafkabine.
Der Knabe jedoch war ruhelos gewesen. Sein zarter Körper pflegte unter jeder Veränderung augenblicklich zu leiden; wurde seine Phantasie dabei noch erregt, so fieberte er. Und diese erste Nachtfahrt seines Lebens hatte ihn stark beschäftigt. Die Einrichtung des Schlafwagens hatte er in zahllosen Fragen an seine Mutter ergründet. Jede Station, an der man hielt, wollte er sehen und kletterte stets von seinem Lager an das Fenster, um zu wissen, ob der Bahnhof an dieser oder an der anderen Seite sei. Unaufhörlich ängstigte er sich um seinen „Papa“ und verlangte mehrfach, ihn zu sehen. Gerda konnte ihm auf keine Weise begreiflich machen, daß es nicht angehe, den Papa in der Nacht zu rufen oder ihn gar, wie Sascha wollte, mit in demselben Coupé zu haben.
In all dieser Unruhe stieg das Fieber des Knaben und endlich schlief er ein, noch im Schlafe von rastlos arbeitenden Gedanken gepeinigt.
Gerda seufzte schwer.
Sie begriff es; ihr waren keine sorglos heiteren Tage beschieden. Ihr Kind und ihr künftiger Gatte erfüllten ihr Dasein mit lauter brennender Unruhe.
„Gerda,“ sagte eine Stimme in flüstermdem Ton hinter ihr.
Sie schrak zusammen.
Alfred, getrieben von der Unrast, die ihn immer verfolgte, hatte ebenfalls sein Lager verlassen und stand nun neben ihr. Sein Anblick beglückte sie, und daß sie ihm die Sorgen dieser Nacht leise erzählen konnte, erleichterte ihr Herz.
„Und Du warst allein,“ sagte er zärtlich. „In Zukunft werden Deine Sorgen um unsern Sohn geringer sein, denn Hand in Hand werden wir an seinem Lager wachen. Siehst Du ein, Geliebte, daß Du schon seinetwegen bald mein, ganz mein werden mußt?“
Gerda schmiegte sich an ihn und sah ihm mit beseligender Zusage in das Auge.
Schweigend schauten sie dann miteinander in die lichtlose Landschaft hinaus, bis der bange Ruf einer Kinderstimme sie erschreckte.
Gerda eilte zu ihrem Knaben hinein, und Alfred folgte ihr ohne Besinnen. In der Kabine war es schwül, das Kind hatte rothe, heiße Wangen, übermäßig leuchtende Augen und schrie vor Freude auf, als es den Mann sah, den es so sehr liebte.
Alfred raffte die Vorhänge zurück, öffnete das Fenster ein wenig und sagte:
„So – es ist Tag.“
Und während Gerda geschäftig die Kissen und Decken zusammenlegte, auf denen sie in den Kleidern kaum geruht, nahm Alfred das Kind auf den Schoß. Er legte den kleinen heißen Kopf gegen seine Brust, faltete die Hände um die zusammengekauerte zarte Gestalt und saß ganz still, nur seine Wange auf das Gelock des Kindes geneigt.
Draußen brach plötzlich leuchtender Sonnenschein über die Welt hervor; der Duft, der durch das Fenster hereinkam, war würzig und athmete sich wohlig ein.
Der Knabe regte sich nicht. Seine armen umhergehetzten Gedanken wurden ganz müde und still. Seine kleinen Füße lösten sich aus ihrer emporgezogenen Stellung, seine Lider schlossen sich, und die Weihe eines englischen Friedens lag auf seiner jungen Stirn. Er schlief noch nicht, aber eine himmlische Zufriedenheit war in seinem ganzen Körper.
Gerda saß den beiden gegenüber. Sie sah den Mann groß und glücklich an, der so in Liebe ihr Kind umfaßte. Ihr Auge ward feucht, eine unnennbare Dankbarkeit durchfluthete ihre Seele. Und der Mann las in ihrem Blicke alles, was sie bewegte.
„Siehst Du,“ so sprach sein Auge, da seine Lippen stumm blieben „siehst Du, daß wir eins sind, Du, er und ich?“
Und es war ihnen beiden, als ob sie sich nie so heilig, so grenzenlos geliebt hätten als wie in diesen stummen Minuten, da sich nicht einmal ihre Hände berührten. –
[282] Der schöne Friede aus dieser Morgenstunde hatte eine weite Leuchtkraft. Er erhellte und vergoldete ihnen den ganzen Rest der Reise, und als sie am Nachmittag desselben Tages in Baden ankamen, meinte Gerda schon, daß alle Hoffnungen erfüllt seien, die sie beide an diese Veränderung geknüpft hatten. Hier gab es keine „Bekannte“, über deren Werth oder Unwert man streiten konnte; keine gesellschaftlichen Anforderungen, die mit den Anforderungen ihrer Liebe in Kampf kamen; hier waren keine tausendfältig verschiedenen Tageseintheilungen möglich, über die man uneins werden konnte. Hier lebte man einfach und selbstverständlich der Natur und erfüllte nebenbei eine Pflicht gegen das Andenken eines theuren Todten.
Zunächst galt es, sich häuslich einzurichten. Alfred bestand darauf, daß Gerda mit den Ihrigen sein Haus bezöge, welches an der Grenze eines Waldes und auf der Höhe über Feldern und Rasenmatten lag, die sich zum Oosthal hinabzogen und zum Besitz Alfreds gehörten. Es sei zwar sehr weit bis nach Baden, allein die köstliche Lage und vollkommene Einsamkeit entschädige für die weiten Wege, die sich ja mit einem Wagen überwältigen lassen würden. Alfred selbst finde noch sein Unterkommen in dem vom Verwalter bewohnten Nebenhäuschen.
Gerda fand den Vorschlag zu vernünftig und natürlich, das im Schweizerstil erbaute Haus am Waldessaum zu reizend und die Lage so gesund für das Kind, daß sie darauf einging. Freilich kam das Tantchen mit vielen Bedenken. Man könne doch nicht bei Alfred zu Gast sein, noch weniger aber ihm das Haus für Geld abmiethen, und ähnliche Dinge. Gerda sagte einfach:
„Weshalb sollte ich nicht unter einem Dache wohnen, das in wenig Wochen mein eigenes sein wird? Weshalb nicht die Gastfreundschaft eines Mannes annehmen, der sehr bald mein Gatte sein soll?“
„Man kann doch nicht wissen …“ stotterte das Tantchen.
„Was?“ fragte Gerda und sah sie mit einem jener Blicke an, die das Tantchen die „Herrscherblicke“ nannte und denen gegenüber sie keinen Laut mehr zu wagen pflegte. Aber ach, sie ihrerseits glaubte nicht an das Zustandekommen dieser Heirath, nicht eher, bis Gerda und Alfred als Eheleute annonciert in der Zeitung stehen würden. –
„Heute,“ sagte Gerda, „wird es den Hausgeistern wieder wohnlich gemacht. Morgen früh suchst Du Josephe Thomas auf.“
Und nun begann ein lustiges Hin und Her, das die Herrschaft mehr entzückte als den übellaunigen Fritz, der sich als überlistet ansah, denn von dieser Einöde aus konnte er seinen Abenteuern schlecht nachgehen.
Ohne die vorhandene Einrichtung in ihren Grundzügen umzustoßen, wußte Gerda den altmodisch ausstaffierten Zimmern bald ein Gepräge von Wohnlichkeit zu geben, daß Alfred die Räume wie übergoldet vorkamen. Der Verwalter mußte mit seinem Einspänner eine Fuhre voll blühender oder reich blättriger Topfgewächse heraufschaffen, und als es Abend war und man um den großen Tisch im Wohnzimmer saß, das sich auf den Altan öffnete, schien es, als habe man schon immer da gewohnt, und als sei das ganze Haus erfüllt von den Spuren eines harmonischen und glücklichen Lebens.
Das Bild von Alfreds Vater sah von der Wand herab. Man sprach von der unverkennbaren Aehnlichkeit und auch davon, daß Alfred den reichen blonden Haarschmuck von ihm geerbt habe. Dies sei eine Familieneigenthümlichkeit, sagte Alfred.
Das Tantchen fragte, ob er seinem Vater auch in andern Dingen gleiche.
„Nein,“ antwortete Alfred, „er war viel ruhiger und ausgeglichener als ich.“
„Das müßte schon das Alter gemacht haben,“ erwiderte Gerda, „denn von Hilde Mollin, die Deinen Vater gut gekannt hat und ihm sehr gewogen war, weiß ich, daß er ebenfalls sehr nervös gewesen sei. Vielleicht ist diese ‚Ruhe‘ und ‚Ausgeglichenheit‘ auch nur ein Erzeugniß Deiner Erinnerung. Die zerrissenen Konturen der Berge werden oft durch eine weiße Schneedecke zu einfachen und sanften Linien; so deckt ein Leichentuch auch die Charakterschroffen eines Menschen zu.“
Alfred fand in dieser Bemerkung eine Spitze, die sich gegen ihn richtete; ihm schien es, als habe sie ihm damit sagen wollen, daß auch sein Charakter „Schroffen“ besitze. Seine Stirn ward roth. Doch bezwang er sich. Gerda bemerkte dieses Bezwingen, und in ihr wallte es auf. Suchte er denn in jedem ihrer Worte etwas?
„Es wird Sie doch bewegen, lieber Alfred,“ sagte das alte Fräulein, das Gespräch über den Vater verfolgend, „nun von dem theuren Verstorbenen noch manches zu hören, was Ihnen bisher fremd war.“
„Gewiß, eine Erbschaft tritt man nie ohne Bewegung an. Und die Fürsorge für zwei mir vollkommen unbekannte Frauen ist obenan keine bequeme Erbschaft. – Du wolltest etwas sagen?“ fragte er schnell, als er bemerkte, daß Gerda die Lippen bewegte, wieder fest schloß und ihr Haupt tiefer zu der Stickerei herabbeugte, welche sie in Händen hielt.
Sie schüttelte den Kopf, ohne aufzublicken.
„Du denkst, ich könnte über Deine Worte gereizt werden, und willst mich schonen,“ sagte er heftig, „sprich nur!“
„Ich wollte nur bemerken,“ erwiderte sie, „daß ich es unerlaubt finde, dergleichen Erbschaften einem Sohne zu hinterlassen. Ein Mann sollte am Abend seines Lebens mit den Ereignissen seiner Jugend derart abgeschlossen haben, daß seinen Hinterbliebenen keinerlei Verpflichtungen mehr aus denselben erwachsen. Ganz absurd fände ich es aber, wenn Dein Vater und jene Frau wirklich den Plan gehegt haben sollten, Dich und das Mädchen zu verheirathen.“
„Diese Bemerkung hättest Du Dir allerdings sparen können, denn da wir die näheren Umstände nicht kennen, dürfen wir uns noch kein Urtheil erlauben, ob mein Vater recht oder unrecht hatte, mich diesen Frauen als Schützer zu empfehlen“ sagte er scharf. „Und was den Heirathsplan betrifft, so finde ich denselben im Gegentheil liebevoll erdacht. Vielleicht hat das Mädchen all dieselben Vorzüge wie ihre Mutter, und da diese Vorzüge meinen Vater beglückten, mußte er wohl annehmen, daß sie auch mich beglücken würden, besonders, da wir uns in unsern Charakterschroffen so sehr gleichen, wie Du sagst.“
„Wie ich sage? Wann hätte ich das?“ rief Gerda empört. „Du drehst meine Worte nach Deinem Gefallen, um für Deine Heftigkeit Nahrung daraus zu ziehen.“
„Du bist es, die einen heftigen Ton anschlägt – nicht ich.“
Sie sahen sich an. Und plötzlich erblaßten sie. Sie begriffen, daß sie sich wieder gestritten hatten, ohne alle jene Gründe, welche in Berlin die vermeintlichen Ursachen ihrer Uneinigkeiten gewesen.
Ein tödliches Schweigen legte sich auf den kleinen Kreis.
Gerdas Finger zitterten, und ihre Nadel konnte die Stelle nicht finden, wo sie den nächsten Stich hinsetzen sollte.
Alfred ließ viele lange Minuten so vergehen, dann stand er auf, sagte leise, fast gedrückt „Gute Nacht“ und ging hinaus.
Am andern Morgen lachte der hellste Sonnenschein. Die Berge in ihrem dichten Tannenbestand schienen dunkelblau umschleiert. Der Himmel war wolkenlos, und dort, wo der Blick nach der Rheinebene bis zu den Ausläufern der Vogesen hinüberschweifen konnte, verblaßte die blaue Luftferne zur Farblosigkeit. Jenseit des Thales schaute das wettergraue Gestein der alten Schloßruine aus dem Gewipfel der den Berg deckenden Buchen und Edeltannen. Eine rothgelbe Fahne flatterte deutlich erkennbar auf den Zinnen. In der Thalestiefe lag die helle Häusermenge der Stadt Baden, und rings um diese, an den niederen Höhen verstreut, blinkten weiße Villen aus dem satten Grün.
Die Bewohner des Berghauses empfanden alle die Seligkeit des Großstädters, der sich aus dem Lärm in die wohligste Stille, aus dem Staub in die köstlichste Waldesfrische versetzt sieht. Selbst das Tantchen hatte einen rosigen Schein auf ihren von Medizin und Stubenluft verkümmerten Zügen und meinte, der Tannenduft, der vom nahen Wald herüber wehe, sei fast so kräftig wie der Koniferengeist, mit dem sie ihr Zimmer zu durchstäuben pflege. Gerda pflückte sich Blumen und Gräser und ordnete sie zu malerischer Wirkung in Schalen und Vasen. Alfred spielte mit dem Kinde, das sich aber nur schwer beim Spiel halten ließ, sondern von allen Thurmruinen, die da und dort die Berge krönten, Namen und Geschichte wissen wollte, auch das Versprechen forderte, überall hin zu dürfen. Auch verlangte es genaue Erklärung, warum die Fahne drüben auf dem alten Schloß roth und gelb sei und nicht schwarz-weiß. Und bei dem allem waren sowohl das Kind wie Alfred so zufrieden und so beschäftigt, daß Gerda dreimal vergebens an den nothwendigen Gang zu der vielbesprochenen Frau mahnen mußte.
[283] Wie ungern Alfred ging, mochte er mit keiner Silbe verrathen. Obgleich es sich aller Wahrscheinlichkeit nach nur um einen förmlichen Besuch handelte, bei dem er achtungsvoll anzuhören hatte, was man von ihm wollte, peinigte ihn doch ein dumpfes Gefühl wie vor einer großen Unannehmlichkeit, die überwunden werden sollte.
„Ah – bah!“ tröstete er sich unterwegs, „meine alte Abneigung gegen das Besuche machen!“
„Was kann sie von mir wollen?“ dachte er weiter, „vielleicht den Rath, wie ihre Tochter sich am besten eine einträgliche Selbständigkeit erwirbt? Da wird Gerda helfen. Und daß ich nicht mehr zu haben bin, muß ich ihr auch gleich zu verstehen geben.“
Er suchte aus seiner Brieftasche noch einmal jenen Brief heraus und las ihn im Gehen.
„Natürlich, es ist eine Dame, der ich gegenüberstehen werde,“ sagte er sich wieder.
Die Adresse, die man ihm angegeben, war ein Haus in der Lichtenthaler Allee. Eine kleine Reise, so schien es ihm, bis dahin, und doch als ihm endlich ein Wagen begegnete, den er hätte nehmen können, zog er es vor, zu Fuß weiter zu wandern.
In der schönen Allee, zwischen den alten Riesenulmen war es am Vormittag nur wenig belebt. Am jenseitigen Ufer der Oos lagen in dichter Reihe die freundlichen Häuser in den blühenden Gärten. Alfred überschritt eine der zahlreichen hinüberführenden Brücken und fand bald die Nummer des Hauses.
Durch einen häßlichen Vorbau, in welchem sich ein Krämergeschäft befand, gelangte man in den Garten. In diesem erhob sich ein zweistöckiges Häuschen. Der Garten ging bis an das Wasser, und daß das Häuschen für Badegäste erbaut war, zeigte ein großes blaues Schild, welches auf zwei Pfählen frei am Ufer stand und dessen Inschrift: „à louer“ bis zur Allee am andern Ufer hin lesbar war. Uebrigens bildeten aus Draht hergestellte Bogen gegen das Wasser hin die Grenze, und diese Bogen waren so dicht mit blühender Clematis berankt, daß man durch sie immer einen kleinen Ausschnitt des Alleebildes wie im lila Rahmen sah.
Dieser anmuthige Schmuck war die einzige Zier des Gartens, in dem einige einzeln stehende Tannen aufragten, an deren Stämmen je ein Tisch und eine Bank standen. Um das Häuschen zog sich im Viereck eine Rabatte hin, in der Jalappen, Levkojen und Reseda blühten.
Alfred sah das alles so genau, als sollte er eine Beschreibung davon machen.
In der offenstehenden Hausthür begegnete ihm eine Dienstmagd, welche er nach Frau Thomas befragte. Das Mädchen antwortete in einem unverständlichen badischen Dialekt eine ganze Geschichte. Alfred hörte kaum hin und verstand auch keineswegs für gewiß, ob die Damen parterre oder in welchem Stock sie wohnten.
Die gute Stimmung, in welche er sich hineingeredet, verging ihm gänzlich, als er die Treppe emporstieg. Er klopfte im ersten Stockwerk an eine Thür, einmal, zweimal und dann sehr laut noch einmal. Darauf erschien eine ältliche, sehr häßliche Dame, der man ansah, daß sie hastig ein Tuch über eine halbbeendete Toilette geworfen, und sagte auf seine Frage nach Frau Thomas sehr ärgerlich: „Eine Treppe höher“. Durch diese Kleinigkeit ward er vollends verstimmt und nannte die ganze Geschichte in seinem Innern „überspannt“ und „abgeschmackt“.
[293]
Alfred stieg hinauf in die erste Etage. Auch hier klopfte er
vergebens an. Erst an eine Thür, dann an die zweite.
Endlich rief eine unklare Stimme hinter der dritten Thür. „Herein!“
Als er öffnete, sah er, daß er unvermittelt von dem Flur in ein Wohnzimmer trat, in ein ziemlich geräumiges Gemach, das zwei Fenster nach dem Flüßchen und der Allee zu hatte, trotzdem aber sehr wenig hell war, denn vor jedem Fenster stand eine Tanne. Das Zimmer hatte ganz die übliche Einrichtung: grüne Möbel mit gehäkelten Schonern, einen Pfeilerspiegel in Goldrahmen, einen kleinen sehr bunten Teppich unter dem Sofatisch, auf diesem eine Decke von Jutestoff. An der einen Wand stand ein schmuckloser Schreibtisch, und von diesem erhob sich jetzt eine Frauengestalt.
Alfred fühlte sich in einer Lage vollkommener Rathlosigkeit. Er starrte das schwarzgekleidete Weib an und sah, daß es ein sehr schönes Mädchen von etwa zwanzig Jahren sein mochte. Und dabei wurde ihm seltsam zu Sinn, gerade als ob ihm jemand genau eine solche weibliche Erscheinung einmal beschrieben hätte. „Blond wie eine Ceres – schön – ruhevoll …“, aber er konnte sich nicht besinnen. Er sah, daß ihre großen, sanften Augen, die goldbraun waren, ebenso erstaunt auf ihm ruhten wie seine Blicke auf ihr.
„Pardon, mein gnädiges Fräulein,“ sagte er fast verlegen, „ich bin hier wahrscheinlich irrthümlich eingedrungen. Aber mir ergeht es schon seit einer Viertelstunde in diesem Hause wie Tamino vor dem Tempel des Sarastro; hinter jeder Thür scheint mir ein ‚Zurück‘ entgegenzudonnern.“
„Wen suchen Sie?“ fragte die junge Dame. Und der unklare, zurückgehaltene Ton der Stimme verrieth sogleich, daß die Sprecherin eben noch geweint haben mußte; auch lag ihr auf den Wangen und um die Augen jene Röthe, welche von vergossenen Thränen zurückbleibt.
„Ich suche Frau Josephe Thomas,“ sagte Alfred, dem plötzlich ein bängliches Vorgefühl an das Herz kroch.
Er hatte auf dem einen Fensterbrett dunkles Grün, weiße Blumen und einen angefangenen Kranz gesehen – dazu die Thränenspuren und das schwarze Kleid …
Das Mädchen wollte sprechen. Sie hielt sich mit der Hand an der Lehne des Stuhles fest, von dem sie sich eben erhoben. Sie brachte kein Wort über die Lippen, schüttelte das Haupt und preßte mit der Rechten ihr Taschentuch gegen die Augen.
Alfred wußte nicht: hieß das Kopfschütteln, daß die Gesuchte hier nicht wohne, oder was wollte es sagen? und in welcher traurigen Lage befand sich dies schöne Mädchen, daß sie nicht einmal einem Fremden gegenüber die Fassung fand, zu antworten?
„Mein Fräulein,“ sagte er nähertretend, in höchster Verlegenheit, „ich bitte Sie, [294] mich nur wissen zu lassen, ob ich die Ehre habe, vor der Tochter der Frau Josephe Thomas zu stehen.“
Und da sie heftig nickte, fuhr er bedrückt fort:
„So bitte ich Sie, mir die Gründe Ihres Kummers mitzutheilen. Mein Name ist Haumond, Alfred von Haumond – es dürfte Ihnen bekannt sein, daß Ihre Mutter mich zu sprechen wünschte.“
„Mama ist todt,“ rief sie aus und sank in ihren Stuhl zurück, das Gesicht in ihren Händen auf der Platte des Schreibtisches bergend.
Ein heftiger Schreck ließ Alfred zunächst ganz verstummen. Wahrlich, peinvoller hätte die Situation gar nicht sein können. Eine Verknüpfung von Umständen förderte nun Antheilnahme von ihm an dem Tod einer Frau, die er nicht gekannt hatte und die ihm herzlich gleichgültig war. Nichts ist lästiger für einen ehrlichen Menschen, als aus Höflichkeit eine Trauer heucheln zu müssen, von der er in der That nichts empfindet. Alfred trat an das Fenster und sah in das dunkle Grün der Tannenzweige hinein, in denen ein munterer Spatz wie auf einer Treppe von Ast zu Ast abwärts hüpfte.
Er überdachte, was er sagen solle, was er thun könne, welche Art von Beistand die verwaiste Tochter von ihm erwarte, und in welcher Form er ihr diesen am zartesten anbieten dürfe. Als er sich umwandte, um die Fragen an sie zu richten, die er zunächst für nöthig hielt, sah er, daß sie sich gerade wieder erhob und ein Gesicht und eine Haltung zeigte, denen man unschwer die vollkommen wieder erlangte Fassung ansah.
„Verzeihen Sie, mein Herr, daß die Erinnerung an mein noch so neues Unglück mich überwältigte. Ich begreife völlig, wie sehr peinlich es für Sie sein muß, in ein fremdes Haus, zu fremden Menschen zu kommen und – eine Leiche zu finden,“ sagte sie mit ihrer sanften Stimme.
Alfred war über ihre Fassung so erstaunt, daß er sie fast nicht begriff. Aber sie berührte ihn wie eine Befreiung und sehr wohlthätig. Der Anblick von Jugend und Schönheit, die leidet, weckt überdies leicht das Mitleid. So geschah es schon mit wirklicher Wärme, als er entgegnete:
„Ich beklage es aufrichtig, daß der Mund, welcher zu mir sprechen wollte, auf immer verstummt ist. Vielleicht, mein Fräulein, sind Sie von dem unterrichtet, was Ihre Mutter mir zu sagen wünschte, und dann werden Sie es mir später erzählen. Für jetzt gestatten Sie mir, daß ich mich in Ihre Angelegenheiten dränge und Sie bitte, mir alle Pflichten zu übertragen, die ein Todesfall mit sich bringt.“
„Bitte,“ sagte sie, immer mit derselben sanften Ruhe sprechend, „setzen Sie sich zu mir! Ich will Ihnen alles gleich jetzt berichten. Es ist ohnedies sehr wenig.“
Alfred nahm neben ihr auf dem Sofa Platz, und während sie sprach, betrachtete er genau ihren schönen Wuchs, ihr edles Gesicht, ihr blondes einfach geordnetes Haar. Und dabei kam sie ihm so merkwürdig bekannt und vertraut vor; diese zarte Schläfe mit dem schönen Haaransatz, dieses Wangenprofil mußte er schon sehr ähnlich irgendwo gesehen haben. Daß sie so gesammelt und knapp alles erzählte, berührte ihn wieder seltsam friedlich. Mit einer Geduld, die er gar nicht an sich kannte, hörte er zu.
„Meine Mutter,“ sagte sie, „war mit Ihrem Vater wohl sehr befreundet. Er besuchte uns jeden Sommer, wenn ich mit Mama im Bade war, und erwies auch mir die größten Zärtlichkeiten. Ein ganzes Packet von Briefen, die vom ihm an meine Mutter gerichtet sind, ist als Bescheinigung dieser Freundschaft vorhanden. Es war der Wunsch meiner Mutter, Ihnen einiges aus diesen Briefen vorzulesen und dieselben dann zu verbrennen. Der Tod, der gestern abend, nun doch unerwartet, dem langjährigen Leiden der vielduldenden Frau ein Ende machte, sanft und unbewußt, hat ihr die Erfüllung dieses Wunsches versagt. Die Briefe sind zu Ihrer Verfügung.“
„Nicht doch,“ antwortete er, „die Briefe werden ebensoviel von dem Seelenleben Ihrer Mutter wie von dem meines Vaters enthalten, und so scheint es mir besser, daß man sie entweder ungelesen vernichtet, oder, wenn Sie dies nicht wollen, daß wir sie eines Tages zusammen lesen, wenn wir selbst uns erst ein wenig näher kennen. Viel wichtiger erscheinen mir zunächst andere Fragen …“
„Ich begreife,“ fiel sie schnell ein und sah ihm gerade in die Augen, „Sie wollen wissen, ob und wie die Angelegenheiten erledigt werden, welche ein Todesfall mit sich bringt, wer mir darin beisteht, und ob ich die Mittel dazu bei mir führe, alle Ausgaben zu bestreiten. Nun denn: auf Anordnung des Arztes, den wir beriefen, als Mama sich schlecht fühlte, und der sich mir voll thätiger Güte zeigt, ist die Verstorbene heute im Morgengrauen schon nach der Leichenhalle des Kirchhofes gebracht worden und wird morgen früh beerdigt, alles wie die Gesetze es vorschreiben. Ich bin allein mit einer alten Dienerin, die uns noch von den Zeiten unseres früheren Wohlstandes her treu geblieben ist und sich stets weigerte, Mama, bei der sie dreißig Jahre gewesen, zu verlassen. Geldmittel haben wir noch, um einige Wochen leben zu können. Bis dahin hoffe ich, irgend eine Stellung gefunden zu haben. Die alte Lisbeth kann dann in das Feierabendhaus gehen, in welches Mama sie schon früher eingekauft hat.“
Alfred bekam nach dieser kurzen und doch erschöpfenden Auseinandersetzung das Gefühl, hier vollkommen überflüssig zu sein.
„Ich sehe schon,“ sprach er, „ich kann Ihnen zunächst gar nichts nützen, und bewundere die Sicherheit und die Klarheit, mit welcher Sie Ihre Lage übersehen und sich in ihr zurecht finden.“
„Mußte ich das nicht?“ fragte sie. „Zwar durfte ich Sie erwarten, aber man kann sich doch nicht hilflos der ungewissen Theilnahme eines Fremden anheimgeben. Ist es nicht schon genug der Unbescheidenheit, daß ich für später gute Rathschläge von Ihnen verlange? Was habe ich überhaupt für Rechte an Sie? Mir scheint, es ist fast unerlaubt, daß ein Vater seinem Sohn die seltsame Erbschaft hinterläßt, für eine Frau sich interessiren zu sollen, welcher er, der Vater, einst freundschaftlich nahe stand.“
Daß Gerda gestern abend ganz Aehnliches gesprochen, fuhr Alfred erst durch die Erinnerung, als er mit der größten und aufrichtigsten Wärme sagte, daß er diese Erbschaft allerdings zunächst unbeguem gefunden habe, nun aber, da er Fräulein Thomas kennen gelernt, seinem Vater Dank wisse.
Und dabei dachte er verwundert, wie ihn doch dieselbe Aeußerung von Gerda zu heftiger Antwort gereizt, und wie angenehm ruhig er mit diesem Mädchen dasselbe Thema besprechen konnte.
Eigentlich sollte er nun gehen. Aber es war etwas in diesem verschatteten Zimmer, an dieser stillen, schwarzen Mädchengestalt, was ihn anwehte wie Frieden. Die von der Trauer ein wenig gedämpfte Stimme that ihm wohl, die einfach sachliche Redeweise hatte etwas Beruhigendes.
Er dachte an die heiße Mittagssonne, in welcher er den Weg wieder zurückmachen sollte, athmete tief die kühle Luft des Zimmers ein und fragte, nur um das Gespräch zu verlängern: „Sie nannten Ihre Mutter eine vielduldende Frau?“
Einen Augenblick sah sie vor sich hin. Dann schlug sie das Auge wieder klar zu ihm auf.
„Es darf Sie nicht verletzen,“ sagte sie, „wenn ich Ihnen mittheile, daß meine Mutter an der Seite eines Mannes lebte, der ihrer nicht würdig war. Als ich zum Verständniß des Lebens erwuchs, verstand ich das recht wohl und sah auch, daß es von jeher der Wunsch meiner Mutter gewesen war, dies Band zu lösen. Warum ihr Gatte nicht darein willigte, ist mir nicht klar geworden. Vielleicht wollte keines der Eltern auf mich, das einzige Kind, verzichten. Aber das habe ich wohl herausgefühlt, daß, wenn mein Vater vor dem Ihrigen gestorben wäre, anstatt zwei Jahre nachher, Ihr Vater und meine Mutter sich noch vermählt hätten, trotz ihres Alters. Theure Jugenderinnerungen mußten sie innig miteinander verbinden.“
„Sehr merkwürdig,“ sagte Alfred ein wenig befangen, denn ihm fiel ein, daß das Mädchen vielleicht von dem Wunsch ihrer Eltern unterrichtet sei und ihn als den ihr möglicherweise erreichbaren Gatten betrachte.
Er verstummte. Es schien ihm undenkbar, ihr geradeheraus zu sagen, daß er nicht mehr frei sei, und ihr damit etwas zu nehmen, was vielleicht noch keine Hoffnung, aber doch der blasse Vorschein einer solchen gewesen.
„Am besten wird es sein,“ dachte er, „ich überlasse ihrer eigenen Beobachtung die Erkenntniß dieser Thatsache, denn ich muß sie doch mit Gerda bekannt machen.“
„Haben Sie noch Familie, die Ihnen einen Rückhalt gewähren, eine Heimath bieten könnte?“ fragte er.
Die Familie meiner Mutter ist ganz ausgestorben,“ erwiderte sie traurig, „und es war der oft ausgesprochene Wunsch Mamas, daß ich mich niemals an die Familie Thomas wenden solle. [295] Somit war ich im Begriff, gerade als Sie kamen, den verschiedenen Mitgliedern derselben den Todesfall nur kurz anzuzeigen.“
Nun entschloß Alfred sich doch, aufzustehen.
„Wenn Sie hier am Ort einen weiblichen Anhalt wünschen, die Gelegenheit, mit einer mitfühlenden, edlen Frau sich auszusprechen,“ sagte Alfred, während ein helles Roth seine Stirn überdeckte, „so möchte ich Sie einer Frau vorstellen …“
Sie hatte verstanden „meiner Frau“ und unterbrach ihn lebhaft, fast freudig.
„Sie sind verheirathet?“
„Nein, noch nicht,“ antwortete er, auch einen heiteren Ton anschlagend, „aber vielleicht bald. Man muß sehen, was der Sommer noch bringt. Die Frau, welcher ich Sie zuführen möchte, ist ein edles, großgesinntes, welterfahrenes Weib. Vielleicht befreunden Sie sich gar mit der Baronin Gerda von Offingen, obgleich Sie sehr verschieden von ihr sind. Alles an ihr ist Temperament und Leben, sie kann über keine Sache sprechen, ohne sich heftig für oder gegen dieselbe zu ereifern. Sie aber sind von einer seltenen Ruhe des Wesens.“
„Ich bin wohl nur unbedeutend,“ meinte sie mit einem wehmüthigen Ton, „und das Bedeutende mit dem Unbedeutenden flüchtig und äußerlich verglichen, bringt oft den Schein als Resultat, als sei das eine die Unrast und das andere die Ruhe.“
Diese Aeußerung kam gewiß nicht aus einem leeren oder unreifen Kopf, und Alfred würde sich für geschmacklos gehalten haben, wenn er hierauf mit einem Kompliment geantwortet hätte.
„Sie werden sich ja kennen lernen,“ sprach er, ihr die Hand zum Abschied reichend, „für heute leben Sie wohl! Sagen Sie mir nur noch die Stunde, wann wir morgen früh Ihrer theuren Mutter die letzte Ehre erweisen können.“
„Um acht Uhr früh.“
Er hielt noch immer ihre Hand fest.
„Und wie heißen Sie, mein Fräulein? Von jemand, den ein eigenthümliches Verhängniß einem plötzlich so nah gebracht, mag man doch mehr wissen als den Familiennamen.“
„Germaine,“ sagte sie, und als er betroffen aufblickte, fügte sie hinzu. „Sie hören, nach Ihrem Vater, und in meinem Taufzeugniß steht Germain von Haumond als mein Pathe aufgeführt.“
„Germaine,“ wiederholte er, als wollte er den Klang dieser Silben auf ihren Wohllaut prüfen.
Und „Germaine“ wiederholte er sich noch draußen auf der sonnigen Straße, nachdenklich über jedes Wort und jede Geste der Namensträgerin sinnend. Wie Gerda wohl über das Mädchen urtheilen würde?
Und kaum fiel ihm Gerda ein, als ihn auch sogleich eine unsinnige Sehnsucht nach ihr ergriff. Es kam ihm vor, als habe er sie eine Ewigkeit lang nicht gesehen. Er hatte auch zugleich den Wunsch, ihr zu zeigen, daß er unterwegs ihrer in voller Leidenschaft gedacht. Da er sich gerade vor den sogenannten Kolonnaden am Konversationshause befand, ging er an der Doppelreihe der Magazine entlang. Alle Gegenstände, die er sah, erschienen ihm zu ärmlich oder zu geschmacklos, oder für die Gelegenheit zu unpassend. Vor dem großen Juwelengeschäft an der Ecke stand er lange still. Ihm fiel bei den Ringen und Armspangen ein, daß Gerda und er noch nicht einmal daran gedacht hatten, das äußere Zeichen ihres Bundes, den Ringwechsel, auszuführen. Sofort trat er in den Laden und erstand einen kostbaren Ring mit den schönsten Brillanten.
Es war inzwischen hohe Mittagszeit und unerträglich heiß geworden. Als Alfred im offnen Wagen nun langsam bergan fuhr, freute er sich auf kühl verschattete Zimmer und das Waldesdunkel hinter seinem Hause.
Zu seinem Schreck fand er Sascha barhäuptig in vollem Sonnenschein an der Gartenpforte stehen.
„Um Gottes willen,“ rief er aus, während er hastig den Kutscher ablohnte, und das Kind sich mit allen Zeichen der Müdigkeit an ihn schmiegte, „wie darfst Du so in der Sonne stehen?“
„Ich wartete auf Dich. Du bist so schrecklich lange fortgewesen,“ klagte das Kind.
Alfred nahm den Jungen auf den Arm und trug ihn dem Hause zu. Ueber die Veranda zu der einige Stufen emporführten, kam man in das Wohnzimmer. Hier war es sehr heiß, und die Sonne schien durch die ungeschützten Fenster, während die Hitze in die offene Thür hineinströmte.
Gerade kam Gerda durch die gegenüberliegende Thür aus dem Innern des Hauses herein, und anstatt der freudigen Begrüßung, nach welcher Alfred sich noch vor wenigen Minuten gesehnt hatte, fragte er jetzt gleich unwillig:
„Wie konntest Du den Knaben draußen in der Sonne auf mich warten lassen? Und wie kommt es, daß man hier die Persiennen nicht herabließ?“
„Sascha ist ungehorsam gewesen; ich habe es ihm verboten, in die Sonne zu gehen und glaubte ihn in Deinem Zimmer, wo er mit Deinem alten Spielzeug spielen wollte. Du mußt nicht schelten, wir haben das alles auf dem Boden gefunden und heruntergebracht,“ sagte Gerda, mit jedem Blick zärtlich um Vergebung flehend für eine Sache, die sie nicht verschuldet.
„Und die Persiennen?“ fragte er sanfter.
„Das begreife ich nicht. Ich habe Fritz den ausdrücklichen Befehl gegeben, an der ganzen Vorderseite des Hauses die Fenster zu verhängen. Natürlich habe ich ihn für so zuverlässig gehalten, daß man ihn nicht zu kontrolliren brauche.“
Der „logische“ Fritz hatte den Befehl angehört und ihn auch keineswegs vergessen. Doch befand er sich ja nicht im Dienst der Baronin, sondern in demjenigen des Herrn von Haumond und wurde nur für die diesem gewidmeten Leistungen bezahlt. Also dachte er nicht daran, die Persiennen herunterzulassen, wenn sein Herr es ihm nicht sage.
Alfred lächelte ein wenig, als Gerda so sprach, und dachte wohl, daß irgend etwas bei dem Befehl seinem Fritz gegen die Prinzipien gegangen wäre; er nahm sich vor, dem Menschen zu sagen, daß er der Baronin ebenso wie ihm – Alfred – zu gehorchen habe.
Wenn somit dieser unerquickende Eintritt in das Haus schnell überwunden schien, so war doch der Zauber davon gestreift, und es bedurfte vieler Stunden bis Alfred die hingegebene Stimmung wiederfand, die ihn unterwegs erfaßt hatte. Gerda erlaubte sich nicht, nach den näheren Umständen zu fragen, unter denen er das fremde Mädchen gefunden. Sie begnügte sich mit der kurzen Erzählung von dem Tode der Frau Thomas und bejahte ohne weiteres Alfreds Bitte, ihn morgen früh auf den Kirchhof zu geleiten.
Als Alfred mit dem Kinde gegen Abend von einem Streifzug an der Berglehne entlang heimkehrte, fand er Gerda auf der Veranda, die nun im Schatten der Waldeswand lag. Gerda band einen Kranz, zu dem sie die feinen Koniferenzweige einem Korbe entnahm, der neben ihr auf einem Stuhl stand.
„Du bist ein Engel,“ sagte Alfred dankbar, „Du zerstichst Deine feinen weißen Finger, um für die fremde Frau Todtenkränze zu winden.“
Dabei griff er nach der weißen Hand, die gerade suchend zwischen dem dunklen Grün war, und küßte sie voll Inbrunst.
„Wo ist Tantchen?“ fragte Sascha, „ich habe ihr eine ganze Menge Kamillen gepflückt und Arnikablumen. Papa hat sie mir gezeigt und gesagt, daß Tantchen sie für ihre Apotheke brauchen kann.“
„Geh zu ihr! Sie ist hinter dem Hause und geht die tausend Schritte, die sie täglich macht. Vergiß aber nicht, sie zu fragen, ob sie beim Mittagsschläfchen gut geruht hat.“ Und als Sascha davon lief, fügte sie hinzu:
„Nicht wahr, Du thust mir den Gefallen, Tantchen jeden Morgen nach ihrem Befinden zu fragen? Sie ist den ganzen Tag verstimmt, wenn ein Hausbewohner es vergißt. Du weißt, die Arme hat nichts zu leben, nichts zu lieben, nichts zu ernähren wie ihre Krankheit. Diese ist ihr der ganze Inhalt des Daseins, und wenn Tantchen gesund würde – ich glaube, sie stürbe daran, denn sie hätte nichts mehr zu thun und über nichts mehr zu sprechen.“
Alfred lachte. „Du kluge, gütige, boshafte Frau!“ sagte er.
Zu Gerdas Füßen stand ein Holzschemel, den sie bisher benutzt hatte, um ihre Kniee zum Halt für den Kranz recht hoch zu haben. Auf diesen setzte sich Alfred.
„Gieb mir Deine Hände!“
„Es sind harzige Flecke vom Tannengrün daran.“
„Die will ich mit meinem Tuch abreiben. Denn Deine Hände muß ich haben, wenn ich all die Sünden beichten soll, die ich begangen und die ich gutgemacht.“
Gerda sah innig zu ihm nieder, und während er mit seinem Batisttuch von ihren Fingern die Spuren des harzigen Grünes abrieb, sprach er, dazwischen zuweilen den einen oder anderen Finger küssend:
[296] „Ich habe heute viel an ein anderes Weib gedacht. An diese Germaine. Aber ganz anders, als ich sonst an Frauen denke. Du weißt, ich kann keiner begegnen, ohne daß meine Phantasie sich in irgend einen Zusammenhang mit ihr setzt. Meist denke ich, wie würde diese Frau in der Liebe sein? würde sie mich lieben können, mich zu beglücken vermögen? wäre ich unter gegebenen Umständen fähig, für sie zu empfinden? Ja, Du weißt, es ist ein geistiger Donjuanismus in mir. Kein solcher Gedanke erwachte in mir in Bezug auf Germaine. Und doch beschäftigt sie mich stark. Es ist, als hätte ich sie lange gekannt, sie erscheint mir vertraut, und ich denke mit einem ruhigen und beruhigenden Wohlgefallen an sie. Denke Dir, ich kann mir ganz gut vorstellen, daß sie immer mit uns lebte, und hätte nicht im mindesten die Furcht, daß sie uns in unserer Liebe und in der Zweiseligkeit unserer jungen Ehe störte. Wie findest Du das alles?“
„Ganz einfach. Ich denke mir, daß die gemeinsame Erinnerung an denselben theuren verstorbenen Menschen das geheime Band des Vertrautseins ist. Wenn Du es willst, können wir ja die Verwaiste unter irgend einer Etikette zu uns nehmen,“ sprach Gerda, sein Haar sanft streichend.
„Aber Du kennst sie noch gar nicht. Wenn sie Dir mißfällt?“
„Darum keine Sorge! Du und ich, wir empfinden doch immer dasselbe. Da Du sie gern hast, werde ich sie gewiß leiden mögen.“
„Aber würdest Du nie eifersüchtig sein? Du weißt, ich kann das nicht ertragen, obschon ich es selbst im höchsten Grade sein könnte.“
Gerda sah ihn erstaunt an.
„Ich – eifersüchtig? O nein! Du liebst mich – zwar könnte diese Liebe sich Dir in verhängnißvollen Augenblicken verdunkeln und Dich nicht vor einer Untreue zu schützen vermögen, aber schon im selben Moment, wo Du eine solche begingest, würde Deine Liebe wieder riesengroß lebendig in Dir sein und Du würdest dann vor Reue Dich so elend fühlen, daß die erste Untreue auch die letzte bliebe. Auf einen Mann, dessen Wesen man so genau erkennt, ist man nicht eifersüchtig. Das käme mir vor, als wollte ich wachsam mit Streichhölzchen einen Gegenstand umleuchten, der im vollen Sonnenglanz vor mir steht.“
„Wie Du mich verstehst!“ sagte er entzückt.
„Also von dieser Sünde, die keine ist, kommen wir zu der, welche Du wieder gutgemacht hast,“ mahnte Gerda heiter.
„Als Du mir versprachest, die Meine zu werden, vergaß ich, Dir das zu geben,“ flüsterte er, das Angesicht zärtlich ihr zugewandt, während er an ihren Finger den Ring steckte, den er schon ein Weilchen bereit hielt.
Gerda sah auf die blitzenden Steine. Ein leiser Schreck wollte sich in ihr regen über die Kostbarkeit der Gabe, und ein schlichter Reif wäre ihr lieber gewesen, doch überwog die Rührung über das schöne Symbol ihrer Zusammengehörigkeit. Sie neigte sich, sein Haar zu küssen, und ließ still ihre Hand in der seinen.
Aus dem Thal stieg es kühl auf, und vom Walde her begann ein feuchter Dunst zu wehen. Der starke Nachtthau des Hochsommers feuchtete schon bei der sinkenden Dämmerung Rosen und Buschwerk.
Ein tausendfältiges zirpendes Summen erfüllte die Abendluft. Das Volk der Grillen wisperte seinen Gesang.
Die fernen Wälder waren schwarz; am lichten Abendhimmel blinkten Sterne auf. Und da und dort im Thale blitzte der Lichtschein aus Menschenwohnungen. Im nahen Walde düsterte es so sehr, daß die Stämme an der Grenze wie ein graues Riesengitter vor einer nachtschwarzen Wand erschienen.
Der Pfiff einer Lokomotive gellte unten auf, und tief zu Füßen des Berges wand sich, von weißlichem Rauch überwölkt, eine Wagenschlange dem Ausgang des Thales, der lauten Welt draußen zu. Man sah die beiden glühenden Lokomotivenlampen vorangleiten. Und dann ward es ganz still, und die Abendschatten verdunkelten sich zur tiefen ruhvollen, lichtlosen Sommernacht.
„Ich wußte es,“ flüsterte das Weib in des Geliebten Ohr, „hier wohnt doch der Friede.“
"Nun, wie hat sie Dir gefallen?“ fragte Alfred am andern Tag, als er mit Gerda vom Kirchhof zurückfuhr. „Sage mir Dein Urtheil über sie!“
„Das heißt zuviel von meiner Menschenkenntniß verlangen,“ antwortete Gerda. „Wie kann ich über ein Mädchen urtheilen, von dem ich nichts gesehen habe wie einige Thränen. Allerdings muß ich gestehen, daß mir das gefaßte Wesen, welches ebenso entfernt von sinnloser Schmerzzerflossenheit wie von gesuchter Kälte war, sehr gefallen hat. Die paar theilnehmenden Worte, welche ich ihr sagte, und die höflich dankbare Erwiderung, welche sie dafür fand, haben mir auch keine Gelegenheit zu tieferem Urtheil gegeben. Ich werde sie ja morgen kennen lernen, und dann werden wir sehen, was wir mit ihr machen. Uebrigens sieht sie mir nicht so aus, als ob sie in hilfloser Ergebenheit fremde Menschen – und wir sind ihr doch fremd – über ihr Schicksal bestimmen ließe. Weiß sie, daß ich Deine Braut bin?“
„Nein!“
„Du hättest es ihr sagen sollen. Sie würde eher Vertrauen und Neigung fassen, sich uns anzuschließen.“
„Wenn wir sie morgen zusammen besuchen, können wir es ihr ja mittheilen.“
Als der Wagen den Berg hinanfuhr – die Fahrstraße ging theils durch Wald, theils an Villengärten und Rasenmatten vorbei – schaute Gerda sich entzückt um.
„Es ist nicht zu beschreiben, wie der weite Blick in Waldfernen und über die gleichsam ineinander verschobenen Berglinien meiner Seele wohlthut. Ich glaube, das Auge eines jeden Menschen hat wie die Zunge einen Sonderappetit, dessen Befriedigung hier der Seele wie da dem Magen angenehm und gesund ist. Andere mögen am Meer die kleinen Unzufriedenheiten ihres Daseins ausathmen: ich fühle mich in den Waldbergen am glücklichsten, und Du glaubst nicht, wie ich froh bin, immer hier leben zu können.“
„Immer?“ fragte Alfred verwundert. „Wie meinst Du das?“
„Ach, davon wollen wir nachher sprechen,“ sagte sie in leichter Verlegenheit.
Alfred fühlte, daß dies ein Gespräch werden sollte, von dem Gerda heftige Auseinandersetzungen fürchtete. Er glaubte auch zu wissen, um was es sich handeln würde. Die Hindeutung, welche von Gerda nicht beabsichtigt gewesen war, wirkte nun auf beide wie fernes Wetterleuchten auf gewitterbange Naturen. Sie waren still und unfrei, sie fürchteten den Ausbruch und wünschten doch, das Unvermeidliche erst hinter sich zu haben. So gingen sie den ganzen Tag nebeneinander her; wenn aber jemand sie gefragt hätte. „Was ist Euch?“ wären sie um eine Antwort verlegen gewesen.
Alfred widmete sich seinem Liebling, dem Knaben, dem hier oben eine neue Welt aufging. Sascha wünschte eine Hütte zu haben aus Tannenzweigen und sich wie Robinson dort häuslich einzurichten. Mit unermüdlicher Güte half Alfred ihm bei seinem Spiel. Sie bauten am Waldesrand eine Hütte, so groß, daß sich mit einiger Mühe beide darin niederhocken konnten, während inmitten noch der Kindertisch aus Alfreds Jugendzeit stand.
Wie er so sein altes Spielzeug wieder mit aufbauen half auf dem alten kleinen Tisch, wurde sein Herz von Wehmuth schwer. Er erinnerte sich an alles: diese kleinen Nägel, die in einer krummen Linie in die Dachplatte hineingehämmert waren, sie stammten aus seinem ersten Werkzeugkasten, und da war noch der Hammer, mit dessen Hilfe er damals auch die kostbaren Salonmöbel mit Nägelschmuck versehen. Er glaubte die Ohrfeige wieder zu fühlen, die er damals bekommen. Mit Heiterkeit und Rührung erzählte er Sascha davon. Das Kind horchte, höchlichst interessirt. Kinder sind immer entzückt, wenn von ihnen geliebte Respektspersonen begangene Kinderthorheiten erzählen.
In einer Schachtel befand sich ein Haufen von lauter Bleisoldaten, die aber nur noch aus Rümpfen bestanden. Alfred beschrieb dem sich für diese Idee begeisternden Jungen, wie er die Beine in einem Theelöffel über einem Stearinlicht geschmolzen habe, um Bleikugeln für sein kleines Gewehr davon zu gießen. Er konnte noch eine winzige Narbe an der Hand zeigen, die eine bei jener Gelegenheit davongetragene Brandwunde zurückgelassen.
Und so ward ihm seine Kindheit lebendig, und sein Geist durchmaß die Spanne Zeit, die seitdem verflossen. Sein Auge ging über die Jahre hinweg, prüfend, wie über ein Erntefeld, und er sah, daß er nichts eingeheimst hatte.
Damals waren alle seine kindischen Thorheiten eine unreife Form für eifrigen und nutzsuchenden Thätigkeitsdrang gewesen. [298] Er erinnerte sich ganz genau, daß sein Vater einmal der ihn strafenden Erzieherin gesagt hatte: „Unterscheiden Sie wohl zwischen den wirklichen Unarten, die schlechten Instinkten entspringen, und den Scheinunarten, die aus dem Beschäftigungstrieb des erfinderischen Kindergeistes kommen!“
Und all sein Thun jetzt? Was war es denn mehr als ein ungleicher Thätigkeitsdrang, ein Trieb, sich geistig zu rühren, ohne reife, feste und streng geregelte Form? Aus dem kleinen, unfertigen Menschen mit den ahnungsvoll umhersuchenden Gedanken war ein großer unfertiger Mensch geworden, der ganz gerade so wie der kleine einst auch immer nach Neuem suchte, den Tag auszufüllen.
Alfred seufzte tief auf.
„Was hast Du, Papa?“ fragte Sascha.
„Ich habe Dich, mein Kind!“ rief Alfred plötzlich laut und heftig aus. Er schloß den Knaben an seine Brust. Ja, da war sie endlich, die ausfüllende Aufgabe, nach der er immer gesucht. Diese junge Seele zu überwachen und zur Reife zu bringen, das war es, was ihm ein Gefühl vollkommener Zufriedenheit geben mußte.
[309]
Gerda und Alfred saßen zusammen auf der Veranda, ein trüber
Regenschleier umzog Berg und Thal, und die leise niederstäubenden
Tropfen hatten Sascha aus seinem Tannenhäuschen vertrieben.
Er war hineingegangen, um dem Tantchen, das sich beim
Witterungswechsel sofort, in Wolle
verpackt, zu Bett gelegt hätte, haarklein
zu beschreiben, wo sein Haus
stehe, wie es aussehe und wie
er es mit „Papa“ gebaut habe.
Hauptsächlich aber dachte er von
Tantchen einen kleinen Ausstattungsbeitrag
zu erlangen und hatte
seine Wünsche auf ein altes weißes
Angorafell gerichtet, von dem Tantchen
gestern gesagt, es sei zu
schmutzig, als daß sie es noch
über ihre Füße decken könne. –
„Du wolltest mit mir darüber sprechen, daß Du immer hier zu leben wünschtest?“
Dabei klang Alfreds Stimme doch etwas bedeckt von der inneren Erregung, die für ihn unausbleiblich war, wenn er mit Gerda über etwas anderes als ihre Liebe sprach.
Sie wickelte sich fröstelnd in das weiße Tuch, das sie des Regens wegen um die Schultern geschlagen hatte.
„Mir scheint, es handelt sich hier nicht um einen Wunsch, sondern um eine gegebene Sachlage. Aber ich bin froh, daß meine innerste Neigung mit den Verhältnissen zusammenstimmt,“ sagte sie, seinen Blick vermeidend.
„Bitte, willst Du nicht deutlicher werden?“ bat er.
„Mein Gott, das ist doch so einfach! Hier hast Du Deinen Besitz, hier müssen wir leben!“
„Das ist nicht genau, was Du meinst,“ sagte er zitternd, „weshalb sollten wir nicht, wie ich bisher gethan, nach unserer Laune einige Monate in Berlin, einige hier verleben?“
Gerda sah in die graue Ferne hinaus.
„Man kann doch nicht,“ sprach sie langsam, vorsichtig, wie jemand, der sich mit tastendem Fuß auf unsicherer Eisdecke vorwagt, „man kann doch nicht immerdar nach einer ‚Laune‘ leben. Ein Mann muß seinem Dasein doch Inhalt geben durch – durch einen Beruf.“
Alfred war ganz blaß geworden. Er hatte gewußt, gefühlt, daß es darauf hinaus sollte. Er faßte sich mit Gewalt. Er fühlte plötzlich, daß dies Gespräch die Entscheidung zwischen ihm und Gerda sei.
„Mein Leben hat den köstlichsten Inhalt bekommen,“ sagte er mit fast klangloser Stimme, „ich fühle mein Dasein vollkommen ausgefüllt durch die Liebe zu Dir und die Aufgabe, Deinen – unseren Sohn zu erziehen.“
„Das ist, wie mir scheinen will, nicht genug der Aufgabe für eine volle Manneskraft. Um den Knaben zu erziehen, bin ich auch noch da, und denjenigen Theil von Aufsicht und fördernder Antheilnahme, den ein Vater seinen Söhnen widmet, kann er ihnen noch reichlich in den Mußestunden zuwenden, die sein sonstiger Beruf ihm läßt,“ antwortete Gerda, immer an Alfreds Augen vorbeisehend, die flammend auf ihr ruhten.
„Und, wenn ich fragen darf, was für einen ‚Beruf‘ hast Du denn für mich erkoren?“ fragte er. „Da ich das Recht der Selbstbestimmung verloren zu haben scheine, wirst Du mir doch wenigstens einige Neugier gestatten auf das, was Du für mich gewählt.“
[310] „Nicht diesen Ton!“ bat Gerda dringend und sie legte die Hände fest ineinander, „Du weißt, er reizt mich. Laß uns doch ruhig sagen, was gesagt werden muß! – Hättest Du denn keine Lust, Deine Scholle hier selbst zu bebauen?“
„Die armseligen paar Felder und Wiesen?“ fragte er spöttisch, „in der That, um dieser Zumuthung willen brauche ich mich nicht zu erregen.“
„O,“ sagte Gerda eifrig, „das hatte ich auch nicht gemeint. Sieh, der große Bauernhof, der dort unten an der Thalmündung liegt und seine Besitzgrenze fast bis an den Rhein vorschiebt, er ist verkäuflich. Der Verwalter hat es mir gesagt. Ich kaufe ihn, Du weißt, ich kann mit meinem Gelde frei walten, Sascha ist ohne dies sichergestellt. Dann haben wir ein schönes Gut; wir residieren hier oben, der Schwerpunkt der Wirthschaft wird nach dem Hofe unten verlegt. Wir sind die Herren auf einem herrlichen Fleckchen Erde und essen selbstgezogenen Kohl, eigengebaute Kartoffeln, selbstgebackenes Brot. Kann es ein feudaleres Leben geben als das des Grundbesitzers, der nicht um das wechselnde Erträgniß seines Bodens zu zittern braucht?“
„So, also mit dem Verwalter hast Du schon davon gesprochen?“ sagte er, „das war ja auch zunächst das Wichtigste. Nachher konnte man es mir mittheilen. Es thut mir leid, wenn es Dein Ideal gewesen ist, eigengebaute Kartoffeln zu essen, Dir dasselbe nicht verwirklichen zu können. Von der Landwirthschaft verstehe ich so gut wie nichts und hätte weder die Fähigkeit, noch die Neigung, den Krautjunker zu spielen. Auch sehne ich mich mit meinem ganzen Nervenleben nach der großen Stadt.“
Gerda schwieg einige Minuten. Sie sammelte ihre Sanftmuth und hielt ihre entfliehende Geduld mit letzter Anstrengung fest.
„Auf ein solches Nein war ich vorbereitet,“ sprach sie halblaut, „und deshalb habe ich noch einen anderen Vorschlag zu machen.“
Alfred war sekundenlang starr.
„Also einen förmlichen Kriegsplan hat Dein erfinderischer Kopf ausgearbeitet!“ rief er erbittert, „um mir wie einem Jungen, der die Schule verläßt, vorzuschlagen: willst Du Schuster oder Schneider werden?“
„Aber mein Liebling,“ bat sie zitternd, „es ist doch so natürlich, daß ich darüber nachgesonnen habe, mit welcher von Deinen beiden Berufsarten ich mich als Deine Gattin zu vertragen habe. Du willst nicht Landwirth sein. Gut, lassen wir das! Lebe Deiner Schriftstellerei und suche in ihr eine feste, viele Tagesstunden ausfüllende Beschäftigung!“
„Wie kann ich das?“ sagte er in höchstem Unwillen; „ich bin kein Schriftsteller. Ich habe das Talent, dann und wann in scharfer und, wie man sagt, geistvoller Form meine Meinung ausdrücken zu können über sociale Fragen, künstlerische oder litterarische Vorkommnisse, politische Ereignisse; das ist alles. Ich hätte vielleicht das Zeug zu einem Redakteur in mir, aber ich denke nicht daran, mich in solche Sklaverei zu begeben, abgesehen davon, daß meine Gesundheit das gar nicht aushielte.“
Gerda erhob sich. Sie sah auch sehr bleich aus.
„Also wenn das auch nichts ist, was willst Du dann thun?“ fragte sie.
„Wie ich Dir gesagt habe: Dir und unserem Sohne leben,“ antwortete er, hastig in der Veranda auf und ab gehend.
„Und wie ich Dir gesagt habe: das ist kein Lebensinhalt für die Vollkraft eines Mannes. Die Liebe eines Weibes, das Lächeln eines Kindes sind dem Manne die Belohnung nach saurer Tagespflicht. Die Liebe, die er für das Weib empfindet, ist sein heiliges Eigenthum; aber die Geisteskräfte in ihm sind das Eigenthum des Staates. Wenn er ein guter Bürger sein will und der menschlichen Gesellschaft ein nützliches Mitglied, muß er sie der Allgemeinheit dienstbar machen, in welcher Form auch immer. Mit neunundzwanzig Jahren unthätig durch die Welt zu gehen, ist fast ein Verbrechen.“
Alfred blieb neben ihr stehen.
„Du beleidigst mich,“ sagte er bebend, „siehst Du mich je unbeschäftigt?“
„Zwischen beschäftigt sein und thätig sein ist ein großer Unterschied,“ rief Gerda heftig, „sieh doch ein, daß Dein und mein Lebensglück davon abhängt, daß Du eine befriedigende Thätigkeit findest!“
Er umfaßte ihr Handgelenk, und sie sahen sich drohend in die Augen, drohend und feindselig wie zwei, die bereit sind, einander zu schlagen.
„Also,“ fragte er fast unverständlich, „Du machst Dein Lebensglück nicht von meiner Liebe, sondern von meinem Beruf abhängig?“
Eine Pause. Sie athmeten schwer.
„Ich kann einen Mann nicht achten, den ich nicht arbeiten sehe!“
Er schrie auf und schleuderte ihre Hand von sich.
„Weib!“
Gerda hielt sich mit der einen Hand am Geländer fest, die andere hatte sie gegen ihre Brust gelegt. Ihre Augen, wie von einer dämonischen Gewalt festgehalten, hingen an seinen wildverzerrten Zügen.
„Nimmst Du das Wort zurück?“ fragte er tonlos.
Und sie wußte, daß von ihrer Antwort der Tod oder das Leben ihrer Liebe abhängig war. Und doch kam es von ihren Lippen: „Nein!“
Er wankte. Er bedeckte sein Gesicht mit der Hand und schwieg. Aber nur sekundenlang, dann richtete er sich auf, trat einen Schritt auf Gerda zu, die immer wie versteinert dastand und ihn ansah, und sagte mit einer Stimme, die von innerem Zorn ganz rauh war:
„Dies Wort trennt uns für immer! Lebe wohl!“
Gerda schwieg und sah ihn an. Er wandte sich um und ging. Ihre Augen folgten ihm. Und immer stand sie, unbeweglich, lange, lange.
Der feine Regen wandelte sich in strömende Fluthen, der Wind peitschte die Nässe gegen ihre Schultern und feuchtete die blasse Hand, die auf dem Geländer lag. Die Abenddämmerung sank hernieder.
Hinter dem Hause wurde es laut. Ein Pferd wieherte und das Rollen eines Wagens wurde vernehmbar.
Aus der Thür des Wohnzimmers stürzte Sascha mit dem Ruf:
„Mama, Mama, er fährt mit dem Verwalter fort. Wohin? Ich will mit! Bitte, ich will mit!“
Gerda brachte kein Wort über ihre Lippen. Alle ihre Nerven dienten ihrem Ohr, das in peinvoller Genauigkeit das dumpfe Rollen der Räder und den schurrenden Ton des Hemmschuhes vernahm.
„Mama, so sprich doch! Wann kommt er denn wieder?“
„Niemals!“ sagte Gerda laut und rauh.
Der Knabe schrie auf. Er warf sich gegen seine Mutter und umklammerte ihre Kniee.
„Er soll wiederkommen – gleich – gleich,“ schrie das Kind, „er soll nicht fort, ich will es nicht haben! Du hast mir doch versprochen, daß er mein Papa sein soll!“
Sascha schrie und weinte, wie Kinder pflegen, bei denen Kummer sich mit unvernünftigem Zorn mischt, und die vor allem ihren Willen haben wollen. Aber allmählich ward sein Zorn geebnet, und zuletzt fragte er unter erwachender Ungläubigkeit, die mit Angst gemischt war:
„Mama, ist er wirklich fort?“
Sie sah in das verweinte Gesichtchen hinab, das sich in dringender Frage zu ihr emporwandte, und legte schwer ihre Hand auf sein Gelock.
„Ja!“ sagte sie tonlos, „ja – und für immer!“
Da fing der leidenschaftliche Knabe an, herzbrechend zu weinen.
Gerda knieete vor ihm nieder.
„Weine,“ flüsterte sie, ihn umfangend, „weine! Weine – über Dich und mich und ihn!“
Sie führte ihn in das Haus, in sein Schlafzimmer. Sie nahm ihn auf ihren Schoß und ließ ihn an ihrer Schulter weiterweinen. Ihre Lippen machten keinen Trostversuch. Und ihr Auge schaute unverwandt in die Nacht hinaus, die sich draußen vollends niedergesenkt hatte.
Sie versuchte zu denken, aber sie war nicht einmal imstande, einen zusammenhängenden Gedanken zu fassen.
Ihr Inneres glich der Stätte, wo eine Lawine niedergegangen ist: eine wüste Vernichtung hatte alles niedergeworfen.
Und immer sah sie ihn vor sich, wie er sie mit flammenden Augen anherrschte, das böse Wort zurückzunehmen, das von ihren Lippen gekommen war.
Aber dieses Wort – wenn er noch einmal so vor ihr stände – sie würde es noch einmal sprechen.
Und doch, während sie das begriff, fühlte sie in ihrem Herzen eine sinnlose, verzehrende Sehnsucht nach ihm.
Und ihre Arme umschlossen fester das weinende Kind; sie wußte es: ohne ihn konnte sie nicht leben, und alle ihre Tage würden sonnenlos bleiben.
„Baden-Baden den 18. August 1885.
Mein Freund! Ich habe Dir das Aeußerste zu sagen: Gerda und ich sind getrennt. Fast vierzehn Tage sind seit jener unseligen Stunde vergangen, wo wir einander wieder in den Waffen der Meinungsverschiedenheit gegenüberstanden. Aber diesmal hat sie ein Wort gesprochen, das uns trennen mußte, wenn sie es nicht zurücknahm und bekannte, es nur in Zorneshitze gesprochen zu haben. Mit fieberndem Herzen habe ich darauf gewartet. Umsonst! Und so muß ich wohl glauben, daß ihr Verstand nachträglich billigt, was ihre schnellen Lippen gesprochen haben. Ich verließ an jenem unseligen Abend mein Haus, aber nicht Baden, denn ich will nicht fliehen vor ihrer Nähe. Sie soll es begreifen, daß ich der Möglichkeit trotze, ihr zu begegnen.
Am Tage nach meiner fluchtartigen Entfernung von meinem eigenen Grund und Boden ließ ich Gerda durch einen Advokaten schreiben, daß sie ruhig dort wohnen bleiben möge, bis das Haus verkauft sei, denn ich gedenke, es nicht mehr zu betreten. Sie solle nur gestatten, daß ich außer dem Bilde meines Vaters einige Gegenstände, die ich namhaft machte, abholen lasse; im übrigen solle der Hausrath mit dem Hause verkauft werden. Die erbetenen Gegenstände trafen noch am selben Tag in der Wohnung ein, die ich mir gemiethet. Aber keine Zeile von ihrer Hand dabei.
Seltsamerweise meldete sich bei meinem Advokaten schon andern Tags ein Käufer, der anonym blieb und durch einen Agenten vertreten war. Du begreifst, daß ich noch zu sinnlos verwirrt von dem Entsetzlichen war, um über irgend etwas nachdenken zu können, sonst hätte ich mir gleich sagen müssen, daß Gerda der Käufer sei. Und so ist sie nun Herrin meines Hauses – aber wie anders, als wir gedacht! Ich aber bin heimathlos und elend.
Und doch nicht ganz von allem Trost verlassen. Hier lebt ein Mädchen – die Tochter jener Frau, die ich im Gedächtniß an meinen Vater aufsuchen sollte und die am Tage meiner Ankunft starb. Wenn ich Dir doch sagen könnte, was mir dies Mädchen ist! Ruhelos sind meine Tage und Nächte, und die verzehrende Sehnsucht nach dem Weibe, das ich ewig lieben werde, versengt und vertrocknet mir das Blut in den Adern. Nur wenn ich dann bei ihr einkehre, kommt ein lösender Friede über mich. Sie, die jung und ohne Lebensfreuden ist, sehe ich schweren Kummer muthvoll tragen, und mir ist, als erstarke ich an ihrem Wesen. Und doch liebe ich sie nicht, ich werde sie auch nie lieben in jenem Sinne – so wie ich Gerda liebe – so – bis zum Haß. Aber weißt Du – heirathen könnte ich sie, gleich, gerade jetzt, nur um für immer diese sanftfeste Gefährtin neben mir zu haben.
Du siehst, ich bin fast toll. Du siehst, die Stunde ist da, wo Du mir beistehen mußt, Du Treuer, Oftbewährter. Ich flehe Dich an, nimm Urlaub, komm!
Dann sollst Du mir auch sagen, ob ein Mann sich nicht seiner Männlichkeit begiebt, wenn er dem Weib – und liebe er es noch so unsinnig – gestattet, tadelnd und bevormundend an seine Individualität zu rühren. Und das wollte sie.
Marbod, begreifst Du es, daß ich ohne sie leben soll? Ich kann es nicht. Aber ich weiß es, sie kann es auch nicht. Wir werden beide elend werden.
Eins muß ich Dir noch sagen, was sehr seltsam ist: ich sitze jetzt täglich meine fünf bis sechs Stunden am Schreibtisch. Ich habe, wie Du Dich erinnern wirst, schon oft beklagt, daß wir keine Uebersetzung von Spencers ‚Principles of psychology‘ haben. Niemals hätte ich daran gedacht, daß ich selbst einmal diese Riesenarbeit thun würde. Aber eine Wuth überkam mich – eine Wuth – nur arbeiten, nur etwas recht Mühseliges – und da ich die Principles zufällig bei mir hatte, fing ich an. Bei der Arbeit vergesse ich dann viel … nur gerade das eine nicht! Und will mein unruhvoller Körper widerspenstig das Sitzen nicht mehr vertragen, so höre ich immer das böse Wort und harre aus.
Ich weiß ja, sie würde diese Arbeit nur wieder eine Beschäftigung nennen. Aber vorerst fühle ich doch, ich leiste etwas, wenn auch nur als Vermittler.
Komm zu mir! Ich flehe Dich an. Ich muß wenigstens von ihr sprechen können.
Und Du begreifst, daß ich das mit meiner neuen, lieben und
geduldigen Freundin doch nicht kann.
Dein Alfred.“
„Berlin, den 20. Aug. 1885.
Lieber Alfred! Schon ehe ich Deine Briefbogen entfaltet hatte, wußte ich, daß Dir ein Unglück zugestoßen sei, denn Du hast mir, außer bei dem Tod Deines Vaters, nie andere Lebenszeichen gegeben, als Karten und Depeschen. Daß ich tiefbesorgt um Dich und die edle Frau bin, die gewiß ebenso leidet wie Du, weißt Du wohl. Ich ging deshalb auch sofort zu meinem Direktor und bat ihn um Urlaub, doch antwortete er mir, und zwar mit vollkommener Berechtigung, daß ein Urlaub, nachdem ich erst vor drei Wochen in meine Stellung getreten, eine Unmöglichkeit wäre. Der Wunsch in mir, zur Klärung Deiner Lage beizutragen, die mir unwahr und haltlos scheint, ward so lebhaft in mir, daß ich einen Schritt unternahm, den Du vielleicht mißbilligst. Ich schrieb an Gerda, die Zeilen gehen mit diesen zugleich nach Baden.
Derselbe Zug, der sie mitnimmt, führt noch andere Gäste hin, die Dir sicherlich unwillkommen sind. Ravenswann hat dem merkwürdigen Drängen seiner Frau nachgegeben und anstatt der beabsichtigt gewesenen Schweizerreise einen Aufenthalt in Baden zur Erholung gewählt. Ihre unzertrennlichen Freunde, Doktor Schneiders, begleiten sie, denn Du weißt, beide Ehepaare gehören zu den Menschen, die sich auch an dem schönsten Erdenwinkelchen nicht behaglich fühlen, wenn sie nicht die Atmosphäre ihrer heimischen Alltagsgespräche um sich haben.
Du wirst ihnen und ihren Fragen nicht ausweichen können, und damit Du Dich aufs Antworten vorbereitest, theile ich Dir ihre Ankunft mit. Sie werden Dir auch von mir erzählen, denn ich bin trotz ihrer umständlichsten Reisevorbereitungen noch dreimal dort gewesen, um mit Ravenswann und Schneider Skat zu spielen. Auch Frau Marie, Frau Schneider und eine ältliche Jungfrau, die man dazu geladen, haben dann Skat gespielt, eine Liebhaberei der Frau Assessorin, welche die Charakteristik zu ergänzen scheint, die Du einmal von ihr gabst.
Außer mit diesen bin ich zuweilen mit Doktor Bendel zusammengekommen, der mir recht gefällt und trotz seines in der That vorhandenen Größenwahns mir sehr anregend ist durch seine beißende Schärfe, mit welcher er die Mängel an anderer Werken beleuchtet. Auch mich nimmt er herbe mit. Und diese Offenheit hebt ihn vortheilhaft von den andern ab, die mich ins Gesicht loben und innerlich meine Mittelmäßigkeit bedauern. Herrn von Prasch und die Mollin habe ich zweimal im Café gesehen; aber beide waren stets so sehr in Zeitungen vergraben, daß sie meinen Gruß kaum bemerkten.
In meiner Berufsthätigkeit habe ich keine Ueberlast von Geschäften. Das ist mir im Hinblick auf das Schauspiel, an dem ich fleißig arbeite, doch sehr angenehm.
Für jetzt sei’s genug der nüchternen Berichterstattung! Du weißt, warum ich sie Dir mache. Besinne Dich, daß es außer Deinem vulkanischen Liebesgähren noch andere Dinge und Menschen in der Welt giebt. Auf Deine Reden von der Heirath, die Du mit jenem Mädchen einzugehen imstande seiest, erwidere ich nichts. Das war natürlich nur eine aufwallende Idee, geboren von der Bitterkeit. Zum Schluß erinnere ich Dich an das schöne Wort von Carlyle: ‚work and despair not.‘
Wenn Gerda antwortet, sende ich Dir ihren Brief.
Dein Marbod Steinweber.“
„Berlin den 20. Aug. 1885.
Meine gnädigste Frau! Sie kennen mich nur wenig, und doch weiß ich, daß Sie meine Zeilen nicht als Unbescheidenheit auffassen. Denn es ist Ihnen bekannt, welche innige Freundschaft mich seit vielen Jahren mit Alfred von Haumond verbindet, und daß ich nur in meinem Freundesrecht handle, wenn ich, getrieben von Sorge und Mitleid, Sie frage: ist es denn so ganz unmöglich, daß Sie beide wieder den Weg zueinander zurückfinden? Fielen denn in dem Zwist, der Sie trennt, so harte Worte, daß sie nicht zu vergessen sind? Was Sie ihm gesagt haben, ich weiß es nicht – aber was es auch war, kann es nicht zurückgenommen werden? Die seltsame, unfriedliche Leidenschaft, die Sie zugleich verbindet und trennt, wird sich in der Trennung nur schmerzlich vergrößern, und – er hat es mir oft genug und überzeugend genug gesagt – Sie können ohne einander doch nicht leben.
Er weiß, daß ich Ihnen schreibe, aber er erfährt es erst, wenn es zu spät ist, es mir zu verbieten. Vielleicht mißbilligt
[314] er es. Aber er wird verzeihen, wenn mein Brief den heißersehnten
Erfolg hat: Sie zur Versöhnung zu stimmen.
In herzlichster Ergebenheit
Ihr Marbod Steinweber.“
„Baden-Baden, den 23. Aug. 1885.
Verehrter Herr Doktor! Ich begreife, daß es Sie drängte, mir zu schreiben. Meine Antwort kann nur diese sein: eine Versöhnung wäre möglich gewesen, wenn er sich überwunden hätte, mir recht zu geben. Es handelte sich um eine Frage, von der ich seine künftige Zufriedenheit, und somit auch die meine, abhängig glaube. Es ist nun entschieden.
Sie sagen, daß wir nicht ohne einander leben können. Aber
glauben Sie denn auch, daß wir mit einander hätten leben können?
Ihre Gerda, Baronin von Offingen.“
„Berlin den 25. Aug. 1885.
Mein lieber alter Junge! Anbei die wenigen Zeilen, welche Gerda mir als Antwort schickte. Schon die Kürze derselben macht mich hoffnungslos. Wenn eine Frau Versöhnung und eine Neubelebung ihres Liebesglückes erhofft, nimmt sie sich die Mühe, ihren Zorn und die Gründe für denselben sehr lang auseinander zu setzen. Was ich Dir zum Trost sagen soll, weiß ich wahrlich nicht. Man pflegt sich auf den mildernden Einfluß der Zeit zu verlassen, aber ich weiß nicht, ob in Deinem Falle der Schmerz nicht gerade mit ihr wachsen wird.
Bis zu dem Augenblick, wo ich Gerdas knappe Antwort
empfing, glaubte ich noch gar nicht an den Ernst der Lage, aber
nun sehe ich, daß es einen Riß zwischen Euch gegeben hat, den
vielleicht nichts mehr heilt. Wenn ich Dir aus vollem Herzen
ein Warnwort sagen darf, ist es dies: lieber laß das Blut aus
der Wunde hinströmen, und solltest Du Dich daran verbluten,
aber klebe keine künstlichen Stillungsmittel darauf – ein ewiges
Siechthum könnte die Folge sein. Gieb nicht im Toben des
Schmerzes und in der Noth der Einsamkeit Deine Freiheit dahin
an ein ungeliebtes Weib. Nur in der Freiheit kannst Du Dir
die Hoffnung bewahren, daß die Eine, Ewiggeliebte doch noch
eines Tages in Deine ihr entgegengeöffneten Arme sinkt.
Dein Marbod.“
Es war an einem Frühmorgen, als Alfred diesen letzten
Brief erhielt. Mit zitternden Fingern nahm er aus der Hand
des Postboten das Couvert mit der wohlbekannten Handschrift.
Nicht vor heute, das hatte er gewußt, konnte Marbod ihm Bericht
über Gerdas Antwort oder Schweigen senden. Und doch zitterte
er seit zwei Tagen, wenn er die Uniform des Beamten sah.
[325]
Daß Marbod an Gerda geschrieben, hatte Alfred hingenommen
ohne Mißbilligung, ohne Freude. Mit einer Ergebenheit,
die einer vollkommenen Lähmung der Thatkraft gleichkam, erwartete
er, was auf des Freundes
Brief erfolgen werde. Es
gab Sekunden, in denen er
sich einbildete, daß Marbod
telegraphiren werde, wenn
sie gütig antworte. Dann
andere, wo er dachte, sie
werde nach dem Empfang
von Marbods Brief selbst
herunterkommen.
Täglich ging er die Schloßstraße hinauf und saß lange, lange auf der Bank unter den Linden der Terrasse vor dem großherzoglichen Schloß. Von dort konnte er über die Stadt im Thale hinweg zur jenseitigen Bergwand sehen, wo das Haus – jetzt ihr Haus! – am Waldesrand so friedvoll und freundlich in seinen braunen, grünen und weißen Farben aufleuchtete.
Nun war die letzte Entscheidung da. Aber eine tödliche Angst befiel ihn. Er ging mehremale in seinem Zimmer auf und ab, ehe er den Muth fand, das Couvert zu erbrechen.
Zuerst las er Gerdas wenige Zeilen. In seinem blassen Gesicht veränderte sich kein Zug. Seine Schmerzensstarrheit erweichte sich nicht zu neuem Zorn oder neuen Thränen. Er hatte gefühlt, gewußt, daß sie gerade so schreiben werde. Fast eine Stunde ging ihm hin, ohne daß er das Vorrücken des Morgens bemerkte. Er sah immer in das Briefblatt, und es war, als wollte sein durchdringendes Denken diese stummen Zeilen von Tinte zu redenden Menschen verwandeln, um zu ergründen, was alles sie noch gedacht, als sie so schrieb, wie ihr Auge dazu geblickt und was um ihren stolzen schönen Mund gespielt.
Umsonst, die Zeilen blieben, was sie waren, und sagten nicht mehr, als die Buchstaben ergaben. Aber vor seinen Augen begannen zuletzt diese Buchstaben regenbogenfarbige Ränder zu bekommen und aus ihrer geraden Linie herauszuhüpfen.
Er legte das Briefblatt hin, barg das Haupt in den Händen. und dachte nichts, als daß er Kopfschmerzen habe zum Wahnsinnigwerden.
Eine Uhr, die auf dem Kamin unter einer riesigen Glasglocke stand, schlug elf. Er sah zum Zifferblatt hinüber. Die gezierte Rokokoschäferin von Goldbronze, die sich unerträglich anmuthig an das Zifferblatt lehnte, schien ihm zärtlich zuzulächeln. Seine Phantasie belebte dies dumme Gesicht bei allem, was er that. Sah er von der Arbeit nach der Uhr, so lächelte die Schäferin ermuthigend, kam er spät nach Hause, allein und [326] stumm, so lächelte sie melancholisch. Und immer hätte er am liebsten mit der Faust die Glasglocke zerschlagen. Immer dies dumme, blöde Puppenlächeln in seiner Einsamkeit – es war nicht auszuhalten!
Er nahm Marbods Brief. Seine Lippen kräuselten sich bitter. Ja, Marbod hatte recht.
Wie sagte Heine doch:
„Man schreibt nicht so ausführlich,
Wenn man den Abschied giebt.“
Sie aber – sie schrieb kurz und schnöde.
Er las weiter in Marbods Brief, und ein Ausdruck stolzen Unmuthes flog über seine Stirn.
Was unterfing der Freund sich, ihn zu warnen! Er selbst wußte ganz allein, was seiner kranken Seele noth that.
Seine Gedanken hafteten an diesem Punkt. Wie, er sollte nicht heirathen, weil er nicht aus Liebe heirathen konnte? Das ging niemand an als ihn selbst und das Mädchen, wenn er an dieses etwa ein solches Ansinnen stellte. Bisher hatte er nur in einem kurzen erregten Augenblick der Verzweiflung den Gedanken an solche Verbindung gehabt. Durch Marbods Widerspruch kehrte er darauf zurück und erwog ihn von allen Seiten.
Ein dämonischer Gedanke, für ewig zwischen sich und Gerda ein unübersteigliches Hinderniß aufzurichten! Keine Anwandlung schwachmüthiger Sehnsucht konnte ihn dann mehr in Gefahr bringen, doch noch zu der zurückzukehren, die ihn so tief beleidigt.
Und ein erlösender Gedanke, für immer das ruhige, feste, gleichmäßig gütige Wesen Germaines neben sich zu haben! Ihre Gegenwart war wie ein Friedenshafen für das mit Sturmsegeln schiffende Fahrzeug seines Lebens.
Ja, wenn das sein könnte, ohne daß Germaine mehr als Freundesneigung verlangte, dann – dann sollte Marbod sich doch freuen, anstatt davor zu warnen!
Und was Gerda sagen würde, wenn sie dergleichen erführe? Sein Zorn wallte auf in dieser Vorstellung. Es wäre eine Lehre und eine Strafe für sie, die sich nicht in sein Wesen finden gewollt hatte.
Dabei war es ihm, als hörte er sie sagen. „Ich kann einen Mann nicht achten, der nicht arbeitet.“
Hastig setzte er sich an den Schreibtisch. Seine Feder flog über die Bogen, die Schwierigkeiten der wissenschaftlichen Uebersetzung schienen sich spielend überwinden zu lassen. Seine Stirn glühte und sein Auge blitzte.
So saß er, bis sein Diener bei ihm eintrat und fragte, ob er, Fritz, falls der Herr nicht zum Essen gehen wolle, dann nicht seinerseits gehen dürfe, die gewohnte Stunde sei schon längst überschritten. Es war sonst Fritzens Obliegenheit, seinem Herrn ein wenig beim Umkleiden zu helfen und, wenn dieser die Wohnung dann verlassen hatte, hinter ihm alles zuzuschließen. Der Zeitpunkt dazu war zwar nur um fünfzehn Minuten überschritten, aber Fritz hielt auf Pünktlichkeit, denn in dem Speisehaus, wo er sein Mittagbrot nahm, aß um dieselbe Zeit die allerliebste Zofe einer russischen Herrschaft.
Alfred fuhr auf, warf seine Bücher zu und seine Papiere in die Schublade. Nach fünf Minuten war er auf dem Wege nach dem seiner Wohnung gegenüberliegenden „Hotel Viktoria“. Sein Geist war noch so vollkommen bei der Arbeit, die er eben verlassen, daß er erschreckt zusammenzuckte, als man ihn laut anredete, gerade in dem Augenblick, als er sich auf seinem Platz niederlassen wollte.
Die ihm von Marbod angekündigten Ravenswanns und Schneiders begrüßten ihn mit einer Lebhaftigkeit, die dem sonstigen Wesen dieser Leute fremd war. Aber es giebt Menschen, die sich in der Fremde über ein Gesicht aus der Heimath freuen wie ein Hungernder über ein Stück Brot. Einerlei, ob ihnen das Gesicht sympathisch oder unsympathisch ist – der Träger desselben lebt doch sonst auch im Schatten des heimischen Kirchthurms.
„Sie sehen, daß ich mein Vers-prechen halte,“ sagte Frau Mietze, die wieder ein karrirtes Kleid, diesmal aber grauschwarz, trug.
„Mein Gott, Sie sind magerer geworden!“ sagte Frau Doktor Schneider.
„Wie kommt es, daß Du hier issest und nicht in Deinem eigenen Hause?“ fragte Ravenswann.
„Ißt man hier gut?“ fragte Schneider. Und so sagten und so fragten alle vier alles mögliche durcheinander.
„Wir haben uns schon nach der Lage Ihrer Villa erkundigt,“ sagte Frau Mietze, nachdem man sich gesetzt und Alfred neben ihr Platz gefunden hatte. „Wir wären heute nachmittag zu Ihnen gekommen, denn heute müssen wir zusammenbleiben, mein Geburtstag ist nämlich, und Männe will mir nachher ein Geschenk kaufen. Sie zeigen uns den besten Juwelierladen.“
Alfred brachte seinen Glückwunsch dar.
„Nachher fahren wir dann zu Dir, Deine Villa soll ja entzückend liegen,“ sagte Ravenswann.
„Aber, lieber Assessor,“ sprach Frau Schneider mit ihrem jugendlich unschuldsvollen Lächeln „es schickt sich doch nicht, daß wir einen jungen Mann besuchen!“
„Die Villa ist nicht mehr mein“ erklärte Alfred kurz.
Und den einstürmenden Verwunderungsfragen ein Ende machend, setzte er alsbald hinzu.
„Die Baronin Offingen hat sie mir mit der ganzen Einrichtung abgekauft.“
Mit einemmal verstummte das bisher so lebendig gewesene Gespräch. Marie sah ihren Gatten bedeutungsvoll fragend an. Wie, sollte Alfred am Ende so viel Schulden gehabt haben, und sollte die Baronin, um sie ihm in einigermaßen annehmbarer Form zu bezahlen, sich das Haus haben übertragen lassen? Ravenswann grübelte Aehnliches. Es war merkwürdig, wie phantasiereich beide in Bezug auf die Unsolidität anderer stets waren. In dem Innern solcher Menschen haben die äußersten Gegensätze friedlich und unauffällig nebeneinander Platz; neben einer gewissen Gutmüthigkeit des Fühlens steht unmittelbar die Neigung, für die Thaten und Empfindungen anderer stets die kleinsten oder gar unlautersten Motive anzunehmen.
„So darf man endlich wohl offiziell gratulieren?“ fragte Marie.
„Wozu?“ fragte Alfred sehr beherrscht entgegen und sah sie kalt und fremd an.
„Nun, ich meine – Sie s-prachen doch früher so – als wenn …“ stotterte sie eingeschüchtert.
„Da müssen Sie mich durchaus mißverstanden haben,“ sagte er.
Marie seufzte auf Sie nahm ihm in diesem Augenblick seine Schroffheit gar nicht übel. Es war vorbei mit ihm und der Offingen. Welch ein Glück!
Man aß ziemlich schweigsam. Frau Doktor Schneider fragte einmal, was man nach Tisch anfange, und freute sich wie ein Kind, als sie hörte, man gehe zur Kurmusik. „Dadurch, daß ich so jung heirathete, habe ich noch so wenig von der Welt gesehen,“ sagte sie zu Alfred, „und ich habe ein kindliches Vergnügen an allem. Es ist wohl ein sehr interessantes Publikum da?“
„Sie werden ja sehen.“
Frau Schneider hatte die Gewohnheit, wenn sie sprach, ihr blondlockiges Haupt mit einer unruhigen Beweglichkeit vorwärts gebeugt zu halten, was ihr im Verein mit ihrem Adlernäschen und den herausstehenden Raffzähnen etwas Vordringendes gab. Alfred gemahnte es stets an eine Ente, die mit ihrem Schnabel umhersucht.
Zur Feier von Mietzes Geburtstag ließ Ravenswann zwei Flaschen Sekt kommen, auch hatten sie alle vier sämmtlichen Gängen der reichen Table d’hote stark zugesprochen, so daß sie, als man um drei Uhr zur Kurmusik ging, die rothen Backen und glänzenden Augen des Verdauungsfiebers hatten. Frau Doktor Schneider kicherte immer los und tänzelte wie ein neugieriger Backfisch über die Straße.
Alfred ging daneben und kam sich vor wie ein Opferthier.
„Warum in aller Welt,“ dachte er, „macht sich ein vernünftiger Mensch so zum Sklaven der Konvenienz, daß er mit Leuten verkehrt, die weder seinem Geist, noch seinem Herzen Nahrung bieten? Bloß weil er vor Jahren und Jahren einmal mit ihnen bekannt geworden ist unter Bedingungen, die sonst wohl Freundschaft hervorzurufen pflegen? Warum breche ich nicht mit Leuten, die in einer anderen Geisteszone leben als ich? Weil es einmal so Gewohnheit ist, mit ihnen dann und wann zusammenzukommen? Und weshalb kommen wir denn zusammen? Um miteinander zu essen und zu trinken. Was für ein lächerliches Ding das doch ist, seinen Bekanntenkreis erweitern und pflegen. Man stiehlt einander die Zeit, man tödtet einander die Gedanken und man kritisirt sich gegenseitig mit Uebelwollen.“
In seine Gedanken hinein fragte Frau Marie ihn:
„Haben Sie hier Freunde? Durch uns sollen Sie sich nicht s-tören lassen. Wir können uns so vielleicht Ihrem Kreise anschließen.“
[327] „Ich habe niemand als einige Menschen, mit denen ich ein Wort über das Wetter spreche, wenn ich ihnen begegne. Und dann …“
Alfred zögerte. Er hatte von Germaine sprechen wollen.
„Was?“
„Nichts – nichts.“
„O,“ sagte sie im alten Ton des gekränkten Selbstbewußtseins, „Sie wollten wohl was sagen, was ich hätte übelnehmen können. Aber ich bin wirklich nicht so übelnehmerisch, wie Sie denken.“
Unterdeß hatte Alfred in Gedankenschnelle erwogen, daß die von ihm für Germaine erwünschte Gelegenheit, durch Ausflüge in die Umgegend einige Erholung zu finden sich durch Ravenswanns biete. Mochte Frau Mietze so verschieden von dem Mädchen sein, wie sie wollte, als Gesellschaft und Anschluß war sie für jetzt brauchbar.
„Nun denn,“ sagte Alfred, der mit Frau Ravenswann voranging, „ich möchte Ihnen von einem Mädchen sprechen, dessen Mutter hier vor kurzem gestorben ist. Die Familie, von alters her mit der meinigen eng befreundet, besonders mit meinem Vater – ist theils weit entfernt, theils ausgestorben. Aus allerlei Gründen bleibt das Fräulein – Germaine Thomas ist der Name – noch hier und ist natürlich, da eine alte Dienerin ihre einzige Begleitung ist, auf die vollständigste Zurückgezogenheit angewiesen, da ich doch nicht gut Ausflüge mit ihr unternehmen kann. Wenn sie sich Ihnen zuweilen anschließen durfte, würde ich Ihnen sehr dankbar sein.“
Während Alfred so sprach, ärgerte er sich schon, seinem Einfall gefolgt zu sein. Es war doch eine Bitte, die er an diese Frau richtete. Und zu bitten für sich oder die, welche ihm nahestanden war ihm ein Unleidliches.
Frau Marie freute sich; daß er sie um eine Protektion bat, war doch eine Anerkennung ihrer höheren Frauenwürde, der erste Beweis, daß er nicht mehr unter dem Einfluß dieser „emancipirten“ Frau stand.
„Es handelt sich natürlich um ein solides Mädchen aus ans-tändiger Familie,“ sagte sie würdevoll. „Das weiß ich, sonst würden Sie es mir nicht ansinnen. Wir wollen nachher gleich eine Tour verabreden, und Sie können uns Fräulein Thomas dann zuführen.“
„Mietze, Mietze,“ rief hier Frau Doktor Schneider, „Du gehst vorbei? Sieh doch die himmlischen Schmucksachen!“
Sie standen vor dem Eckladen in den Kolonnaden.
„Wenn Du Deiner Frau etwas dergleichen kaufen willst,“ sagte Alfred, „hier ist der beste Platz dazu.“
„Laß uns hineingehen!“ entschied Ravenswann.
Man ging zu fünft in das Magazin. Mietze hatte sich seit langer Zeit einen Brillantring gewünscht. Nun war sie aber verlegen und mochte es nicht sagen. Alles genierte sie: der elegante Verkäufer, die kostbaren Hals- und Armbänder, die man ihr vorlegte und die sie doch nicht nehmen konnte, weshalb sie dem Verkäufer „pauvre“ zu erscheinen fürchtete; der Gedanke, daß sie ihre Reisezwirnhandschuhe von den erhitzten Fingern abziehen müsse und daß die Handschuhe ohne Zweifel grau abgefärbt haben würden, und zu dem allem Alfreds Gegenwart, vor dem sie sich ungewandt zu benehmen fürchtete.
„Du wolltest ja einen Ring,“ drängte der Gatte.
Sie schwieg. Der Juwelier trug alles mögliche herbei. Frau Doktor Schneider besah alles und fragte nach allen Preisen. Mietze blieb stumm.
Alfred ging bald in die Thür, kehrte bald an den Ladentisch zurück, klopfte mit den Fingern auf die Glasscheiben eines Auslegekastens und seufzte laut.
„Dieser Ring hier,“ sagte der Juwelier endlich zur Wahl rathend, „ist in der That das Schönste und Geschmackvollste, was Sie finden können. Der Herr Baron haben vor drei Wochen ganz denselben gekauft und waren entzückt von den Steinen.“
Für manchen Kaufmann ist jeder Adelige „Baron“. Alfred von Haumond war mit der Bezeichnung gemeint, und Marie verstand es, weil der Juwelier eine Handbewegung dazu machte.
Nun entschied sie sich für diesen Ring. Während Ravenswann bezahlte, zog man weiter, an das Schaufenster des nächsten Magazins. Alfred kam sich vor wie ein Bauer, der zum Jahrmarkt geht. Er selbst stand sonst gern draußen an den Fenstern und sah die hübschen Sachen an, aber die lauten Fragen der Frau Schneider nach dem Nutzen dieser und jener Dinge, die steten Vergleichungen mit den Berliner Läden waren ihm gräßlich.
Vor dem Kurhause saßen in langen Reihen auf den eisernen Stühlen mit dem Sitz von Drahtgeflecht die Badegäste des Ortes, meist Leute von unauffälligem Aeußern, mit unauffälligen Kleidern. Dazwischen dann und wann eine Gruppe von Herren und Damen, denen man die „große Welt“ ansah. Auf dem breiten Weg zwischen dem Musikpavillon und dem Kurhause, zwischen der auf beiden Seiten sitzenden Menschenlinie, wandelte im grellen Sonnenschein auf dem gelben Kies eine Menge hin und her, die ebenso aus bescheidenen und vornehmen Elementen zusammengesetzt war. Dazwischen tauchten Männererscheinungen auf, die unschwer erkennbar den Typus des internationalen Sportsman hatten: lange, ausgemergelte Gestalten, hagere Gesichter, übermüdeter Ausdruck, englische Kleidung, im schwarzen Rock, die Tuberose im Knopfloch und darunter zwischen zwei andern geschlossenen Knopflöchern die zusammengelegten braunrothen Glacéhandschuhe.
Frau Doktor Schneider, die neben Alfred in einer vordern Stuhlreihe saß, schien etwas enttäuscht. Sie heuchelte aber doch ein erfreutes Interesse und wollte bei jeder besonderen Erscheinung wissen, wer das sei.
„Dieser Mensch da, kurz, fast dick. Er hat seine weißen Beinkleider aufgekrempt, trotz des Sonnenscheins, und trägt Segeltuchschuhe. Er sieht sehr orientalisch aus und hat ein keckes Schnurrbärtchen und eine Fliege. Wie komisch dazu der weiße Strohhut mit dem grünrothen Band! Und seinen Knüppelstock faßt er so von vorne herum an.“
„Der Herr ist Baron und Komponist,“ erklärte Alfred, „die Polka, welche man eben spielt und die unter drei Sternen auf dem Programm steht, ist von ihm.“
„Ach, und die beiden? Der eine groß und schlank, mit großen Schwärmeraugen, der andere klein, elegant, sprühende Lebhaftigkeit im blassen, aristokratischen Gesicht. Und beide gleich blond und beide wie Brüder in Weiß gekleidet,“ fragte die Frau weiter, mit entzückten Augen die auffallend schönen Männer verfolgend.
„Der eine ist ein Schwede, einer von den Herren des Massageinstitutes, der andere ein preußischer Kavalier, der mit seinem Gesang und seinem Witz den jungen Damen der Gesellschaft hier den Kopf verdreht, ohne sich aus seinen Erfolgen viel zu machen. Man sagt, daß Liebe zu demselben Weibe, welches ihnen beiden gleich unerreichbar ist, sie in edler Freundschaft verbindet. Man nennt sie die weißen Dioskuren,“ sagte Alfred. Er machte im stillen eine weitschließende Beobachtung daran, daß Frau Doktor Schneider nur die Männer zu sehen schien. Aber gerade da stieß sie ihn mit dem Ellbogen an und flüsterte:
„Kennen Sie die? Das blonde Haar steht aus wie gefärbt und wie geschminkt das Gesicht! O und diese auffallende Spitzentoilette, und der himmelanragende Hut und die hohen Hacken!“
Und dann sah sie mit dem Ausdruck einer Theaternaiven Alfred gerade in die Augen, lächelte unschuldsvoll und fragte nochmals:
„Kennen Sie die? Solche Art Erscheinung habe ich noch nie gesehen.“
Alfred lächelte auch, aber mit unverhohlener Impertinenz.
„Das macht, weil Sie so jung geheirathet haben und so wenig von der Welt kennen.“
Er stand auf; alles ekelte ihn an, die auf- und abschlendernden Menschen, Ravenswann und Schneider, die noch immer schläfrig verdauten, Frau Schneider mit ihrer erlogenen Seelenjungfräulichkeit – alles. Frau Marie, die schweigend und beobachtend dagesessen hatte, däuchte ihm noch die Beste von der Gesellschaft. Sie wenigstens hatte ein ehrliches Herz, wenn es auch ganz eng umschnürt war von den Banden zahlloser Vorurtheile.
Von ihr verabschiedete er sich daher auch mit einer Wärme, die sie ebensosehr innerlich erschreckte wie beglückte. Man verabredete noch eine Tour nach Gernsbach für den folgenden Tag, und dann ging Alfred, froh, als wenn er einer Sklaverei entronnen wäre.
Die Zurückbleibenden beschlossen, Kaffee und Eis zu nehmen, und verlegten ihre Sitzplätze von der Promenade auf die Terrasse vor dem mit dem Konversationshaus in einer Linie stehenden Kaffeehause. Erst als das allerletzte Musikstück zu Ende gespielt war und die Leute sich verliefen, begannen sie, im Grunde schon gelangweilt, zu berathen, was man ohne Haumond anfangen könne.
Von den Bergen rings lockten die Wälder, aber es war so weit zu gehen. Und ein Wagen hätte das feste Tagesbudget überschritten, [328] welches die Herren sich gemacht und dessen Nummer „Extraausgaben“ für Ravenswann schon durch den Sekt ausgefüllt war.
Nach langer, fruchtloser Berathung beschlossen sie, ins Hotel zurückzukehren und bis zum Abendessen auszuruhen. Auf dem Wege zu ihrem Gasthof kamen sie an der Marxschen Hofbuchhandlung vorbei. In dem einen Ladenfenster des Geschäfts waren Kunstgegenstände ausgelegt. Ein sehr schöner Fächer erinnerte Frau Doktor Schneider daran, daß sie seit Wochen sich Geld erspart habe, um sich „unterwegs etwas zu kaufen“. Man ging also in den Laden. Kaum hatte man die Schwelle überschritten, so stieß Frau Mietze die Freundin an.
„Sie!“
„Sie,“ das war für diese beiden Frauen die Baronin Offingen, welche ihnen ebenso interessant wie verabscheuungswürdig war, – warum? das hätten sie bis jetzt kaum zu sagen gewußt, wenn man sie gefragt hätte. Gerda war ja anders als sie, das ist schon Grund genug für eine Frau, die andere zu hassen. –
Gerda sah die Eintretenden erst nicht, die sie wohl aus mannigfachen Begegnungen kannte, ohne indeß gesellschaftlich mit ihnen zu verkehren. Der langgestreckte, den großen Laden in zwei Hälften theilende Aufbau von Luxus- und Kunstartikeln auf von zierlichen Säulen getragenen Glasplatten bildete eine vielfach durchbrochene Scheidewand zwischen ihr und den beiden Damen.
„Wie bleich sie ist! Himmel, und wie elend sieht der Junge aus und wie matt er sich an seine Mama lehnt!“ wisperte Frau Schneider ihrer Freundin ins Ohr.
In diesem Augenblick sah Gerda durch eine Lücke zwischen den aufgebauten Waren die beiden Damen. Sie grüßte, ernst und höflich. Im Augenblick geschmeichelt und erfreut, dankten beide. Denn ohne daß sie es sich je gestanden hätten, erschien Gerda ihnen wegen ihres Adels, ihres mannigfachen Verkehrs mit berühmten Leuten und ihres Reichthums doch als ein Wesen aus höheren Gesellschaftskreisen. Sie ließen sich von dem Fräulein, welches nach ihren Wünschen fragte, alle möglichen Fächer vorlegen, sahen aber in der That nichts von diesen, sondern beobachteten fortwährend Gerda.
Diese schien sich von dem Verkäufer den Mechanismus eines Gegenstandes erklären zu lassen. Der Knabe hatte sein schönes Köpfchen müde an die Hüfte seiner Mutter gelegt. Nun zog Gerda den Handschuh aus, um selbst den Griff zu versuchen, den man ihr eben gezeigt hatte.
Da stieß Frau Schneider ihre Freundin heftig an. Sie sahen es beide: Gerda trug denselben Ring, den Frau Mietze vorhin erhalten, den Ring natürlich, welchen Haumond vor drei Wochen bei dem Juwelier gekauft, wie dieser letztere selbst gesagt hatte.
„Eine Frau, die sich Diamanten schenken läßt von einem Manne, der sie nicht heirathet! Was dergleichen bedeutet, weiß man ja!“ flüsterte Frau Doktor Schneider.
Sie hatte immer eine sonderbare Art zu flüstern. Ihre Stimme trug bei gedämpftem Schall weiter als bei vollem Ton. Es war, als würde sie penetranter durch die Dämpfung.
Hatte Gerda die Worte gehört? Ihr dunkles Auge ging groß über die beiden hin.
Frau Mietze antwortete nichts. Das Staunen über die Unwürde dieser Frau war zu groß. Aber sie nahm sich vor, wenn die Offingen früher den Laden verlassen sollte, sie nicht zu grüßen.
In der That ging Gerda jetzt. Frau Ravenswann und Frau Schneider thaten, als wenn sie es nicht bemerkten.
„Warum grüßtet Ihr die schöne Frau nicht?“ fragte Doktor Schneider, der nach Tisch zuweilen aufgelegt war, Schönheit zu bewundern.
„Aber ich bitte Sie,“ sagte Frau Mietze leise, mit den Bekannten zu einer enggeschlossenen Gruppe zusammentretend, wobei es doch unausbleiblich war, daß die Verkäufer hören mußten, was sie sprachen, „alles hat doch seine Grenzen! Eine Frau, die fortwährend so der Sitte ins Gesicht schlägt, mit der kann man nicht einmal durch einen Gruß verkehren. Ich s–preche gewiß nicht leicht etwas Böses von den Leuten, aber alle Welt sagt es, daß Haumond täglich und s–tundenlang bei ihr war. Dann reisen sie zusammen in die Nacht hinein, wohnen zusammen, und sie nimmt Diamanten von ihm an. Das ist doch s–tark!“
„Darf ich noch diesen Fächer zeigen?“ fragte die Verkäuferin.
Die Gruppe fuhr auseinander und die beiden Frauen fanden nun die genügende Gemüthsruhe zur Fächerauswahl.
Daß schon drei Wochen vergangen sein sollten, seit sie die Mutter verloren hatte, erschien Germaine fast wie ein Traum. Das Gleichmaß der verflossenen Tage ließ diese dem rückblickenden Geiste alle wie einen erscheinen und nahm der Erinnerung die Fähigkeit, ihre Dauer so recht zu unterscheiden.
Jeder Tag hatte denselben Inhalt gehabt: am Morgen ein Spaziergang nach dem Kirchhof, am Nachmittag ein kurzer Besuch von Alfred. Dazwischen und nachher einsame Stunden, die mit Handarbeit und Lesen ausgefüllt wurden. Und außerdem die bescheidenen Mahlzeiten, welche die alte Dienerin bereitete und mit ihrer Herrin nahm.
Das Leben hatte Germaine Geduld gelehrt, aber die eintönige Nutzlosigkeit dieser Zeit begann ihr unerträglich zu werden. Wenn Alfred nicht gewesen wäre, hätte der Unmuth, der langsam in ihr keimte, sie schon übermannt. Für ihn und die Lichtblicke, welche seine Fürsorge ihr brachte, hatte sie heiße Dankbarkeit im Herzen. Man konnte nicht zartfühlender, unbefangener, brüderlicher sein als er mit ihr. Keinen Augenblick ließ er es sie empfinden, daß vielleicht unerwünschterweise ihm die Antheilnahme an dem fremden Mädchen aufgezwungen sei. Er kam und ging in immer gleicher Güte, er besprach mit ihr alle die kleinen Verhältnisse von Geld und Sachen, die ganze bescheidene Erbschaft der Armut und half ihr alles ordnen. Die vollkommene Freiheit, die er innerlich dem Gelde gegenüber besaß, war ihr eine doppelte Wohlthat nach den Demüthigungen, welche sie und die Mutter gerade um des Geldes willen erduldet hatten. Mit der größten Unbefangenheit sprach er davon, daß dies oder jenes sich ihm als zu theuer verböte, und ebenso unbefangen rechnete er für Germaine. Reichthum oder Armut war ihm etwas Nebensächliches, mit dem man sich auch nebenher abzufinden hatte.
Germaine bemerkte wohl, daß ein Hauch von Trauer durch sein Wesen ging; sie war klug genug, um zu beobachten, daß die Ruhe, die er zeigte, nicht eine Charaktereigenschaft, sondern nur Fassung des Augenblicks war. Auch fiel ihr auf, daß er sein Versprechen nicht gehalten hatte und sie nicht der Baronin Offingen zuführte, noch überhaupt dieser Frau je mehr erwähnte. Es war demnach unschwer für sie, einen Zusammenhang seiner Melancholie mit dieser Frau zu ahnen. Aber eben weil sie dies ahnte, fragte sie nie mehr nach der Dame, der sie doch einen Dank schuldig war für die letzte Ehre, welche jene ihrer Mutter erwiesen hatte.
Alfred aber dankte ihr das Taktgefühl, welches sie schweigen hieß. Frauen, die fragen und neugierig immer bis auf den Grund von Gemüthsstimmungen und Ereignissen gehen, konnte er nicht ertragen.
Heute saß Germaine im Garten, vor einem der von Clematis umrankten Bogen, las in einem Buch, das Alfred ihr gebracht hatte, und sah zuweilen hinüber nach der Allee, wo eben die nachmittägige Korsofahrt begann und wo auf dem Fußsteige eine fast ununterbrochene Reihe von Spaziergängern vor der Front der dunklen Ulmenstämme buntfarbig hinzog.
Alfred kam durch den Garten auf sie zugegangen. Vor seinem Auge stand noch die steife Ungrazie der Frau Ravenswann und die gezwungene Jugendlichkeit der Frau Schneider. Das Bild, das er jetzt sah, war so harmonisch schön, daß er sich daran erquickte.
Das blonde Haupt in dem Blüthenrahmen, die schöne, schwarzgekleidete Gestalt vor der grünen Blätterwand, das feine Profil vor dem weit zurücktretenden dunklen Hintergrund – wahrlich, Germaine war schön, und wenn ihre Mutter auch einst so gewesen, ließ sich seines Vaters Liebe wohl begreifen. Und dabei fiel ihm gerade jetzt wieder diese Aehnlichkeit auf, die Aehnlichkeit – ja, mit wem denn? Ihn gemahnte es – ja, an was denn?
„Guten Tag!“
Er nannte sie nie „Fräulein Thomas“, das wollte ihm merkwürdigerweise nicht über die Lippen; der Name und das Mädchen schienen ihm wie zwei verschiedene Dinge. „Germaine“ mochte er auch nicht sagen, weil dies eine Vertrautheit andeutete, die ihm ihr Alleinstehen verbot.
Mit freudigem Aufblick nahm sie seine Hand.
„Schon? Es ist noch nicht Ihre Stunde, aber desto besser! Ich hatte gerade viel und Ernstes gedacht, über das ich mit Ihnen sprechen muß. Und Schwierigkeiten scheinen nur zu wachsen, wenn man lange über sie nachsinnt.“
Alfred trug sich einen Gartenstuhl herbei und setzte sich. Der [330] grüngestrichene runde Tisch, auf dem Germaines Buch und Handarbeit lag, war zwischen ihnen.
„So sprechen Sie, obgleich ich gerade heute am liebsten nur schweigend Ihnen gegenüber gesessen hätte. Es beruhigt mich so, wenn ich Ihren flinken Fingern zusehe, die hurtig den Faden durchziehen. Denn gerade heute haben mich gute Freunde halb todt gemacht. Der Philister zu Hause ist nicht uninteressant; man kann, wenn man ihn aus sich selbst ein bißchen mit hübschen Farben koloriert, ihm sogar poetische und humorvolle Seiten abgewinnen; aber der Philister auf Reisen ist entsetzlich,“ sagte Alfred seufzend.
„Nun dies Beruhigungsmittel kann ich wirken lassen, auch wenn ich spreche,“ meinte sie und wickelte ihre Stickerei auseinander.
Während sie den farbigen Wollfaden in die Nadel fädelte, begann sie schon in ihrer ruhigen, gleichmäßigen und doch nicht eintönigen Sprechweise:
„Sie wissen, daß ich schon zwei Tage nach Mamas Begräbniß Anzeigen in den verschiedenen Blättern ergehen ließ. Doch scheint es, als wenn niemand eine Pflegerin oder Gesellschafterin brauche, denn niemand hat sich gemeldet. Da meine Geldmittel nur noch für wenige Wochen reichen, so wäre ich dann vis-à-vis de rien oder auf die Gnade der Familie Thomas angewiesen, die anzurufen meine Mutter mir verbot. Ich würde mich also in einer vollkommen hilflosen Lage befinden. Deshalb, denke ich, muß ich meine Ansprüche niedriger stellen und einige Stufen gesellschaftlich hinuntersteigen. In einem Laden, als Verkäuferin, denke ich, sollte es nicht so schwer sein, Stellung zu finden, und es giebt doch sehr feine Geschäfte, wo ein armes Mädchen arbeiten kann, in aller Anständigkeit und Bescheidenheit. Freilich fühle ich wohl den Schritt fernab von allem, was bisher den Gewohnheiten meiner Erziehung entsprach, aber da ich eben darauf erzogen worden bin, einmal vielleicht eine gute Hausfrau zu werden, oder eine Dame, die in der Gesellschaft ihre Stellung einnehmen kann, nicht aber darauf, Geld zu verdienen, so muß ich eben aus meinem bisherigen Kreise treten, wenn ich leben will. Meiner armen Mutter ist aus meinem Mangel an einer lohnenden Berufskenntniß kein Vorwurf zu machen. Als das Unglück kam, als wir verarmten, war Mama schon so leidend, daß mit ihrer Pflege mein ganzer Tag ausgefüllt war. Mama hätte eben eine fremde Pflegerin nehmen und mich in eine Lehre schicken müssen, und das – nein, das wäre zu hart für sie gewesen, die niemand hatte als mich.“
Alfred hörte ihrer Rede mit wachsendem Unbehagen zu.
„Niemals“, sagte er bestimmt, „gebe ich einen solchen Schritt zu. Sie werden eine Stellung finden, wo Sie keinen äußersten Demüthigungen ausgesetzt sind. Quälen Sie sich nicht über das ‚Wann‘. Ich bin da, im Namen meines Vaters für Sie zu sorgen. Ich werde Ihre Pension hier im Hause bezahlen, bis Sie eine Stelle finden.“
Germaine lächelte ein wenig, wie zu dem überspannten Einfall eines lieben Menschen.
„Ueber diesen Vorschlag hin und her zu reden,“ sprach sie, „ist vollkommen überflüssig. Seine Annahme ist aus äußeren Gründen unmöglich. Aber wenn diese äußerlichen Gründe auch nicht beständen, so giebt es noch innerliche, die mir verbieten, mich auf die Güte eines Freundes anstatt auf meine eigene Kraft zu verlassen. Ich bin gesund, ich bin jung, ich bin an angestrengte Thätigkeit gewöhnt, denn der Zustand meiner armen Mama erforderte Tag und Nacht Aufmerksamkeit, Handreichungen, Beschäftigungen jeder Art. Bald mußte man ihr Speisen bereiten, deren Zusammensetzung peinlich genau vorgeschrieben war, bald die fast Gelähmte umbetten, bald ihr vorlesen, bald ihr Gewänder und Kissen anfertigen, von denen sie sich für ihre Lage mehr Bequemlichkeit versprach. Und nun mit einemmal habe ich gar nichts zu thun! In den ersten Tagen fühlte ich wohl, wie überangestrengt ich gewesen war und wie gut mir das Ausruhen that. Aber nur in den ersten Tagen. Nun ertrage ich es täglich weniger, ein so pflichtenloser Mensch ohne geregelte Zeiteintheilung zu sein. Ich habe Arbeitskräfte, und wer solche besitzt und sie nicht ausübt, begeht beinahe eine Unsittlichkeit. Habe ich recht?“
Alfred war von ihrer Rede in eine so nachdenkliche Bestürzung versetzt, daß er kaum antworten konnte.
„Aber das Leben bringt doch auch Feier- oder Ruhewochen, die man genießen darf!“ sagte er.
„So?“ fragte sie, ihn liebevoll ansehend, „und Sie – genießen Sie denn Ihre Ruhewochen, die sich zu machen Sie doch sicherlich herkamen? Weiß ich nicht von Ihnen selbst, daß Sie täglich mehrere Stunden an der Uebersetzung eines philosophischen Werkes angestrengt arbeiten?“
„Ich? Mein Gott, sprechen wir nicht von mir!“ bat Alfred. Ihm war es, als fasse ihn ein Schwindel. Wenn dies Mädchen wüßte, daß er auch eigentlich „ein pflichtenloser Mensch ohne geregelte Zeiteintheilung“ war, und daß er nur jetzt so schaffte, weil eine, eine gesagt hatte … o, nur nicht daran denken!
[341]
Liebes Kind,“ begann Alfred nach einer Pause herzlich zu Germaine,
„wir kommen auf das Thema über Ihre Zukunft zurück. Ich
verspreche Ihnen, darüber nachzudenken und Ihnen morgen zu
sagen, was wir anfangen könnten, Ihnen die Beschäftigung und
den Verdienst zu verschaffen,
nach welchen Sie sich so sehnen.
Wir werden morgen den ganzen
Tag zusammen sein. Langjährige
Bekannte von mir,
Assessor Ravenswann und
Frau, sind angekommen, wir
haben eine Tagestour nach
Gernsbach verabredet, und ich
werde Sie den Herrschaften
vorstellen; Frau Ravenswann
ist schon davon verständigt.
Vielleicht auch, daß diese Dame
Ihnen einen Rathschlag geben
kann, obschon ich, falls Sie
sie um einen solchen bitten,
Ihnen sagen muß, daß Sie
nur von Ihrem Wunsch nach
Beschäftigung, nicht von der
Nothwendigkeit zu erwerben
sprechen dürfen.“
„Das sieht Ihnen nicht ähnlich,“ sagte Germaine lebhaft, „meinen Mangel an Besitzthümern als eine Sache, die man schamhaft verschweigt, anzusehen.“
„Mir nicht, nein,“ antwortete er, „aber es ist einmal so: man ist einem bemittelten Menschen lieber förderlich als einem bedürftigen.“
„Werde ich Berührungspunkte mit den Herrschaften haben? Werde ich ihnen auch gefallen?“ fragte sie nachdenklich.
„Das ist ziemlich gleichgültig. Es braucht auf diesem einen Tag des Beisammenseins ja kein Verkehr zu erwachsen, wenn beide Theile sich nicht sympathisch sind. Ich sah aber nur auf diese Weise die Möglichkeit, Sie einmal in die herrliche Gegend hinauszuführen.“
„Wie gut Sie sind zu mir! Und das alles nur aus Pietät für den Wunsch eines Verstorbenen! Wenn Ihnen dieser Wunsch so wichtig ist, daß Sie ihn so liebevoll erfüllen, begreife ich nicht, daß Ihnen die hinterlassenen Briefe so unwichtig sind. Sie haben noch immer nicht darin gelesen,“ sagte sie fast vorwurfsvoll.
„Sie doch auch nicht!“
„O – es sind Briefe von Ihrem Vater,“ sagte sie abwehrend.
„Aber an Ihre Mutter gerichtet! Lassen wir sie einstweilen noch ruhen. Es findet sich ein Tag, wo wir sie lesen – aber dazu muß man gestimmt sein, heute bin ich es nicht.“
Er stand auf.
„Sie wollen fort?“
„Ja – heute duldet es mich selbst hier nicht. Ich habe viel zu denken und brauche Einsamkeit,“ sprach er, mit zerstreutem Blick zur Allee hinübersehend. „Also morgen früh um zehn Uhr sind Sie am Viktoriahotel. Wir fahren zwar fast an Ihnen vorbei, aber ich finde es, anstatt eines Besuches, den Sie nicht machen sollen, doch so höflicher, wenn Sie am Hotel sind.“
„Gewiß, und ich werde mich von Lene dahin begleiten lassen.“
Er hörte nicht. Er stand und starrte nach der Allee hinüber.
[342] War da nicht ein Wagen gefahren, in welchem eine blasse Frau und ein zarter Knabe saßen?
Die Entfernung war zu weit, genau erkennen konnte man niemand.
Alfred starrte dem Wagen nach, der in der Richtung nach Lichtenthal fuhr.
„Adieu!“ sagte er, „adieu!“
Er ging mit hastigen Schritten davon, und doch blieb er draußen auf der Straße stehen, es war ihm plötzlich bleischwer in die Füße gefallen. Wenn er nun um die Ecke bog, über die Brücke in die Allee ging – und der Wagen, in dem „sie“ saß, kehrte gerade zurück? Fast tappend ging er weiter, nicht das schattige Jenseitufer suchend, sondern auf der sonnigen, staubigen Straße vorwärts strebend.
Wenn ein Wagen hinter ihm rollte und ihn einholte, schrak er zusammen und hatte das Gefühl, sich an der Mauer neben sich halten zu müssen. Auf seiner Stirn perlten Schweißtropfen.
Allmählich beflügelte sich sein Schritt und ward fast zum Lauf. Nur heim, nur in die Sicherheit seiner vier Wände – nur der Möglichkeit entrinnen, ihr zu begegnen!
Sein Herz schlug in so beschleunigtem Takt, daß noch Stunden vergingen, ehe er sich faßte. Jede Bestrebung, durch Arbeit oder Lesen sich zu betäuben, war umsonst. Immer wieder sah er plötzlich den fernrollenden Wagen vor sich und das Phantom zweier blassen Gesichter, und immer begann der kaum geebnete Herzschlag von neuem rasend zu jagen. Die Enge des Zimmers bedrückte ihn.
Er suchte die Straße, die er vorhin geflohen hatte. Die unreine Luft des Sommertages zwischen Stadtmauern drückte ihn unerträglich. Er nahm einen Wagen und ließ sich zur Schloßruine hinauffahren.
Die lange Abenddämmerung hatte schon begonnen. Er liebte die satte Ruhe, die mit dem langsam hinsterbenden Tageslicht sich über die sommermüde Natur breitet. Er empfand dann mit vorahnender Wehmuth, daß nach all den gluthvollen Empfindungen des Lebenssommers auch für den Menschen eine Stunde kommen mag, wo der Abendfriede in die Seele einzieht.
Unter den Schatten des Waldes wandelte sich die Dämmerung fast schon in Nacht. Nur wenn die in großen Schlangenwindungen sich den Berg hinaufziehende Fahrstraße Stellen durchschnitt, wo der niedere Waldbestand abgeholzt war, sah man vereinzelte Riesentannen sich haarscharf und schwarz von dem lichtgrauen Himmel abheben.
Oben, in der Restauration, die sich an und zwischen die gigantischen Burgtrümmer geklemmt hat, war viel und lustige Gesellschaft. Man erwartete Mondschein, und die vergnügten Menschen brachten ihre Zeit bis dahin mit Essen und Trinken zu.
Auch Alfred versuchte zu Abend zu speisen, aber die laute Nachbarschaft an den Tischen rechts und links verdarb ihm den Appetit. Uebermuth, an dem man selbst nicht theilnimmt, erscheint einem abgeschmackt und kindisch.
Es war nun völlig dunkel geworden. Alfred zahlte seine Zeche und ging in die Schloßruine hinauf. Die dunklen, schmalen Treppen, die da zwischen rothgrauen Mauerkolossen von Stockwerk zu Stockwerk, von Galerie zu Galerie steil emporführen, waren ihm wohlbekannt. Er tastete sich vorwärts und aufwärts. Da und dort sah der besternte Abendhimmel durch die leeren Fensterbogen und gab ein unsicheres Licht.
Endlich war er auf der obersten Galerie. Die Bäume aus dem Burghof und dem einstigen Festsaal ragten mit dunkeln Wipfeln aus der inneren Tiefe kaum bis hierher. Ein wild ausgezackter Mauerrand, der an einigen Stellen noch so hoch war, daß die Fensterbogen in ihm unverfallen ihre edlen Linien zeigten, umschrankte schützend die Höhe.
Alfred lehnte sich an den Rand und sah in die sich erhellende Nacht hinaus. Seitwärts von ihm ragte massig der andere Theil der Ruine, welchen der viereckige Wachtthurm krönte, von dem tags die roth-gelbe Fahne wehte, die Fahne, an welcher der süße geliebte Knabe sich erfreut. O, daß ihn alles, alles daran mahnen mußte!
Tief im Thal, in das man über die sich niedersenkenden Waldesbreiten hinweg sah, blinkten die Lichter von Baden auf. Ein weißlicher Dunst lag da unten und nahm jetzt gespenstischen Silberglanz an. Der Mond war hinter der Wolkenbank am Horizont emporgekommen. Sein blinkendes Halbrund schien blitzschnell am Himmel hinzufliegen, weil unter ihm silberweiß umsäumtes Gewölk vor dem Winde jagte. Schwarz und groß erhoben sich die zerrissenen Mauertrümmer vor dem Glanz, der in ungebrochener Fülle durch die hohlen Fenster kam und schneebleich auf dem Estrich lag. Ein summender klagender Ton schwoll zuweilen an und verklang. Die Aeolsharfen erzitterten im Winde.
Die schöne Größe dieser Nachtstunde überwältigte den einsamen Mann. Er legte sein Gesicht in die Hand. Ihm war, als müsse er weinen und mit den Thränen die Todeskälte erweichen, die ihm im bangen Herzen saß.
Wenn er hier in diesem schönheitsgesegneten Augenblick mit ihr stände! Wie würden sie es zusammen genießen! Ob sie wußte, wie er litt?
Sein Auge suchte die ihm wohlbekannte Stelle, wo sein Haus, jetzt das ihre, sich an den Waldessaum lehnte. Da – gerade gegenüber – da war’s – jenes Licht, das ruhevoll von der jenseitigen Bergeswand blinkte – es brannte auf der Veranda und leuchtete ihr in das bleiche, geliebte, gehaßte Gesicht.
Sein Herz schlug wieder bis zur Unerträglichkeit.
Plötzlich dachte er an Germaine und wie auch sie allein beim Lichtschein saß. Wer wußte, ob nicht gerade in diesem Augenblick beide Frauen seiner dachten? Er wurde ganz ruhig, die Sorgegedanken, was aus dem Mädchen werden sollte, beschäftigten ihn ablenkend. Er wußte, daß es vielleicht unmöglich sei, eine für sie passende Stellung zu finden, da es ihr an einer bestimmten Berufskenntniß fehlte. Und da sie auf einen glücklichen Zufall nicht warten wollte, was sollte werden?
Das Licht drüben zog ihn wieder an. Ja, wenn er nicht für ewig und in unauslöschlichem Zorn von Gerda geschieden wäre – bei ihr hätte Germaine Pflichten und eine Heimath finden können.
Germaine war so recht geschaffen, wie ein Geist des Friedens in einem Hause zu walten. Sanft, freundlich, immer gleichmäßig – ihr ganzes Wesen eine Wohlthat. Am besten wäre es für ihn und sie, wenn sie zusammenbleiben könnten. Aber das ging nicht, außer sie wurden Mann und Weib. –
Das Licht da drüben – dies unerträgliche Licht! – Er wandte sich ab und ging zurück, um in das Waldthal hinter der Burg hinabzusehen.
Und warum nicht heirathen, wenn Germaine mit herzlichem Vertrauen und brüderlicher Gesinnung zufrieden war? Die Frage stand ihm frei. Wie alles zwischen ihnen lag, konnte ihr „Nein“ ihre Freundschaft nicht stören und sie somit nichts verlieren.
Eins fühlte er ganz klar – es mußte ein Ende gemacht werden.
Wieder zog es ihn gewaltsam, nach jener Stelle zu gehen, wo er das Licht sehen konnte. Lange starrte er hinüber.
„Einen Abgrund muß ich schaffen zwischen Dir und mir,“ dachte er, „über den keine Sehnsucht und keine Reue den Weg mehr findet.“
Stimmen und Gelächter schollen jetzt störend in seine mondscheinumflossene Einsamkeit. Er verließ schnell die Galerie und stieg abwärts, den Heimweg antretend.
Wie zwischen schwarzen Mauern ging der Fußweg durch den Wald bergab. Durch die ragenden Wipfel fanden silberne Strahlenbündel oft unterbrochene Wege, den Pfad und das Buschwerk mit Lichtflecken ungleich zu besäen.
Die nächtige Waldesruhe wirkte wundervoll auf den stillen Wanderer. Ihm schien es jetzt, als sei der Entschluß, Germaine zu seinem Weibe zu machen, nicht auch dem aufquellenden Zorn und Trotz, als sei er einzig dem tiefen Friedebedürfniß seines Herzens entsprungen. In diesem Entschluß fühlte er sich gesunden, fühlte er sich männlicher. Ihm war Ziel und Zweck in das Leben gekommen. Und seit damals – seit er von ihr geschieden, war seine Seele heimathlos in der Irre gegangen.
Die sechssitzige Break, in welcher man die Tour nach Gernsbach machen wollte, stand schon über zwanzig Minuten wartend vor dem Hotel. Alfred war in das Haus gegangen und Germaine wanderte langsamen Schrittes auf dem Bürgersteig vor dem Hotel hin und her, ihre alte Dienerin neben sich, die mit ihrem weißen Haar und sauberen Anzug einen würdigen Eindruck machte. Die Alte trug den Mantel ihres Fräuleins, sie war so vergnügt, als sollte sie selber eine Lustfahrt machen.
[343] Endlich erschien Alfred wieder, von dem Ehepaar Ravenswann begleitet. Er stellte die Damen einander vor und freute sich über die sichere Haltung Germaines.
„Verzeihen Sie nur, daß wir so s-pät herunterkommen, aber Jettchen – ich meine unsere Freundin Frau Doktor Schneider – ist nie zur rechten Zeit fertig,“ sagte Marie, abwechselnd die alte, bescheiden abseits stehende Frau und das junge Mädchen ansehend. Beide schienen ihr zu gefallen, denn ihre Miene und ihr Ton waren weniger steif als sonst Fremden gegenüber.
Ravenswann begrüßte das Fräulein mit schweigsamer Höflichkeit. Ihm waren Fremde, und besonders fremde Damen, ganz egal, er fing erst an, die Leute zu beachten, wenn sie in den Kreis seiner Interessen traten; zu den ihrigen bemühte er seine Gedanken nie.
Als Frau Doktor Schneider dann erschien, strahlte sie aber auch im Glanz eines himmelblauen Sommerkleides, dessen gehäkelte Spitzenverzierung sie selbst gefertigt hatte. Und ihren blonden Locken, die unter einem kleinen weißen Strohhut hervorquollen, sah man es an, daß jede einzeln soeben um ein Lockenholz gewickelt worden war, denn sie lagen wie Röhren übereinander. Das vorstrebende Gesicht der „jungen“ Frau wandte sich mit verbindlichem und neugierigem Lächeln Germainen zu. Auf Herrn Doktor Schneiders Stirn lag noch die Wolke eheherrlichen Zornes über die sich zu lange putzende Frau.
Man stritt hin und her, ob die Damen alle drei auf der einen, die Herren auf der andern Seite sitzen sollten. Frau Marie setzte es durch, daß sie und Germaine mit Alfred zwischen sich die eine Seite einnahmen. Germaine nickte ihrer Alten noch freundlich zu, und dann ging es fort.
Dieser Zwang, seitwärts fahrend mit fünf anderen Menschen in demselben Gefährt zu sitzen, war für Alfred entsetzlich. Obenein sprachen alle durcheinander, wobei sich jedes bemühte, das Räderrollen zu übertönen. Schneider hatte den Kaffee im Hotel sehr gut, Ravenswann ihn sehr schlecht gefunden, denn er fand grundsätzlich außerhalb seines eigenen Hauses alles sehr schlecht. Dann sprach man über die vermuthlichen Preise der Zimmer, erinnerte sich verschiedener Rechnungen anderer Gasthöfe bei anderen Reisen, erzählte Alfred, wo und was man gestern abend gegessen, und fragte, wo er abends zu speisen pflege.
„Aber sehen Sie doch die ‚Fischkultur‘,“ sagte Alfred, auf das reizende, tief im Waldthal traulich eingebettete Haus zeigend, das man eben rechts liegen ließ.
„Wirklich entzückend! Dort werden Forellen gezüchtet? Ich habe gestern abend welche gegessen, aber ich muß sagen, ein Seefisch ist mir lieber, und dann 2 Mark 50 die Portion – wenn ich eine S-peise so theuer bezahlen soll, von der ich nicht einmal satt werde, das macht keinen S-paß mehr.“
Der Weg wand sich durch den Hochwald empor. Saftige Wiesenthäler blinkten zwischen Waldlücken auf. Ein heiterer Himmel blaute und die Straße zeigte in seinem Glanz ihre erhabenen, frommstimmenden Schönheiten.
Das Gespräch im Wagen verstummte doch allmählich. Selbst die verschlossensten Herzen mußten sich dem Zauber der Gegend erschließen.
Nur Marie Ravenswann, die sonst von den vier Reisegenossen noch am meisten Sinn für Natur hatte, beachtete weder Wald noch Thal. In ihrem Kopf brütete sie allerlei Pläne aus. Sie gehörte zu den Frauen, die keinen jungen Mann und kein junges Mädchen nebeneinander sehen können, ohne sogleich die Möglichkeit einer Heirath zwischen beiden zu erwägen. Germaine, die noch keine zehnmal und nur ganz konventionelle Dinge gesprochen hatte, gefiel ihr ungemein. Wahrscheinlich gerade, weil sie weder Geist noch Lebhaftigkeit gezeigt und somit weder Frau Mariens Urtheil noch Widerspruchsgeist herausgefordert hatte; auch bekam Frau Marie nicht das Unbehagen, welches schwerfällig Denkende immer den Leichtbeweglichen gegenüber befällt. Aber natürlich war ihr dies alles nicht bewußt.
Ferner hatte sie wohl bemerkt, daß der Verkehr zwischen Alfred und dem schönen Mädchen freundlich, aber ganz unbefangen ruhig war. Sie hatte scharf aufgepaßt, und es wäre ihr wohl das leiseste verdächtige Wimpernzucken nicht entgangen. Hätte sie Liebe zwischen beiden gewittert, würde es sie feindselig gestimmt haben. Bei ihrer großen Theilnahme für Alfreds Gefährlichkeit und Erziehungsbedürftigkeit fand sie eine Heirath für ihn segenverheißend. Eine ruhige vernünftige Heirath, unter dem rathenden Beistand einer erfahrenen Frau.
Dies stille, bescheidene Mädchen schien ihr wie für ihn geschaffen. Daß es eine Waise war, däuchte ihr nur vortheilhaft. Sie – Marie – würde gern den jungen Hausstand einrichten helfen und Germaine, die gewiß nichts von der Küche verstand, auch zulehren.
Als der Wagen rasselnd durch die langgestreckte Ortschaft fuhr, schreckte Marie aus ihrem Sinnen auf, mit dem fertigen Entschluß, diese Heirath zustande zu bringen, wenn es irgend anginge.
Das Ziel der Fahrt, das Pfeiffersche Badhotel, lag am Ende des Ortes, am Fuß des niedersteigenden Waldes, zwischen diesen und die rauschende Murg eingeklemmt.
Ravenswann und Schneider, die sich im Stillen gefürchtet hatten, ein Dorfwirthshaus zu finden, waren angenehm enttäuscht, zu hören, daß sie in dem großen und vorzüglich geführten Hotel um ein Uhr an einer Table d’hote speisen konnten.
Aber bis dahin war noch eine Stunde. Alfred führte die Herrschaften in den tieferliegenden Garten. Dort, am Ufer, gab es unter ragenden Bäumen genug kühlschattige Stellen.
„Ein idealer Platz,“ sagte Schneider, auf eine herrliche Tanne deutend, unter deren dachartig ausgebreitetem Gezweig ein Tisch und vier Stühle standen, „ideal für eine Skatpartie.“
„Ach ja,“ rief seine Frau, „laßt uns bis Mittag spielen!“
Ravenswann war kein so eifriger Spieler, denn er hörte sich zuweilen gern sprechen, aber er erklärte sich bereit, wenn man hier Karten fände. Schneider hatte die für die Reise mitgenommenen in der Brusttasche seines Rockes. Zwischen den Frauen entspann sich ein Streit der Selbstlosigkeit. Jede wollte der anderen das Vergnügen gönnen. Doch blieb Marie Siegerin; nachdem sie ihrer Freundin zugeflüstert, daß sie doch ab und zu ein Auge auf Germaine und Alfred haben müsse, nahm Frau Schneider gern das Opfer an.
„Ich gucke zu, wenn Ihr s-pielt,“ sagte Marie, „das ist auch sehr unterhaltend.“
Alfred wandelte mit Germaine am Rasensaume des Ufers entlang. Drüben hügelte sich das Land bis zu blauen Waldfernen empor. Die breite Murg kam mit einer plötzlichen Wendung um den bewaldeten Berg, dessen Gipfel das Ebersteinschloß krönte, und sprudelte krystallklar, schaumige Wellchen vorwärts wirbelnd, dahin. Das eintönige, unendliche Geräusch des brausenden Wassers, das gerade hier noch über ein das flache Flußbett schräg durchschneidendes Wehr fiel, tönte durch die Luft wie ein heiteres Lied.
Die Sonne zauberte braungoldige Lichtreflexe auf die bewegliche Fluth. Die schwanken Erlen am Ufer neigten ihr Gezweig hinein, das schnelle Wasser streifte die zarten grünbelaubten Reiser alle in der Richtung stromabwärts, wie der Wind das Laub nach einer Seite streicht.
Germaine seufzte tief auf. Er verstand, was das Seufzen sagen wollte.
„Ja,“ sprach er, „hier ist die Welt himmlisch friedlich und himmlisch heiter. Kein Laut des treibenden Lebens dringt hierher. Es erscheint wie ein Märchen, daß dies Asyl so dicht neben der lärmvollen großen Straße liegt. Eine Stunde von hier – und wir sind wieder auf dem breiten Weg, auf dem die Menschen von Norden nach Süden aneinander vorbeijagen. Sagen Sie es mir hier noch einmal, ob Sie wirklich den Muth haben wollen, aus der Stille Ihres Frauendaseins, das schön und lieblich sein sollte wie diese Landschaft, hinauszutreten in die Welt des Erwerbes, die schmutzig, ruhelos, unbehaglich, fremd ist wie die große Reisestraße, die unfern an diesen Thälern vorbeizieht.“
„Da ich den Muth haben muß,“ sagte sie ruhig, „werde ich ihn finden, wenn ich ihn brauche.“
„Haben Sie an keine, gar keine andere Lösung der Frage gedacht, die uns beschäftigt?“ fragte er und sah sie ernst an.
Auf ihrem Angesicht zeigte sich ein feines Roth. Sie zögerte einige Sekunden. Dann sah sie ihn gerade an, freimüthig und ehrlich.
„Meine Mutter,“ sagte sie, „legte ein zu großes Gewicht auf die Begegnung zwischen uns beiden, sie zeigte eine zu fieberhafte Spannung auf den Augenblick, wo wir uns sehen sollten, als daß ich mir nicht hätte Gedanken darüber machen müssen. Ja, müssen! Es giebt nur eine Erklärung, scheint mir, die, daß unsere Eltern eine Verbindung zwischen uns wünschten. Aber von der Stunde an, wo wir zum erstenmal miteinander sprachen, habe ich begriffen, [346] daß der Wunsch der Todten die Herzen der Lebenden nicht lenken konnte.“
Sollte das heißen, daß sie gefühlt, er habe damals nicht mit freiem Herzen vor ihr gestanden? Daß sie ahne, er liebe sie auch heute noch nicht? Oder, daß sie selbst keine Liebe für ihn zu empfinden vermöge?
Auf den Grund ihres allezeit beherrschten Wesens zu sehen, war so schwer.
Er dachte nach und fand nicht klar heraus, was sie gemeint haben konnte.
„Auch ich,“ begann er, „habe geglaubt, aus den Zeilen Ihrer Mutter an mich diesen Wunsch zu lesen. Sollte es denn ganz unmöglich sein, ihn zu erfüllen? Glauben Sie, daß die liebevolle Achtung, die wir voreinander haben, das innige Vertrauen, nicht bessere Fundamente für eine Ehe bilden als eine heiße Leidenschaft? Germaine, ich habe gestern abend in langen und ernsten Erwägungen den Entschluß gefaßt, Sie um Ihre Hand zu bitten und die Versicherung hinzuzufügen, daß, wie auch Ihre Antwort sei, ich Ihr Freund bleibe.“
„Das heißt – Sie sind auf das ‚Nein‘, das ich sprechen muß, vorbereitet gewesen,“ antwortete sie mit wehmüthigem Lächeln. „Ich würde ein großes Unrecht an Ihnen, vielleicht auch an mir selbst begehen, wenn ich mich aus Mitleid mit meiner Lage und nur aus Pietät gegen zwei Abgeschiedene heirathen ließe. In Ihren Jahren bindet man sich nicht ohne Illusion. Zu einer Vernunftehe ist noch Zeit, wenn Ihr Herz sich mehr nach Ruhe als nach Glück sehnt.“
„Und wenn diese Zeit schon für mich da wäre? O Germaine, welche seltsame Werbung!“ rief er und ergriff ihre Hand. „Ich will Ihnen etwas gestehen; aber zuvor sagen Sie mir: giebt es in Ihrem Herzen einen Grund, der Ihnen dies ‚Nein‘ diktiert?“
Sie sah, wie blaß und erregt er war. Sie fühlte auch, daß vollkommene, schmucklose Offenheit ihre Pflicht sei.
„In meinem Herzen? Nein! Ich liebe niemand und niemand hat sich mir bis jetzt genähert mit der bemerkbaren Absicht, mein Herz und meine Hand zu erobern. Ich hatte keine Zeit, Männer kennen zu lernen oder von ihnen kennen gelernt zu werden. Die Krankheit meiner Mutter und unsere Armut waren stets eine Schranke zwischen der Welt und mir. Dies ist mein erster Heirathsantrag. Und nicht die Liebe, sondern die Vernunft richtet ihn an mich. Ich könnte ‚ja‘ sagen – gewiß, ich könnte es, obgleich ich glaube, daß die herzlichen Gefühle, welche ich für Sie hege, schwesterliche Neigung, aber keine Liebe sind. Ich fühle, daß ich Ihnen etwas sein könnte. eine Gefährtin, welche Sie versteht und Ihnen das Leben so einrichten kann, wie es Ihrem unruhigen Seelenleben am wohlthuendsten wäre. Wundern Sie sich nicht, daß ich so überlegt von diesen Dingen spreche – meine Mutter hat die Frage von glücklicher und unglücklicher Ehe leider zu viel mit mir besprochen. – Auch meine wahrhaft hilflose Lage, die vielleicht bald eine verzweifelte werden kann, wenn ich keinen Verdienst finde, sollte mich bestimmen, ‚ja‘ zu sagen, denn Sie sprechen keine Liebeslügen und wollen keine hören. So verkaufe ich mich auch nicht, wenn ich mich Ihrer Fürsorge anvertraue. Und dennoch sage ich ‚nein‘, weil mein Dank, den ich Ihnen schulde, nicht der sein soll, Sie für immer an ein ungeliebtes Weib zu fesseln, dessen Sie sich aus Mitleid erbarmten.“
Ohne alle Leidenschaft hatte sie gesprochen, aber ihm däuchte es doch, als bebte ein schmerzlicher Ton durch ihre Worte. Vielleicht war ihr hartes und hoffnungsloses Schicksal ihr erst so recht klar geworden, während sie zu einem andern davon sprach. Vielleicht drängte sich ihr auch die Frage auf: wird mir je der Mann begegnen, dessen Werbung ich mit heißer Liebe annähme?
„Nun denn, Germaine,“ sagte Alfred und blieb stehen, weil sein Herz wieder so zu schlagen begann wie gestern, als er „sie“ zu sehen geglaubt, „nun denn, so hören Sie die Wahrheit! Nicht aus Mitleid bat ich: ‚Werden Sie meine Gattin;‘ nein, aus Selbstsucht – falls man es noch Selbstsucht nennen kann, wenn ein Ertrinkender sich an jemand klammert, der des Schwimmens kundig ist und mit dem er das sichere Ufer zu erringen hofft. Mein ganzes Inneres ist von einer Leidenschaft für eine Frau erfüllt – ich weiß nicht, ist es Liebe oder Haß. Wie eine Flamme lodert das in mir und verbrennt alle Kraft, alle Lebensfreude; mit ihrem glühenden Schein durchleuchtet sie jeden meiner Gedanken, nur noch in ihrem Lichte sehe ich alle Erscheinungen der wirklichen Welt. Und diese Frau, ich weiß es, sie ist von demselben Feuer verzehrt. Es gab eine Zeit, da glaubten wir uns bezwingen, meistern, umbilden zu können. Wir versuchten zusammenzugehen. Ueber ein Jahr lang haben wir so in Leidenschaft mit und von einander die Möglichkeit eines Zusammenlebens zu erkämpfen gesucht. Es war alles umsonst. Es war, als ständen wir an einem kleinen, kaum sichtbaren Felsenspalt – sie hüben, ich drüben. Wir neigten uns innig zu einander, aber dann quoll aus dem Abgrund ein vulkanisches Feuer auf und trennte uns mit Entsetzen. Und nun ist es aus für immer, und es ist und soll hoffnungslos sein, auch für immer. Aber ich könnte ohne sie nicht leben, wenn ein Engel voll Güte und Geduld, wenn Sie, Germaine, sich nicht meiner erbarmte. In Ihrer Nähe allein ist der Frieden.“
Sein Auge war feucht geworden. Er küßte die Hand des Mädchens.
Das Unglück hatte so wahr und so deutlich aus seinen Worten und seinen Zügen gesprochen, daß Germaine sich sehr ergriffen fühlte. Sie verstand, daß sie ihm wirklich nöthig war.
„So scheint es denn,“ sagte sie bewegt, „als wenn die Noth des Lebens uns zusammen führen wolle und uns aufeinander anweise. Ich brauche den Mann, der mich vor dem Kampf mit dem Dasein schützt, Sie brauchen das Weib, das Sie vor Verzweiflung rettet. Wahrlich, ein sonderbarer Bund! Aber hier ist meine Hand. Wir wollen hoffen, daß uns doch aus der Verbindung mehr erwächst als bloß ein zufriedenes Leben nebeneinander. Eins erleichtert mir meinen Entschlunß, die Wahrhaftigkeit, das Vertrauen und die herzliche Neigung, welche zwischen uns herrscht.“
Er ergriff in aufwallender Dankbarkeit ihre beiden Hände.
„Ich schwöre es Ihnen: soweit es in meiner Macht steht, sollen Sie diese Stunde nicht bereuen! Sie wissen, Germaine, ich kann Ihnen nur ein bescheidenes Loos bieten. Mein Einkommen, für einen Mann mehr als auskömmlich, wird einem Ehepaar nur ein mannigfach beschränktes Leben gestatten. Aber ich fühle, es ist meine Pflicht, für das Behagen unseres Herdes zu arbeiten. Mein neuer Lebensplan auch dazu ist fertig.“
„Was habt Ihr beide denn so furchtbar wichtig zu verhandeln?“ fragte Marie Ravenswann, die vom Kartentisch aus erst den Handkuß, dann den innigen Händedruck gesehen hatte und nun vor Neugier sich nicht einmal durch den grand ouvert halten ließ, den Schneider gerade spielte.
„Wir,“ sagte Alfred mit schnellem Entschluß, „wir sind eben übereingekommen, uns zu heirathen. Wir vertrauen dies Ihnen und zunächst nur Ihnen an.“
„O!“ rief Frau Marie erfreut, „ich habe unterwegs immerzu gedacht, daß Fräulein Thomas wie für Sie bestimmt wäre. Nein, wie mich das freut!“ Und sie umarmte Germaine.
„Es liegen außerordentliche Verhältnisse vor, die außerordentliche Lösung verlangen,“ fuhr Alfred fort, „Germaine ist vollkommen vereinsamt, ein Brautstand würde Unbequemlichkeiten für sie und mich schaffen, die mehr als lästig wären. Die schnellste Heirath ist das Richtigste.“
„Natürlich, natürlich,“ sagte Frau Marie eifrig, „das finde ich auch.“
„Es ist mein lebhafter Wunsch, Baden zu verlassen. Ich kann Germaine nur mitnehmen, wenn sie meine Frau ist. Deshalb, liebe Germaine, wie denken Sie über den Vorschlag? Ich bestelle morgen das Aufgebot, in drei Wochen lassen wir uns standesamtlich verbinden und reisen dann nach Berlin, wo die kirchliche Einsegnung stattfinden soll.“
„Gewiß,“ sagte Germaine freundlich, „so soll es sein.“
Frau Marie, welche diesen Verlauf der Sache abenteuerlich, überspannt, ja verdächtig gefunden haben würde, wenn sie ihn hinterher als Unbetheiligte erfahren hätte, fand ihn nun, als Vertraute, natürlich interessant und sehr rührend. Sie sagte, von ihrem Standpunkt aus in naiver Versicherung:
„Und wenn die Leute nachher darüber schlecht s–prechen wollen, Kinder, ich halte Euch die S–tange. Bloß das eine begreife ich nicht, weshalb hier nicht auch die kirchliche Trauung s–tattfinden soll. Ich hätte gern dem Fräulein den Brautkranz aufgesetzt, denn ich denke, wir sind in drei Wochen noch hier.“
Germaine küßte ihr dankbar die Hand und gewann sich durch diese Form, ihr ergebenes Gefühl zu zeigen, vollends das Herz Mariens.
[347] Alfred suchte nach irgend einem Grund zur Ablehnung. Er wußte keinen. Wie ein Traumgesicht ging fern vor seinem geistigen Auge ein bräutlich gekleidetes Weib durch Kirchenhallen. Aber das Weib war nicht blond und nicht so hochgewachsen wie Germaine – – ah, vorüber, vorüber!
„Ich habe einen theuren Freund,“ sagte er endlich, zu Germaine gewandt, „der wenigstens an dem weihevollen Nachspiel unserer rechtmäßigen Verbindung als Zeuge theilnehmen soll. Auf dem Standesamt werden Ravenswann und mein Notar mir gewiß diesen Dienst erweisen. Nicht wahr, meine gnädige Frau, Sie werden Ihren Gatten darum ersuchen, wenn die Zeit da ist? Sobald die Formalitäten erledigt sind, denke ich eine Reise anzutreten und erst am Tage unserer Verbindung zurückzukehren.“
„Das finde ich sehr passend.“ lobte Frau Mietze, „wir nehmen uns dann der kleinen Braut an. Der Freund, von dem Sie s–prechen, ist wohl S–teinweber? S–teinweber ist auch wirklich ein netter Mensch, er hat so was furchtbar Solides.“
„Ja, Marbod Steinweber ist mir der Bruder geworden, den die Natur mir versagt hat,“ sprach Alfred, innig von dem Wunsche bewegt, daß Marbod billigen möge, was er gethan.
„Marbod Steinweber?“ fragte Germaine. „Mir ist, als habe ich den Namen schon gehört.“
„Es ist der Schriftsteller. Sie werden von ihm gelesen haben,“ meinte Alfred.
„Doch nicht. Wäre es möglich, daß ich dem Herrn einmal in Schwalbach begegnet sein könnte? So viel ich mich erinnere, eine ernste Persönlichkeit mit dunklem Haar, energischen Zügen und denkendem Blick?“ fragte Germaine, in ihrem Gedächtniß suchend.
„Die Beschreibung s–timmt.“
„Aber er ist jahrelang im Ausland gewesen, was er in Schwalbach zu thun gehabt hätte, weiß ich nicht.“
In diesem Augenblicke erschallte die Tischglocke. Die Spieler beriethen eifrig über die Möglichkeit oder Unmöglichkeit, die Partie so zu beenden, und beschlossen, nach Tische noch einige Runden zu machen.
An der Tafel lernte Germaine den Mann, dem sie sich anverlobt hatte, von einer neuen Seite kennen. Zum erstenmal seit Wochen fand Alfred die Stimmung zu seinen Scherzen, Anekdoten, Neckereien. Wenn auch seine Zuhörer zu den Leuten zählten, die eine Pointe immer erst auf dem Wege des Nachdenkens einige Minuten hinterher verstanden oder sich untereinander gar erklärten, so wurde das Lachen an ihrer Tischecke doch recht lebhaft. Auch Germaine lachte mit. Alfred hatte sogar, wieder einige kleine Bosheiten, für Frau Mietze auf seiner scharfgeschliffenen Zunge, aber sie nahm heute nichts mehr übel und dachte sogar bei Bemerkungen, die sie nicht verstand – und die waren es, welche sie sonst am meisten übelnahm – „was sich liebt, das neckt sich.“
Aber bei dem allem war es Alfred, als hörte er noch ein anderes, wohlklingendes Lachen, das seinen übermüthigen Einfällen stets augenblicklich zu folgen pflegte. Und ihm war es, als hänge ein dunkles Auge, leuchtend in Fröhlichkeit, an seinen Lippen.
Und sein Uebermuth stieg und sein Lachen wurde lauter. Germaine aber fühlte, wie er sich an seiner eigenen Unterhaltungsgabe berauschte, und das Lachen auf seinen Lippen verbarg ihr nicht, woran sein Herz immer dachte.
[357]
Daß Tage so lang, so endlos lang sein können, hatte Gerda nie gewußt. Bis zu dieser Zeit war ihr Leben so ausgefüllt gewesen von hundertfältigen Dingen, daß sie die Stunden, welche ihrem Knaben gehört hatten, immer hatte vertheidigen müssen gegen zahllose Anforderungen, die sich als wichtig gebärdeten.
Ein großer Kreis von Freunden hatte sich schon, als ihr Gatte noch lebte, daran gewöhnt gehabt, in ihr den allezeit rath- und thatbereiten Schutzgeist zu sehen. Ihre litterarischen Freunde erwarteten ein förderndes und ehrliches Urtheil über neu von ihnen herausgegebene Bücher. Dafür mußte sie so viel lesen. Ihre musikalischen Freunde wollten ihr zuerst Neuschöpfungen vortragen. Dafür mußte sie Zeit opfern, um zu hören. Dann war dieser und jener verreist und wollte in der Ferne gerade nur von ihrer Feder die Ereignisse von daheim geschildert lesen. Oder es gab Patienten, und sie mußte pflegen helfen. Besuche kamen jeden Tag. Die Zeit flog wie ein Wirbelwind vorüber, und oft klagte Gerda: „Vor lauter kleinen Pflichten komme ich kaum noch zur Erfüllung meiner großen Pflicht.“ Aber in der That begleitete sie bei allen Dingen immer der fürsorgende Gedanke für ihren Knaben, und ihr Leben voll weltlicher Interessen hatte seine junge Seele doch um nichts gebracht. Seine Ernährung, seine Beschäftigung, die Eindrücke, die von draußen zu ihm kamen, waren Gegenstand ihrer fast angstvollen Aufmerksamkeit, Sie hatte auch sechs Jahre lang die Hoffnung hegen dürfen, daß sein überzarter [358] Körper doch die Gewalt seines überthätigen Geistes ertragen werde. Aber wie seltsam! Hier in der Einsamkeit, wo seine Mutter die ihm gewidmeten Stunden nicht mehr ihren gesellschaftlichen Anforderungen abzuringen brauchte, sondern ganz ihm lebte, hier wurden seine Wangen immer schmäler, seine großen Augen immer leuchtender. Oft klagte er, daß er nichts anzufangen wisse, obgleich seine Mutter sich in der Erfindung von spielender oder belehrender Beschäftigung erschöpfte. Auch ihm wurden die Tage endlos lang. Und oft geschah es, daß beide langsam verstummten, daß beiden das Spielzeug aus den Fingern entsank und daß beide dann still träumend aneinander geschmiegt dasaßen.
Eine geheimnißvolle Gleichheit der muthlosesten Trauerempfindung umspann Mutter und Kind. Aber nach solchen stummen bangen Minuten raffte Gerda sich gewaltsam wieder auf. Sie war nicht das Weib, im stummen Jammer wehrlos zu vergehen.
Das kränkliche alte Fräulein befand sich bei dem neuen Leben am besten. Jedermann hatte jetzt Zeit für sie und ihre zahllosen Pflegebedürfnisse. Mit nie ermüdender Geduld erfüllte Gerda ihr alle Wünsche. Das Kind störte nicht mehr durch Lärm.
Daß Gerda und der Knabe beide blaß und gramvoll aussahen, bemerkte sie nicht. Jeden Tag lobte sie die Ruhe, die eingekehrt sei, und pries das Geschick, daß zwei so unverträgliche Menschen sich noch rechtzeitig getrennt hätten. Daß sie es „schon immer gesagt hatte“, war eine Thatsache, auf die sie sich befriedigt berief. Obenein war ihr noch ein Mittel schlecht bekommen, das Alfred ihr empfohlen hatte, zu versuchen, und dies erstickte jedes Wohlwollen für ihn. –
Auf schweigsamen Spaziergängen, welche Gerda mit dem Knaben unternahm, lebte sie in Gedanken jede Stunde noch einmal durch, die sie zusammen mit Alfred gesehen. Nun war es schon über ein Jahr, seit sie sich zuerst begegnet waren, und diese erste Begegnung war ihnen gleich eine bedeutungsvolle geworden. Der erste Händedruck, den sie gewechselt, hatte ihnen schon gesagt, daß sie sich niemals gleichgültig gegenüber stehen könnten. Und seitdem, in der ganzen Reihe unglücklich-glücklicher Tage, hatte ihr Leben nur noch einen Inhalt gehabt: ihn!
Das Verwaistsein ist entsetzlich. Oft hatte Gerda Stunden, wo sich die dumpfe gedankenlose Schwere, die wie ein tödtender Druck auf ihr lag, lichtete und einer peinvoll genauen Erinnerung Platz machte. Dann begriff sie, warum ihr Leben niemals wieder ein zufriedenes werden konnte, wie es gewesen war, ehe sie ihn gekannt. Er hatte sie den Sonnenschein kennen gelehrt. All die kleinen lieben Beweise einer tiefsten Zärtlichkeit fielen ihr ein. Wie sehr er sich an dem Ton ihres Lachens erfreut und diesen nachzuahmen versucht hatte! Wie eine gewisse Art von ihr, „Nein“, zu sagen, ihm reizend und drollig erschienen war! Wie er täglich mehrmals über eine widerspenstige Haarsträhne, die sich dem Knoten im Nacken nicht einfügte, gescholten hatte und sie doch selbst gern mit raschem Finger herauszog, wenn sie ja einmal glatt lag. Ach, all die winzigen Einzelzüge der Gesammterscheinung, die nur ein Liebender sieht und bewundert!
Das war erstorben, und nun gab es niemand mehr, der Gerda neckte, umschmeichelte, wie ein Kind behandelte. – Wie eine Neugeburt der Seele war ihr, der ernsten, gereiften, von aller Welt als Respektsperson behandelten Frau, es gewesen, in heiteren Augenblicken von ihm wie ein verzogenes Kind behandelt zu werden. –
Der Knabe unterbrach die Grübeleien seiner Mutter nie durch eine Frage. Seltsam unkindlich, wie er in manchen Dingen war, sprach er auch niemals von dem geliebten Freund, warum er gegangen sei, oder wann er wiederkomme. Aber Gerda fühlte mit immer steigender Bangigkeit, daß er an Heimweh vergehe. Freudlos und müde lernte und spielte er. Widerwillig aß er. Seine sonst so erfinderische Phantasie sann nichts mehr aus.
Seit mehr als einem Jahre war er gewöhnt gewesen, dem geliebten Freund alles anzuvertrauen, was er mit seinen Spieldingen zusammen erlebte. Und Alfred war liebevoll mit ihm gegangen, überall hin, er hatte ihn immer verstanden und nie ausgelacht, wie die Tante oft that. Ja, Alfred war mit zum dichtenden Kinde geworden und hatte so schön zu erzählen gewußt. Wenn Sascha fragte, wo der Wind herkäme und was er sänge, wußte Alfred vom eisigen Norden, oder von der heißen Wüste, von fernen Meeren und Schneebergen zu erzählen, und wenn Sascha es nicht glauben wollte, berief er sich auf die Schwalbe als Zeugin.
Die Blumen, der Wind und die Schwalbe waren stumm geworden, und in der todten Natur langweilte sich das Kind.
Nur an einem zeigte es noch Antheil: an den Schreibkünsten, deren Anfangsgründe Alfred ihn gelehrt. Von dem Griffel und der Schiefertafel rückte er zum Bleistift und Papier vor. Und einmal fand Gerda ihn vor ihrem Schreibtisch bei der Tinte.
Seine Fingerchen, der Daumen, Zeige- und Mittelfinger der Rechten waren bis zum Gelenk schwarz, so tief hatte er die Feder eingetaucht, und der Bogen war mit runden Tropfenflecken übersäet. Saschas Gesicht war weinerlich verzogen.
„Was machst Du da?“ fragte seine Mutter.
„Ich will mit Tinte schreiben lernen, gerade so, wie es gemacht wird, wenn man Briefe schreibt,“ sagte er, „und immer wenn ich einen Buchstaben machen will, wird es bloß ein Klecks.“
Gerdas Herz klopfte. Vor ihren Augen ward es dunkel.
„Du hast die Feder zu voll von Tinte,“ bedeutete sie mit unsicherer Stimme und im zärtlichsten Ton. „Komm, ich will Dir einen reinen Federhalter geben. So – mein Liebling, siehst Du, nur die Spitze. Willst Du an Tantchen schreiben? Soll ich Dir zeigen, wie es gemacht wird?“
Gerda wußte ganz genau, was ihr Kind wollte und dachte. Jeder Pulsschlag sagte es ihr. Mit zitternden Fingern legte sie ihm einen Bogen hin. „Da oben schreibst Du: ‚Liebes Tantchen‘, dann kommt ein Ausrufungszeichen, und dann da, weiter unten, schreibst Du was anderes. Zum Beispiel: ‚Ich hoffe, daß Du morgen ganz wohl bist, und grüße Dich als Dein Sascha‘,“ sagte sie; „Tantchen wird aber eine Freude haben.“
Sascha begann „Liebes Tantchen“ hinzumalen. Seine Wangen glühten. Das war sehr gut mit dem Brief an Tantchen, da sah er, wie es gemacht wurde.
Gerda überwachte, mit Anweisungen aushelfend, die Fertigstellung dieses Briefleins.
„Trag Du es ihr hin,“ bat Sascha, vor Eifer glühend und mit einem – ach, lange nicht gesehenen Lächeln, „ich will’s noch ein bißchen mit Tinte versuchen.“
Gehorsam ging Gerda. Und als sie nach einer Stunde wieder kam, saß Sascha still am Fenster. Sie aber fragte nicht, was aus seinen weiteren Schreibversuchen geworden sei.
Die hatten freilich Mühe genug gekostet, aber endlich war doch ein Brief zustande gekommen. Die ganze erste Seite war von der Anrede ausgefüllt.
„Liber süser Papa liber guhter Papa,“ stand da in steilen Buchstaben auf den Bleistiftlinien, die eng und weit, schräg und gerade das Papier überquerten.
„Bitte komm doch Wiehder Du hast einmahl gesagt Du Willst mein Papa sein Ich und Mama Sind sehr Traurich und so grüse Ich Dich als Dein Sascha.“
Das kleine deutsche w war Saschas Todfeind, er zog das große lateinische vor, das ihm leichter gelang. Von Interpunktionen hatte er natürlich noch keine Ahnung.
Eine weitere und noch größere Schwierigkeit hatte ihm die Aufschrift des Couvertes gemacht. Den Familiennamen Alfreds hatte er vielleicht einmal gehört, aber er wußte ihn nicht. Er wußte aber genau, daß ein solcher, wie auch die Angabe einer Straße und einer Stadt auf dem Brief nothwendig ist. Eine vollkommene Entmuthigung preßte ihm Thränen aus. Aber dann kam ihm ein Trostgedanke. Neugestärkt, schrieb er schief und kaum leserlich auf das Couvert: „An Papa Alfred.“
Er schloß das Couvert sehr sorgfältig; als er es in die Tasche stecken wollte, war es zu groß. Da schob er es unter seinen Kittel auf die Brust.
Gerda bemerkte, daß der Knabe sich den ganzen Tag in der Nähe der Verwalterwohnung aufhielt. Auch sah sie, daß der Kleine seinen Zweck, den er offenbar hatte, erreichte, denn gegen abend kam der Verwalter heim und Sascha redete ihn an. Sie ahnte, mit welcher Frage!
Von nun an zeigte Sascha sich heiterer und bat jeden Tag, ob er nicht mit der Jungfer nach Baden hinunterspazieren dürfe. Gerda schlug es ihm immer wieder ab. Sie hatte das Couvert bemerkt, welches das Kind allabendlich unter das Kopfkissen steckte und allmorgendlich wieder auf der Brust verbarg. Ja – wenn sie nichts, nichts bemerkt gehabt hätte, und wenn das geliebte Kind wie ein Geist der Versöhnung „ihn“ wieder hergeführt – aber so – sie mußte doch gestehen, wenn er des Kindes Ruf Folge [359] leistete, daß sie darum gewußt, wenn auch nicht so ganz genau. Vor sich selbst wäre sie ja jesuitisch gewesen, hätte sie nichts sehen, nichts ahnen wollen.
Aber als Tag um Tag Saschas eben wieder erblühte Heiterkeit schnell entschwand, da begannen Sorge und Schwäche einen erfolgreichen Kampf gegen ihren Stolz zu führen. Wenn dieser rührende Einfall des Knaben ein Fingerzeig wäre, der auf den rechten Weg wiese? Wenn er nur eines, eines guten Wortes harrte, um zurückzukehren, einsichtsvoll und geläutert? Wenn diese bittere Zeit in seinem Blute den schnellwallenden Trotz geebnet hätte? Wenn vielleicht jetzt nach dieser äußersten Auflehnung gegeneinander sie verständen, sich ineinander zu fügen?
Und an einem Septembertag, der sich aus den im Thal brauenden Nebeln leuchtend erhob, sagte Gerda dem entzückt aufblickenden Knaben, daß sie einige Besorgungen in Baden habe, er könne mitfahren und mit der Jungfer spazieren, indeß sie in den Magazinen sei. Der Verwalter, welcher ohnedies unten zu thun hatte, führte sie in seinem klapprigen Wägelchen zu Thal. Auf der Promenade an der Oos verließen sie das Gefährt.
Gerda wandelte ein Weile mit dem Kinde und dem Mädchen zwecklos unter den Bäumen. Ihre Füße waren bleischwer, ihr Antlitz ganz entfärbt. Ihr war es, als stände sie vor einer letzten fürchterlichen Entscheidung.
„Mama, Du wolltest ja für Tantchen was einkaufen,“ drängte Sascha ungeduldig. Sie seufzte schwer.
„Also – ja! Sie lassen Sascha nicht von der Hand. Hier haben Sie Geld, wenn er Durst oder Hunger bekommen sollte, gehen Sie mit ihm zu Rumpelmayer; Sie wissen die Konditorei? Ja? Schön! In anderthalb Stunden treffen wir uns oben auf dem Marktplatz vor der katholischen Kirche.“
„Sehr wohl, Frau Baronin.“
Gerda sah sich noch fortwährend nach dem Knaben um. Sie bemerkte, daß seine Begleiterin eine Frau anredete. Sascha ließ sich nach der Wohnung Alfreds erkundigen, die er vom Verwalter erfragt. Dann gingen sie über eine der Brücken in das Innere der Stadt und entschwanden ihrem Blick.
Sie ging nun plötzlich, von fieberhafter Eile ergriffen, die einzige Besorgung zu machen, die den Vorwand zu dieser Fahrt gegeben hatte. Der Zettel brauchte nur in dem Delikatessengeschäft abgegeben zu werden, Tantchen hatte ihn geschrieben; die Waren mit der Rechnung schickte man hinauf. Nach einer Viertelstunde schon war Gerda oben an der Kirche.
Sie hatte diesen Platz zum Wiedertreffen gewählt, weil es ihr widerstrebte, an irgend einen Ort zu gehen, wo sie Menschen, Bekannte treffen konnte, wie vor vierzehn Tagen die Ravenswann und Schneider im Buchladen. Daß jene sie damals ungezogenerweise und absichtlich nicht gegrüßt, war ihr gar nicht aufgefallen, aber der bloße Anblick von Leuten aus der Welt war ihr lästig. So dachte sie, in der Kirche zu warten.
In dem hohen, kühlen Raum, in den das Licht farbig verschattet durch bunte Fenster fiel, war es ganz still. Hier und da knieete in den Bänken eine Beterin, oder ein Neugieriger ging auf leisen Sohlen durch den Mittelgang. Die bunten Sonnenflecke, die roth und grün und blau auf den Säulenbündeln, dem steinernen Estrich, dem braunen Gestühl lagen, belebten freundlich das ernste Bild der graugetönten Kirchenhalle.
Wie wohl dieser Friede dem bangschlagenden Frauenherzen that!
Leises Orgelspiel begann, und zugleich kamen zu allen Thüren Leute herein. Die Kirche füllte sich rasch, eine Messe oder eine Predigt schien gehalten werden zu sollen. Es war Gerda wie eine Mühe, aufzustehen und den Platz zu verlassen, der ihr nun keine Stille mehr bot.
Draußen lag greller heißer Sonnenschein. Mit Sorge dachte Gerda daran, daß sie das Kind hierherbestellt hatte, und daß es in der Mittagsgluth die steilen Straßen hinanklimmen mußte. Ihr selbst war es unmöglich, selbst unter dem Schutze ihres großen Sonnenschirmes, auf dem Platze auszuharren.
Sie trat in den Thorbogen des Rathhauses und ging in dem um diese Zeit völlig verlassenen Flur auf und ab. Aus dem kahlen Raum führten rechts und links Thüren mit je zwei Vorstufen in das Innere des Gebäudes. Dazwischen hingen an den schmucklosen Wänden in drahtvergitterten Rahmen amtliche Ankündigungen.
Wie die Minuten bleiern schlichen! Gerda sah nach der Uhr – noch eine Viertelstunde bis zur bestimmten Zeit. Aber vielleicht hatte Sascha schnell gefunden, was er gesucht, für weitere Gänge dann keine Lust gehabt und kam schon. Sie trat unter das Portal und sah rechts die abwärtsführende Straße entlang. Niemand! Sie ging wieder im Flur auf und ab. Ihr Herz schlug immer wilder. Wenn Sascha ihn selbst getroffen – wenn er mitkäme – gleich jetzt – hierher – aber nein, Sascha hatte gewiß nur seinen Brief abgeben wollen und hatte ihn selbst gar nicht gesehen. Ein Zufall jedoch konnte die Begegnung dennoch herbeigeführt haben. Zum Beispiel, wenn er gerade ausging im Augenblick, wo das Kind eintrat. Oder auf der Straße. Oder er konnte, nachdem er den Brief erhalten, dem Kinde eilig nachgestürzt sein. –
Dies Erwägen von all den Möglichkeiten war aufreibend.
Und nun noch zehn Minuten.
Gerda zählte die Tiefe des Flurs in Schritten aus. Dann sah sie zum Plafond empor und zählte das sich wiederholende Muster der weißgetünchten Stuccatur. Dann trat sie an die vergitterten Rahmen heran. Sie las. Eine hohe obrigkeitliche Verordnung in Wegebauangelegenheiten. Sie las, jedes Wort mit den Lippen genau aussprechend.
Und immer das Kind noch nicht zu sehen! Sie ging an das Portal und kehrte zum zweiten Aushängekasten zurück. Es waren die standesamtlichen Aufgebote.
„Michael Aloys Friedrich Gimbel, Sohn des Friedrich August Gimbel und dessen Ehefrau Sophie Marie geborene Hänischer, Blechnergehilfe dahier, mit Luise Katharina Lechleitner, Tochter des Ludwig Leopold Lechleitner und der Luise Katharine geborene Krieth, Dienstmagd zu Badscheuren.“
„Charles Alfred von Haumond, Sohn des verstorbenen Alfred Germain von Haumond –“
Da äffte ihr umflortes Auge sie. Das war ja Unsinn! Noch einmal! Sie legte mit ausgestrecktem Arm die flache Hand gegen die Wand; die Kniee bebten ihr so; es war ihr, als sollte sie fallen. Das war ja Unsinn. Das stand natürlich nicht da. Also noch einmal!
Und die geschriebenen schwarzen Lettern hinter dem Drahtgitter schossen farbig zu riesengroßer Höhe empor. Es war, als seien sie aus Meereswogen geschrieben, so, in sich wälzender Schlangenlinie, wankten sie auf und ab.
„Charles Alfred von Haumond …“ das Weib tastete mit der Linken an dem Drahtgitter, als wollte sie buchstabierend den Finger auf das Papier bringen, wo die Namen tanzten.
„Josephe Germaine Thomas.“
Die Befestigung des vergitterten Kastens war dem Eisendruck so klammernder Hände nicht gewachsen. Er löste sich von dem Nagel, an welchem er hing, und stürzte polternd herab.
Wie Donnerton klang das in Gerdas Ohr, so laut, so unerträglich, so besinnungraubend. Mit irren Blicken sah sie um sich, sah auf das herabgestürzte Ding zu ihren Füßen, fühlte einen Schwindel und lehnte sich an die Wand, die Stirn fest gegen das kalte Mauerwerk gepreßt. –
Mit wichtig freudiger Miene ging Sascha neben seiner stillen und gutmüthigen Begleiterin her.
„Frage nach dem Weg zum Leopoldsplatz!“ bat er an jeder Straßenecke von neuem.
Nun waren sie dort. Sascha zog das schon recht kraus gewordene Couvert hervor, auf welchem unter der Adresse. „An Papa Alfred“ noch stand „N. 3.“
Er verglich an allen Häusern die Nummer mit der 3 auf seinem Brief. Endlich hatte er das Haus gefunden.
Die Jungfer, welche natürlich beim Anblick der Briefadresse errathen hatte, was er wollte, fragte nach Herrn von Haumond.
„Eine Treppe hoch.“
Richtig, da stand auch der Name, eine Visitenkarte diente als Schild.
Sascha klingelte. Einmal, zweimal, noch einmal, niemand kam.
Aus einer andern Thür des Korridores guckte endlich ein Frauenkopf durch den schmal sich öffnenden Spalt.
„Da ist niemand daheim. Kann ich’s bestellen?“
„Nein! Wir kommen wieder,“ sagte der Knabe.
Er war sehr traurig.
„Wir wollen auf und ab gehen, hier auf dem Platz.“
„Aber die Sonne scheint zu stark, es könnte Dir schaden, mein Herzchen,“ sprach die Jungfer.
„Nein, ich will es!“ rief er weinerlich.
[360] So gingen sie langsam in der grellen Sonne auf und ab, mehr als eine halbe Stunde. Sascha wurde immer blässer, die Ermüdung, die ihm das Warten und die Hitze bereiteten, wurde immer ersichtlicher auf seinen Zügen.
Die Jungfer schlug vor, sie wollten zu Rumpelmayer gehen, dort etwas Kühlendes trinken und wieder kommen. Nein, Sascha war besorgt, daß „er“ unterdeß heimkommen und gleich wieder gehen könnte.
Das schwächliche Kind fühlte aber dabei schon eine Anwandlung, als sollte es ohnmächtig werden. Muthig und von festem Willen, wie Sascha war, bezwang er sich noch weiter. Die Jungfer, welche selbst das Unbehagen des Wartens im glühenden Sonnenschein empfand, sah oft nach der Uhr.
„Nun warten wir schon fünfviertel Stunden. Ich darf es nicht länger erlauben. Komm, ich trage jetzt den Brief hinauf, die Frau giebt ihn ab.“
„Nein, nein!“ flehte der Knabe, in Thränen ausbrechend, „wenn ich nur etwas trinken könnte, hielte ich es ganz gut aus.“
„Mama wird mich schelten. Wir müssen ohnedies nachher eine Droschke nehmen, denn nun noch gehen, das ist ja menschenunmöglich,“ sagte das Mädchen und sah besorgt von Haus zu Haus, ob man nicht irgendwo Erfrischung und Unterstand im Schatten haben könnte. „Sieh, da ist ein kleiner Konditorladen, wir wollen hineingehen.“
„Nein, nein! Aber bitte, geh Du, Line, und hol mir ein Glas Zuckerwasser heraus. Du kannst ja selbst schnell etwas Eis essen, wenn Du willst, aber laß mich hier. Ich will auch ganz gewiß nicht von hier Weggehen, bloß wenn Papa kommt oder sein Fritz. Und dann weißt Du ja, wo ich bin.“
„Na,“ sagte das verschmachtende Mädchen, „dann will ich Dir eben ein Glas Zuckerwasser holen. Aber bleibe still am Gitter stehen.“
Sascha hielt sich mit seinen heißen kleinen Händen am Eisengitter fest, welches das Leopoldsdenkmal umrundet, und starrte unverwandt auf den einen Hauseingang.
Mit einemmal schrak er auf. Da ging Fritz. Er kam aus der Lichtenthalerstraße und ging schräg über den Platz. Mit stolpernden Füßchen eilte Sascha ihm entgegen.
„Ach Fritz, wo ist Papa?“ rief er, an dem Burschen emporsehend.
„Ich denke, das hat sich auspapat,“ sagte Fritz, der übrigens seine Livree nicht trug.
Sascha verstand das nicht.
„Wo ist Papa?“
„Nicht hier,“ antwortete Fritz.
„Kann ich auf ihn warten? Kommt er bald?“
„Nee,“ sagte der Bursche, „aber Jungeken, was haben sie denn derweile mit Dir gemacht? Du siehst ja aus wie der Kalk an der Wand!“
„Bitte,“ flehte Sascha, „dann gieb diesen Brief an Papa, sobald er kommt.“
Der noch immer „logische“ Fritz antwortete: „Ja, dafür werde ich nicht bezahlt, andere Leute als den Herrn zu bedienen.“
Das arme Kind verstand ihn natürlich nicht, noch hatte es eine Ahnung davon, daß es gut gewesen wäre, Fritzen Geld zu geben.
„Bitte, nimm doch den Brief,“ drängte er unter Thränen.
„Na, heule man nicht! Nehmen kann ich ihn ja. Es wird wohl nichts Wichtiges drin stehen. Aber was lassen sie Dich denn so gottverlassen allein hier in der Stadt herumlaufen?“ fragte Fritz.
„Die Mama und die Line sind mit,“ sagte Sascha.
Die „Gnädige“ war eine von den wenigen Personen, welchen gegenüber Fritz Unbehagen empfand. Sofort vermuthete er sie und die Jungfer in einem Laden in der Nähe und sagte eilig:
„Adieu! Grüß die Line von mir und sag Deiner Mutter, sie solle dafür sorgen, daß Du nicht so miesig aussichst. Adieu!“
„Da rennt ja der Fritz förmlich davon,“ rief das Mädchen zurückkehrend, „bist Du Deinen Brief los? So, nun trink! Das thut gut. Und dann wollen wir einen Wagen nehmen.“
Das Mädchen wischte ihm das nasse Mündchen ab, kühlte seine Stirn und trug ihn in den Laden, wo er sitzen sollte, bis sie mit einem Wagen da sei.
Er war vollkommen erschöpft. Er ließ alles mit sich geschehen und legte sich im Wagen stumm gegen das Mädchen.
Sie hob ihn auf dem Platz vor der Kirche heraus.
„Von der Mama keine Spur,“ sagte sie, „so haben wir nochmals das Vergnügen, zu warten. Komm, wir wollen in den Rathhausflur gehen, da ist Schatten.“
Sie traten über die Schwelle. Da stand drinnen eine Frauengestalt, mit dem Angesicht gegen die Wand, die Stirn an der kalten Mauer.
„Mama!“
Sie schrie auf. Das Kind warf sich ihr entgegen. Und sie umschlangen sich und weinten beide heiße, brennendheiße Thränen.
[373]
„Baden-Baden, den 29. September 1885.
Mein lieber Alfred! Jetzt sind zwei Wochen vergangen, seit Du Baden verließest, und in wenig Tagen kehrst Du zurück. Dann sollen wir vor dem Gesetz miteinander verbunden werden. Von Tag zu Tag, ich will es Dir frei gestehen, wächst mir Deinetwegen ein Sorgengefühl im Herzen. Deine Briefe haben es mir vollends klar gemacht, daß nicht Mitleid mit meiner Lage, daß Dich die äußerste Verzweiflung angetrieben hat, um mich zu werben. Ich weiß es nun ganz, wie Dein Herz, leidvoll, verwundet und erregt, wie es ist, die trostlose Vereinsamung nicht ertragen kann, zu welcher es sich verdammt sah. Aber ob Du an meiner Seite den wahrhaften Frieden finden wirst, nach dem Du so heiß verlangst, das ist die Frage, welche ich immer wieder aufwerfe, durchdenke und bald verneine, bald zagend bejahe. Wenn Du nun eines Tages zu der Erkenntniß kämest, daß Du doch niemals ein anderes Weib lieben könnest, als diese eine, welche Dich so gährend noch beschäftigt, obschon Ihr Euch vor vielen Wochen für immer getrennt habt? Du schreibst mir, wie hundertfach es vorkomme, daß die wahre, stillleuchtende, immer dauernde Liebe zwischen zwei Menschen nach und nach erwache, die sich aus bloßer Konvenienz geheirathet, und daß auch wir vielleicht eines Tages diese Liebe in uns lebendig fühlen könnten. Wenn sich diese Hoffnung aber nicht erfüllt? Wenn wir immerdar nichts empfinden werden als die innigste Freundschaft oder wenn ich so sagen soll: geschwisterliche Neigung? Wird Dir Wärme genügen, wo Deine Seele Flammen suchen möchte? Wirst Du Dich an einem freundlichen, aber nüchternen häuslichen Herd zufrieden fühlen können, wo Dein Herz zurückdenken muß an die wilde Poesie Deiner unglücklichen Leidenschaft?
Noch bist Du frei. Ich bleibe Dir immer dieselbe, auch wenn Du gestehst: ,Es war doch eine Voreiligkeit, daß wir uns banden.‘
Wenn Du aber auf Deinem Willen bestehst, weißt Du, daß meine Dankbarkeit und meine herzliche Neigung, mein inniges verstehendes Mitleid mich lehren werden, Dir so viel Glück als möglich zu geben.
Du willst hören, wie ich meine Tage verbringe? Nun, ich habe eine Fülle von Arbeit. Mit dem Rest meines Geldes und dem Erlös von allerlei Sachen, die ich verkaufen ließ, beschaffe ich mir eine kleine Aussteuer von den Dingen, die mir persönlich nothwendig sind. Da heißt es, die Nadel rühren, die Nähmaschine und die Schere in Bewegung setzen; zum Glück habe ich gelernt, [374] Wäsche und Kleider selbst anfertigen zu können. Aus Mamas Nachlaß habe ich nur einige liebe Andenken behalten, unter anderem ein Medaillon, in welchem ich zu meinem Erstaunen das Bild Deines Vaters fand, das Mama mir nie gezeigt hatte. Es ähnelt Dir sehr.
Andern Schmuck, der ihr, wie ich weiß, gleichgültig war, ihren Krankenstuhl, ihr Bett, das besonders konstruirt war und immer mit uns reiste, ihre Kleider und andere Sachen habe ich an einen Auktionator gegeben und ein verhältnißmäßig nettes Sümmchen dafür bekommen.
Frau Ravenswann besucht mich oft, es scheint ihr sehr zu gefallen, daß ich alles selbst mache, und sie sagt, das habe sie zum größten Theil auch gethan. Sie spricht merkwürdig viel von Dir und dem guten Einfluß, den sie von mir auf Dich für gewiß erwarte. Sie scheint Dich demnach als bête noire zu betrachten. Sie bietet in allen Dingen ihren Rath an, dessen ich nicht bedarf, da ich seit Jahren gewohnt bin, für mich, die Mutter und unsere Alte zu denken. Auch würde die Befolgung der Rathschläge meist umständlich, kostspielig und veraltet sein. Aber ich höre achtungsvoll und dankbar zu, denn Frau Ravenswann erweist mir eine Güte, die ich noch durch nichts verdient habe, und die ich auch nicht aus einer gegenseitigen Sympathie herleiten kann. Wir sind doch sehr verschieden, haben gar keine gemeinsamen Interessen, und oft kommt es mir vor, als ob ich, das arme Mädchen, welches trotz der vielen Reisen fast ein Einsiedlerleben geführt hat, beinahe eine femme du monde sei gegenüber der reichen Hansestädterin, die schon seit Jahren in Berlin lebt und doch – kleinstädtisch ist.
Zuweilen fordern Ravenswanns mich auch zur Theilnahme an Touren auf. Das ist mir dann stets eine Last, da unterwegs fast nur über Personen und Verhältnisse gesprochen wird, die ich nicht kenne. Allgemeine Fragen erörtern sie nie untereinander, sie gehören zu den Leuten, die nur von Leuten sprechen. Oft wird auch die Skatpartie vom Abend vorher noch einmal durchgenommen, und neulich hätten Assessor Ravenswann und Schneider sich beinahe erzürnt, weil sie über ein falsches Anspiel, dessen Frau Schneider sich schuldig gemacht haben sollte, verschiedener Ansicht waren.
So, lieber Alfred, verlaufen meine Tage. Wenn deren noch
acht vergangen sein werden, bin ich Deine Frau. Wie immer auch die
kommenden Zeiten mir gütig oder hart sein mögen, immer bin ich
Deine treueste Freundin Germaine.“
„Frankfurt a. M., den 2. Okt. 1885.
Liebe Germaine! Nur wenige Zeilen, um Dir zu sagen, daß ich morgen in Baden eintreffe, freilich so tief in der Nacht, daß wir uns nicht mehr sehen können. Uebermorgen um elf Uhr vormittags hole ich Dich zum Standesamt ab. Nachher werden wir mit Ravenswanns und Schneiders, sowie mit meinem uns als Zeuge dienenden Notar im Viktoriahotel ein Dejeuner nehmen, welches der letztere in meinem Auftrag bestellt hat.
Hiernach wird uns Zeit bleiben, Dein und mein Gepäck zu vereinen, die Verbindlichkeiten bei Deiner und meiner Wirthin zu begleichen und dann können wir gegen abend nach Berlin abreisen. Wenn es Dir so genehm ist, werde ich Fritz entlassen. Zwei Dienstboten können wir zunächst nicht halten, und Du wirst einen weiblichen Domestiken brauchen.
Ich denke, wir bleiben vorerst in Berlin, in meiner bisherigen Wohnung, die sich um ein Zimmer vergrößern läßt; ich hatte bisher außer Fritzens Kammer zwei hübsche Räume. Zum Frühling will ich mein Kapital flüssig machen, ein Landgütchen kaufen und versuchen, ein tüchtiger Landwirth zu werden. Wenn ich mir nicht vorstelle, daß ich so viel zu thun haben werde, um keinen Augenblick Zeit zum Nachdenken zu haben, meine ich, die Welt sei schaurig leer.
Deine Betrachtungen, liebe Germaine, wie unsere Ehe sich gestalten könnte, haben mir keinerlei neue Bedenklichkeiten mehr erregt. Mein Entschluß steht so felsenfest wie meine Ueberzeugung, neben Dir Ruhe zu finden. Sieh, schon indem ich Dir die obigen praktischen Dinge schrieb, fühlte ich mich als Mensch, der Pflichten, einen Lebenszweck hat. Das war mir wohlthuend. Deshalb bitte ich Dich, nicht mit einer einzigen Silbe mehr darauf zurückzukommen.
Ja, ewig wird mein Herz erbeben, wenn man mich an sie mahnt! An sie! Deshalb schweige ich auf immer von ihr. Wenn sie gelitten hätte wie ich, wenn sie empfunden hätte wie ich – dann würde wohl ihr Herz einen Weg gefunden haben zurück zu mir. Oder wenn sie nicht wollte, wenn ihr trotziger Sinn es ihr verbot, dann hätte sie den geliebtesten, holdesten Boten gehabt. Ihr Kind – den Knaben, den ich liebte, wie man vielleicht kaum ein eigenes Kind liebt – den Knaben, dessen Sonnenschein meine Liebe war – ihn, dessen Erziehung ich alle meine Tage widmen wollte. Schon um seinetwillen hätte sie ihn schicken müssen, mit der Bitte auf seinen süßen Lippen: komm zurück! –
Sie hat es nicht gethan. Ich habe sie ganz verloren. Guter
Engel, stelle Du Dich schützend zwischen mich und das Gedächtniß an sie.
Dein Alfred.“
Der vierte Oktober brachte Unwetter und Regen. Während
Alfred sich ankleidete, kämpfte er mit einer seltsamen Lahmheit
aller seiner Gedanken, selbst seines Körpers. Ihm war, als sei
er müde und wie zerschlagen nach großen Anstrengungen. Der
Regen, der gegen die Fensterscheiben schlug und schräge nasse
Linien draußen an das Glas zeichnete, machte ihn obenein frösteln.
Eine heiße Sehnsucht nach Sonnenschein befiel ihn.
Als Fritz ihm das Frühstück hereinbrachte, widerte ihn zum erstenmal das so lang ertragene freche Gesicht des Burschen an. Er besann sich, daß er ihn wegschicken wolle und daß er heute überhaupt noch viel langweilige Dinge zu ordnen hatte.
„Sie werden alle Sachen packen. Wir kehren mit dem Nachtzug nach Berlin zurück. Bei unserer Ankunft morgen mittag dort sind Sie entlassen,“ sagte er.
„Der Herr irren sich,“ erwiderte Fritz mit der größten Ruhe, „ich stehe auf monatliche Kündigung und somit kann der Herr mir am ersten November zum ersten Dezember kündigen.“
Nun ärgerte Alfred sich.
„Auf monatliche Kündigung, ganz recht. Also heute, am vierten Oktober, kündige ich Ihnen zum vierten November. Da ich Sie aber nicht mehr um mich haben will, bezahle ich Ihnen bis dahin Lohn und Entschädigung für die Wohnung und Beköstigung.“
Er wußte selbst nicht, wie es kam, es brachte ihn außer sich, mit diesem Menschen sprechen zu müssen. Ihm schien’s, als sei in Fritzens Lächeln noch ein neuer Zug von Schadenfreude gekommen, als sei dieser ganz untergeordnete Mensch da sein Feind.
Fritz besann sich.
„Gut,“ sagte er dann, „ich erkläre mich einverstanden. Aber ich möchte dann ersuchen, mich schon am Bahnhof Baden-Baden zu entlassen, vorausgesetzt, daß ich das Reisegeld nach Berlin doch erhalte.“
„Zum Donnerwetter, ja! Und nun scheren Sie sich hinaus!“
Alfred hätte gewünscht, ihm eine Ohrfeige geben zu dürfen. Als er sich nun allein sah, ging er mit hastigen Schritten auf und ab im Zimmer. Er begriff, daß er in dieser Stimmung nicht bleiben dürfe.
Wenn Germaine auch keinen zärtlichen Bräutigam erwartete, einen liebevoll und gütig gestimmten Mann mußte sie finden.
Nach wenig Sekunden hatte er vergessen, daß der Wortwechsel mit dem Diener ihn geärgert, aber seine Stimmung war deshalb nicht sonniger geworden.
Es lag auf ihm wie ein unerträglicher Druck. Aber er dachte weder vorwärts noch zurück. Die eiserne Entschlossenheit, mit welcher er dieser Heirath zugestrebt, glich dem finsteren Fanatismus, mit dem ein Mensch in das Kloster tritt, um von dem trügerischen Glück dieser Welt nicht mehr in Versuchung geführt zu werden. Die Reue, die nachher kommen konnte, wollte er nicht vorausahnen. Der Kämpfe, welche früher gewesen, wollte er sich nicht erinnern. Gar keine Stimmen sollten mahnend bis an sein Herz dringen.
Es schlug zehn Uhr. Er erinnerte sich, daß Germaine ihn um elf erwarte, und daß er noch allerlei brauche, ein Bouquet, einen Wagen. Den letzteren ließ er von Fritz holen und fuhr selbst zum Gärtner. Unterwegs fiel ihm ein, daß es wohl angebracht sei, Frau Mietze eine Aufmerksamkeit zu erweisen, da diese sich Germaines so angenommen. Er bestellte also im Blumenladen, daß man sofort den schönen Strauß, welchen er aussuchte, an Frau Assessor Ravenswann in das Viktoriahotel senden solle. Auf die Karte, die er dazu gab, schrieb er: „Der gütigen Freundin ihr dankbarer Alfred von Haumond.“ Dabei dachte er, daß er nie geglaubt hätte, in Lagen zu kommen, wo er dieser Frau Dank schulde. Auf die Zusammenstellung eines für Germaine [375] passenden Straußes mußte er warten, und so kam es, daß sein Wagen erst fünf Minuten nach elf Uhr vor dem Hause des jungen Mädchens hielt.
Er stürzte förmlich die Treppen hinauf und riß die Thür des Wohnzimmers auf.
Da saß das schöne Mädchen still wartend, und vor ihr stand die alte Frau, Thränen in ihren Schürzenzipfel vergießend.
Alfred bat tausendmal um Entschuldigung, küßte Germaines Hand und überreichte seinen Strauß. Sie waren beide sehr blaß und vermieden es, sich anzusehen. Alfred geleitete sie hinunter, die Alte trippelte hinterdrein und erflehte schluchzend Glück und Segen für das junge Paar und nahm zum zehnten Male Abschied, denn sie wollte unterdessen in ihre hessische Heimath abreisen.
Und nun fuhren sie miteinander dahin, wo sie sich unauflöslich verbinden wollten. Sie saßen stumm zusammen, sie suchten sich nicht einmal durch einen Händedruck etwas zu sagen. Ein lähmendes Entsetzen war plötzlich über sie beide gekommen, als sie sich wiedergesehen hatten.
Dieses Mädchen, verwaist, hilflos, mutterseelenallein wie es dasaß, nur von der Theilnahme einer armen alten Dienerin begleitet, sollte in der Fülle seiner Jugend und Schönheit sich einem ungeliebten Manne vermählen? War das nicht eine Sünde? Hieß das nicht, sie um jede Glücksmöglichkeit betrügen? Ein ungeheures Mitleid ergriff Alfreds Herz und zugleich ein Unbehagen, welches an Furcht grenzte. Wie, wenn sie doch heimlich hoffte, seine Liebe könnte für sie erwachen? Er vergaß ganz, daß er diese Hoffnung ausgesprochen und sie dieselbe als unmöglich bezeichnet hatte. Wie, wenn sie erwartete, daß er sie zärtlich in die Arme schließen würde – der kalte Schweiß perlte auf seiner Stirn. Mit Entsetzen begriff er, daß es ihm ewig unmöglich sein werde, ein anderes Weib als die Eine zu küssen.
Und dabei rollte der Wagen mit fürchterlicher Schnelligkeit dem Ziel zu.
Germaine sah in die Blumenfülle ihres Straußes hinein. Aber ihre Blicke, die sich festbohrten, sahen doch nichts, vor ihren Augen hing es wie ein schwarzer Schleier. Ein Schwindel hatte sie ergriffen, eine Todesangst. Wie konnte es nur geschehen, daß die vorreife, weise erwägende Vernunft, welche sie immer nöthig gehabt in Jahren, wo andere sich gedankenlos ihrer Jugend freuen, sie auch in dieser riesengroßen Frage berathen hatte? Nun erst, in diesen schweigsamen Minuten begriff sie, was sie gethan, was geschehen würde und was noch geschehen konnte. Wie, wenn er doch glaubte, eine zärtlichliebende, eine hingebende Gattin zu finden, wenn er sich mit der Freundin nicht begnügen wollte? Wie hatte es nur kommen können, daß zwei Menschen mit klaren Sinnen übereinkamen, etwas zu thun, was sich in diesen schrecklichen Minuten wie Wahnsinn darstellte? Sich ohne Liebe aneinander ketten für ein Leben – das war ja Sünde! Für das Unglück, das nachher kommen konnte, kommen mußte, gab es dann nicht einmal die Entschuldigung, daß sie in blinder Selbsttäuschung hineingerannt seien.
Und da hielt der Wagen an dem verhängnißvollen Ziel. Und Ravenswann stand schon mit einem dicken blonden Herrn erwartend im Flur.
Geschah nun nicht etwas Unerhörtes? Flohen die beiden, die gekommen waren, sich hier zu binden, nicht mit Entsetzen wieder davon? Nein, es geschah nichts als das Programmmäßige. Es giebt Stunden, wo der Mensch sich seines Willens beraubt fühlt, wo er maschinenmäßig thut, was er nicht zu thun wünscht. Es ist, als ob die Seele sich aus dem Körper entfernt hätte und nun, über ihm schwebend, verwundert zusieht, was er alles beginnt. Der körperliche Mensch ist dann wie ein wildfremdes Wesen, und es ist der Seele wie ein Traum, daß sie dieses merkwürdige, automatenhafte Wesen einmal beherrscht hat.
So sah Alfred verwundert zu, wie Alfred neben einem jungen Weibe, begleitet von zwei Männern, in einen kahlen Saal trat, wo hinter einem grünen Tisch irgend ein Mensch stand und irgend etwas sagte, und wie Alfred dann etwas unterschrieb. Ja, er sah sogar, daß er einen ganz weitläuftigen verschnörkelten Zug unter seine Namensschrift machte, einen Zug, der ihm nicht Gewohnheit war.
Germaine aber zitterte am ganzen Leibe. Sie hatte gar keine Gedanken mehr außer dem einen, daß sie ihr Wort gegeben habe, daß er um sie geworben, weil er ihrer bedürfe, daß sie undankbar und unbarmherzig handle, wenn sie jetzt noch „Nein“ sage – jetzt, hier, vor diesen fremden lauernden Zeugen, die sie so unbescheiden betrachteten, als sei eine Braut ein Naturwunder.
Als die Feder in ihrer Hand lag, wollte es sich tonlos auf ihre Lippen drängen: ich kann es doch nicht! Da sah sie den festen, besonders großen Namenszug, den er hingesetzt. Mit bebenden Fingern schrieb sie ihren Namen darunter.
Sie waren vermählt!
– – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –
Unterdeß kosteten Frau Marie Ravenswann und Frau Doktor Schneider alle Vorfreuden dieses hochwichtigen Ereignisses aus. Vor einigen Tagen freilich hätten sie sich um dieses selbe Ereigniß beinahe ganz erzürnt, denn Jettchen Schneider nahm es sehr übel, daß Mietze Ravenswann ihr nicht früher etwas davon anvertraut hatte. Aber der Friede war durch die Ehemänner wieder hergestellt worden, und nun ergingen sie sich in einer Art triumphirender Schadenfreude. Der in so vielen Berliner Kreisen so viel besprochene Alfred von Haumond verheirathete sich so zu sagen hinterrücks, und sie hatten es zuerst gewußt, sie waren dabei gewesen, sie konnten genau erzählen, wie es hergegangen, sie waren mit der jungen Frau von Haumond „befreundet“ und hatten das nächste Anrecht, mit ihr zu verkehren.
Während sie die Tafel besichtigten, beriethen sie schon, mit wem Germaine verkehren, mit wem sie nicht verkehren sollte, denn das wollten sie schon verhindern, daß die arme junge Frau mit der abscheulichen Frau von Z und der koketten Räthin X oder gar der leichtfertige Frau Bankier Y Umgang hielte. Ueberhaupt erwarteten sie, daß Haumond ganz seinen früheren Kreisen entsagen und sich ganz an sie anschließen werde; Frau Mietze sprach etwas geheimnißvoll von dem großen Einfluß, den sie auf ihn habe, und roch dabei an dem schönen Strauß, den sie erhalten hatte.
Die beiden Damen hatten sich auch sehr festlich gekleidet. Frau Mietze hatte ihr „Braunseidenes“, Frau Jettchen ihr „Blauseidenes“ mit; sie trugen die Kleider zu Hause in größeren winterlichen Abendgesellschaften, im Badeort glaubten sie mit diesen Anzügen von höchster Eleganz bei der Nachmittagsmusik Eindruck zu machen. Das „Braunseidene“ war beunruhigend viel mit Goldschmelzperlen besetzt, davon sich ein ganzes Franzengehänge sogar noch um den Halskragen zog. Ueber dieses hatte Frau Mietze ein großes goldenes Medaillon an dicker Kette gelegt, auch trug sie eine reiche goldene Broche, während ihr spiegelglattes Haar mit einigen eng zusammengebundenen frischen Blumen geschmückt war. Das „Blauseidene“ hingegen war etwas zu reichlich mit weißen Spitzen besetzt; auf die bauschige Tüllweste der Taille hingen die dicken Korallenschnüre herab, die Frau Schneider so gern trug. Ebensolche Armbänder umschlossen ihre bis zum Ellbogen entblößten Arme. In ihre blonden Locken, die wieder untadelig als eine Fülle von Röhren übereinanderlagen hatte sie hinter das Ohr eine blasse rosa Rose gesteckt, die stets im Herabfallen begriffen schien.
Sie waren sehr mit sich zufrieden und beriethen nur, ob sie beim Empfang der jungen Frau Handschuhe anziehen sollten oder nicht. Frau Mietze hielt sich dazu für verpflichtet, da sie geladene Gäste seien. Frau Schneider meinte aber, das wäre zu steif, da sie ja nicht nach der jungen Frau einträten, sondern das Paar hier empfingen, sozusagen an Familien Statt.
Ehe noch die Frage entschieden war, riß ein Kellner die Thür auf und das junge Paar erschien.
Die beiden Frauen liefen in freudigster Ekstase auf Alfred und Germaine zu und erdrückten sie mit theilnehmenden Glückwünschen. Frau Mietze hatte einige Thränen echtester Mitempfindung, denn sie erinnerte sich der eigenen Vermählung.
„Ach ja,“ sagte sie, „es ist doch ein furchtbar ernster Tag. Und so lieb ich meinen Männe auch hab’, es war doch gräßlich, so der Abschied von den Eltern und allen Freundinnen und der Vaters-tadt.“
Da erinnerte sie sich, daß Germaine alles dieses nicht besitze und nicht zu verlassen brauche.
„Darin haben Sie es leichter,“ sprach sie, ihre Thränen trocknend.
Für die ungeheure Einsamkeit und Weltverlassenheit, die doch gerade heute dem jungen Mädchen zum traurigsten Bewußtsein gekommen sein mußte, hatte sie gar kein Verständniß. Sie fühlte nur mit, was sie selbst schon gefühlt hatte, begriff nur Lagen, in denen auch sie schon gewesen war, und indem sie mitleidig zu [378] sein glaubte, beweinte sie – wie die meisten Menschen es ebenso thun – nur das Spiegelbild ihrer eigenen Erlebnisse.
In diesem Augenblick hörte man draußen zwei heftige Männerstimmen. Es waren der Notar und Ravenswann, die, während sie ihre Oberröcke ablegten, den scharfen Streit fortsetzten, in den sie im Wagen gerathen waren. Der Notar, als Leiter eines freisinnigen Wahlvereines, hatte mit der Naivetät des feurigen Bierpolitikers, der ohne weiteres in jedem Mann einen Gesinnungsgenossen voraussetzt, sogleich gegen Ravenswann die bevorstehenden Arbeiten der nächsten Reichstagsperiode einer sehr abfälligen Kritik unterzogen, insbesondere die wahrscheinliche Höhe des Budgets bemängelt und die Behauptung ausgesprochen, daß man es nie bewilligen werde. Ravenswann hatte dagegen behauptet, daß diese wahrscheinliche Budgethöhe wahrscheinlich noch höher sein werde, daß ein Parlament, welches die nothwendigsten Bedürfnisse des Staates bemängle, nur einer Horde von – von – von – er konnte vor Zorn kein ganz bezeichnendes Wort finden – zu vergleichen sei.
Frau Mietze eilte zur Thür.
„Aber um Gottes willen, Männe,“ flüsterte sie, „heute doch bloß keinen S–treit! Aergere Dich nicht, es schadet Dir immer so.“
In unaussprechlicher Verachtung gegen einander – jeder hielt den andern für einen Dummkopf – vermieden diese beiden Herren fortan, zusammen zu sprechen. Ravenswann konnte nachher vor Aerger fast keinen Bissen genießen, während der dicke Notar sein rothes Gesicht über den stets frisch gefüllten und immer wieder geleerten Teller neigte. Vorerst konnte man freilich noch nicht zur Tafel gehen, denn Doktor Schneider war noch nicht da.
„Er ist aber auch nie zur rechten Zeit fertig,“ schalt Frau Doktor Schneider. Das Ehepaar warf sich diesen Fehler täglich gegenseitig vor. Man schickte einen Kellner hinauf, und als Herr Doktor Schneider erschien, zeigte es sich schon nach dem ersten Fleischgericht, was der Grund seines Säumens gewesen sein mochte.
Er erhob sich und brachte in sehr wohl vorbereiteter, schönsprachiger Rede die Gesundheit der eben Verbundenen aus.
Das fand Frau Mietze aber denn doch stark. Auch ihr Ludolf hatte sich vorbereitet gehabt, und es wäre doch ihm als dem nächsten Freunde des Bräutigams zugekommen, diesen Toast zu halten. Wollte Schneider durchaus sprechen, hätte er sie, Mietze, als schwesterliche Freundin und Beschützerin des Paares leben lassen können.
Wenn das Essen nicht so gut gewesen wäre, hätte man somit allerseits übler Laune sein können; aber das Essen war wirklich vorzüglich. Schneider schlug es im Stillen auf zehn Mark das Couvert an, während Mietze dachte, daß Alfred gewiß mindestens acht Mark werde zahlen müssen.
Und Alfred? Und Germaine? Sie saßen fremd nebeneinander, und der eine sprach nach links und die andere nach rechts. Und sie fürchteten sich beide vor dem Augenblick, wo sie diesen Kreis verlassen mußten und wirklich begreifen sollten, daß sie nicht träumten, daß sie wahrhaft vor zwei Stunden etwas unterschrieben hatten, daß sie infolge dieser Unterschrift vor der Welt Mann und Weib hießen.
Aber dieser Augenblick kam doch. Frau Mietze, die ihr Benehmen „sehr nett“ fand, im Vergleich zu andern Brautpaaren, die immer zärtlich thaten, zog ihre Uhr und meinte, wenn sie noch ihre Sachen ordnen wollten und sich für die Reise umzukleiden dächten, würde es Zeit. Sie, die Freunde, würden alle am Bahnhofe sein.
Trotzdem nahm sie schon jetzt einen Abschied von Germaine, als sollten sie sich nie mehr sehen.
Wieder saßen sie schweigend im Wagen nebeneinander. Mit einemmal rief Germaine in einem Ton voll Leidenschaft, wie Alfred ihn ihrem ruhigen Wesen gar nicht zugetraut hätte:
„Was haben wir gethan!“
Und sie faltete die Hände wie in höchster Muthlosigkeit.
Vor diesem Ausruf verschwand plötzlich die abwechselnd traumhafte und fieberische Stimmung in Alfreds Seele. Ganz unvermittelt fand er eine Ruhe, die schmerzhafte Ruhe freilich eines Menschen, der nichts mehr zu hoffen hat.
„Was wir gethan haben,“ sagte er mit klangloser Stimme, aber in vollkommener Fassung, „wir hatten es uns überlegt. Wenn es uns in diesem ernsten Augenblick vielleicht dünkt, daß unsere Ueberlegungen lauter Trugschlüsse waren, daß wir uns mit scheinbarer Verständigkeit in etwas hineingeredet haben, was uns jetzt unfaßlich vorkommt, so wollen wir doch hoffen, daß sich unser Beisammensein segensvoller gestaltet, als es uns in unserer heutigen Stimmung möglich scheint. Wir wollen daran denken, daß wir uns nicht vermählt haben, um uns zu besitzen, sondern um als engbefreundete Genossen die Mühseligkeiten des Lebens gemeinsam zu ertragen, sie uns zu erleichtern. Und darauf, liebe Germaine, reich mir Deine Hand! Es ist ein trauriger Bund; aber daß er kein trostloser sein wird, dafür bürgt uns das innige Vertrauen, welches wir zu einander haben.“
Sie gab ihm die Hand. Mit thränenvollen Augen sahen sie sich ernst und freundlich an.
„Ich danke Dir,“ sagte Germaine.
Sie waren vor der Wohnung des jungen Mädchens angelangt. „Ich lasse Dich allein,“ sprach er, ihr beim Aussteigen helfend, „kleide Dich um, ich kehre in einer Stunde spätestens zurück, um Dich zu holen.“
Er fuhr nach seiner Wohnung auf den Leopoldsplatz und ließ den Wagen gleich warten.
Oben fand er kahle Zimmer und fertig gepackte Koffer; Fritz im bürgerlichen Kleid hantierte noch an dem Plaidriemen.
„Es ist alles fertig,“ meldete er, „meine Livreen habe ich mit in die Bücherkiste gelegt. Die Morgenjacke und die Schürzen waren das Packen nicht mehr werth; wenn Sie einen andern Diener nehmen, kann der sie doch nicht mehr –“
„Schon gut, schon gut,“ unterbrach ihn Alfred. „Wo ist die Rechnung von der Wirthin?“
„Da auf dem Tisch. Der Zettel daneben enthält die Auslagen, die ich gemacht.“
Alfred beglich alles, hieß Fritz das Gepäck an den Bahnhof bringen, und mit einem unendlichen Seufzer der Erleichterung bestieg er den Wagen wieder.
Abermals überkam ihn, wie vor Wochen, das Gefühl, daß bei Germaine der Friede sei. Und so war sein Angesicht wohl noch etwas blaß, aber doch von dem Schein neuen Muthes belebt, als er bei ihr eintrat. Sie hatte das einfache, weiße Kleid und die schwarze Schärpe, welche sie vorhin getragen, abgelegt und ihr gewöhnliches Trauergewand angezogen.
[389]
In Germainens Zimmer sah es unwirthlich aus. Auf dem Tisch
brannte die Lampe, und gegen die blanken Fensterscheiben
schlugen die regennassen Fichtenzweige, aus dem Abenddunkel
draußen hervortauchend in den Lichtkreis und wieder verschwindend.
„Bis auf mein Handtäschchen habe ich alles fertig,“ sagte sie, eifrig an demselben kramend.
„Was ist denn das?“ fragte Alfred, auf ein Packet von Briefen deutend, die, mit einem Seidenband umwickelt, auf dem Tisch am Lampenfuß lagen.
„Deines Vaters Briefe, die Du noch immer nicht gelesen hast. Mama führte sie stets im Handtäschchen mit, weil ihr theuerster Besitz ihr so am sichersten verwahrt schien. Deshalb mache ich es wie sie.“
„Hast Du sie gelesen?“
„Nein, noch nicht. Wie mochte ich das ohne Dich?“ fragte sie fast vorwurfsvoll.
„Liebes Kind,“ sagte er kurz entschlossen, „alte Briefschaften liest man am besten überhaupt nicht. Lassen wir begraben sein, was die, die auch schon begraben sind, gelitten und gefühlt haben. Es ist mir wie eine ganz unerträgliche Indiskretion, in meines eigenen Vaters Liebesroman umherzustöbern. Darum, wenn Du mir einen Gefallen erweisen willst, verbrennen wir diese Briefe hier noch zusammen.“
„Aber,“ sprach Germaine ängstlich, „ich handle damit einem Wunsche Mamas entgegen. Daß Du diese Briefe lesen solltest, war ihr Wille, und hundertmal hat sie davon gesprochen. Vielleicht sind doch wichtige Nachrichten für uns darin.“
Alfred war voll Mißbehagen. Er setzte sich widerwillig auf das Sofa, zog Lampe und Briefpacket heran und zerrte Briefe auseinander, die alle ohne Couvert waren.
„Richtig,“ sagte er, als er den ersten überflogen, den er aufs Gerathewohl herausgenommen hatte, „innigste Liebesworte, Klagen über die Unmöglichkeit, vor der Welt rechtmäßig vereint zu sein, Zorn auf Deinen Vater, welcher Deiner Mutter die Freiheit nicht geben will. – Mir ist, als sollte ich meinen Vater um Vergebung bitten, daß ich das lese.“
Er nahm einen zweiten. Germaine setzte sich zu ihm.
„Fast derselbe Inhalt. Doch ein viel späteres Datum, die Briefe liegen Jahre auseinander. Deine Mutter scheint demnach aus der ganzen Korrespondenz nur einige aufbewahrt zu haben, oder sie konnten sich selten schreiben. Hier ist von Dir die Rede, Du bist krank gewesen, mein Vater schreibt, wie er um Dich und Deine Mutter gezittert hat – – –“
Alfred verstummte. Die Worte der innigsten Mitsorge, die sein Vater dem kranken Kinde widmete, berührten ihn ganz seltsam. Er las sie wieder und wieder, und das sonderbare Gefühl wuchs dabei in ihm so, daß es ihm fast die Kehle zuschnürte.
Ein anderer Brief. Da stand „unsere süße Germaine“. Alfreds Finger, die das Blatt hielten, zitterten. An seine Schulter gelehnt, las sie, die hier so genannt war, eifrig mit.
Es war todtenstill im Zimmer. Wenn die Tannenzweige gegen das Fenster schlugen, schraken die beiden Lesenden heftig zusammen. Die Lampe brannte gleichmäßig, nur kam aus ihrem Behälter zuweilen ein leises quellendes Geräusch.
[390] „Hier,“ sagte Germaine endlich flüsternd, „hier der Brief, von dem Mama für Dich ein Stück abgeschnitten. Hast Du es? Wir wollen es daran halten.“
Alfred tastete an seiner Brust herum. Er konnte vor Erregung die Brieftasche nicht finden und, als er sie endlich hatte, darin nicht das vergilbte Brieffragment.
Germaine zog es zwischen anderen Papieren hervor. Sie legte es anpassend auf die Tischplatte zu dem entfalteten Brief.
„Wenn Du, meine theure Freundin, eines Tages eines männlichen Rathes bedürfen solltest, wende Dich an meinen Sohn. Er wird Dir und Deiner Tochter beistehen, wenn Du ihn in meinem Namen um etwas bittest. Sage ihm dann, daß ich Dich geliebt habe, aber daß unüberwindliche Hindernisse zwischen uns standen, aber sage ihm nicht,“ ……… .
So brach das Brieffragment ab, und so fuhr der Text fort, den vier brennende, starre Augen lasen und wieder lasen:
„sage ihm nicht, daß Germaine nur auf ihrem Taufschein und in den amtlichen Registern die Tochter von Heinrich Thomas ist, daß sie vor Gott mein Kind, das Kind unserer thränenvollen Liebe ist. Wenn die Stimme des Blutes sich nicht von selbst regt, wenn nicht brüderliche Neigung und schönes Vertrauen ihn von selbst erfaßt, wird es auch nicht erwachen, wenn er die Wahrheit erfährt.“
Ja, diese Stimme hatte sich wunderbar geregt und in herzlicher Geneigtheit waren ihre Seelen einander nahe gekommen. Das also war der Friedenszauber gewesen, den er in ihrer Nähe empfunden!
Seine Schwester!
Sie sahen sich an, mit großen staunenden Augen. Und das Entsetzen, das sie erst gelähmt hatte, wandelte sich plötzlich in heftige Erschütterung.
Sie fielen sich in die Arme und klammerten sich aneinander an, als nahte ihnen etwas, was sie wie eine Woge in unbekannte Tiefen ziehen wollte.
„Das also war’s, was uns zu einander zog!“ rief Alfred und sah sie wieder und wieder an, und was ihn einst so verwunderlich bekannt angemuthet – jetzt begriff er es: die Züge, die in seiner Familie erblich waren, hatten sich vereinzelt auch auf ihrem Angesichte gezeigt.
Und dann besannen sie sich, daß eine Form, eine gesetzliche Form sie vorhin zu Gatten gemacht hatte. Eine leere Form, die aber doch in dieser Stunde als ungeheuerliche Verkettung des Geschickes erscheinen mußte.
„Was nun?“ stammelte Germaine.
Alfred ging mit schweren Schritten hin und her. Sie sah ihm bangend zu.
„Wenn wir die heute vormittag geschlossene Verbindung sofort wieder lösen wollen, so kann es nur geschehen, wenn wir dem Gerichte diese Briefe aushändigen, also zwei theure Todte in ihrer Grabesruhe stören. Und dann ergiebt sich als weitere Folge, daß Du vor der Welt in die peinlichste Lage kommst, oder wir müssen auch vor der Welt den Roman unserer Eltern enthüllen. Mein Gott, wie ist das alles entsetzlich! Nein – niemals! Laß uns doch versuchen, kaltblütig nachzudenken. Was hat sich denn verändert? Was wollten wir denn voneinander? Was habe ich noch im Wagen vorhin Dir gesagt? Geschwisterlich wollten wir beisammen leben, Hand in Hand, nicht Herz am Herzen. Und das soll sich uns nun erfüllen in ganz anderer Weise noch, als wir gedacht.“
Er stieß das alles in höchster Erregung heraus. Das Ungeheuerliche in ihrer Lage, die Anforderungen, welche diese an seine Entschließungskraft stellte, wirkte beinahe betäubend auf ihn.
„Können wir,“ fuhr er fort, „können wir zum Beispiel nachher den Leuten am Bahnhof sagen: diese standesamtliche Verbindung war ein kleiner Irrthum, den wir morgen wieder rückgängig machen werden – denselben Leuten, die uns vor vier Stunden auf eben dieses Standesamt begleitet haben? Begreife es, Germaine, heute und in der nächsten Zeit müssen wir die Lüge weitertragen, die wir heute ahnungslos begannen. Und wenn wir eine Weile scheinbar verheirathet waren, dann können wir dies Band lösen, ohne das Geheimniß unserer Eltern preiszugeben. Ich weiß, da giebt es Gründe: gegenseitige unüberwindliche Abneigung, oder die eidliche Versicherung, daß die Ehe nie in Wirklichkeit bestand, sondern nur in der Form vor dem Gesetz. Es wird und muß sich dann etwas finden. Wir werden den rettenden Ausweg entdecken. Begreifst Du das, Germaine? Können wir uns auf die Gasse hinauswerfen und es allen vier Winden zuschreien, welch ein unglaubliches Spiel das Schicksal mit uns sich erlaubte? Können wir das? Tausendmal nein! Sage doch ein Wort! Sieh mich nicht so entgeistert an! Komm – jetzt hast Du ein Recht – komm an diese Brust! Weine, wenn Du kannst!“
Er breitete die Arme aus und Germaine warf sich hinein.
„Ich will nicht weinen“ sagte sie mit zitternder Stimme; „was ist denn geschehen? Es sieht nur so fürchterlich aus – morgen werden wir gefaßter darüber nachdenken. Zwischen uns hat sich gar nichts verändert – wir wollen uns fassen. Ja, es muß sich eine Form finden, den Vorgang von heute morgen ungeschehen zu machen.“
Alfred streichelte ihr sanft die Haare.
„Wie das wohlthut, Dich immer feststehen zu sehen, wenn auch der Boden unter Dir wankt!“ sagte er aufathmend.
Sie sah ihn durchdringend an.
„Und begreifst Du das Eine, Wunderbare nicht?“ fragte sie leise. „Du wolltest ein unübersteigliches Hinderniß stellen zwischen Dich und jene Frau, um die Du leidest. Da kam die wunderlichste, seltsamste Schickung, und es ist, als hätte sich dräuend ein Engel vor Dir aufgerichtet, der mit flammendem Schwert Dich zurückweist auf den rechten Weg.“
Alfred trat zurück.
„Schweige!“ sprach er hart, „von niemand, selbst von Dir nicht, will ich an sie gemahnt werden. – Und nun eile Dich! Wenn wir überhaupt noch zum Zuge kommen wollen, wird es die letzte Minute sein.“
Die unfreundliche Zurückweisung kränkte Germaine nicht. Gerade in dieser Stunde, wo jede andere zusammengebrochen wäre, richtete sie das Haupt muthig, fast freudig empor. Zum erstenmal in ihrem Leben zog etwas in ihre Seele ein von Hoffnung auf Freude und Glück. Sie war frei, sie konnte es auch vor der Welt jeden Augenblick wieder sein, und doch lebte ihr ein treuer liebevoller Beschützer, dem sie thätig ihren Dank abtragen durfte.
„Ich bin fertig,“ sagte sie, „so komm denn und laß uns klar allem entgegensehen, was an uns herantritt! Naht einem von uns das Glück, so soll das andere es ihm festhalten helfen, naht einem von uns das Unglück, so bekämpfen wir es vereint. Die Natur hat gewollt, daß wir zusammenstehen.“
Sie reichte ihm die Hand und beschämt erwiderte er ihren festen Druck.
Unter vielen Schwierigkeiten hatte Marbod Steinweber sich in seinem neuen Wirkungskreis, in seinem neuen Aufenthaltsort zurechtgefunden. Er war ein Mensch, der sich langsam anschloß, schwer offenbarte, erst nach vielen Ueberlegungen handelte und die Tiefe und Stärke seiner Empfindungen nicht mit Absicht, aber aus angeborener Zurückhaltung verbarg. Er brauchte deshalb zwischen sich und der Welt ein Vermittelndes. Alfred wäre ihm das hier geworden, wie er es ihm auch schon früher gewesen war. Die unruhige Lebhaftigkeit des Freundes zwang Marbod, zu sprechen, wo er sonst geschwiegen hätte; von seinen zahllosen Bekannten drang der eine oder andere auch in Marbods Leben und verhinderte ihn, etwas einsiedlerischen Neigungen zu folgen. Durch Alfreds liebenswürdige Gabe, andere aus sich selbst herauszulocken, lernte Marbod manchen schneller kennen und besser würdigen, an dem er allein achtlos vorübergegangen wäre.
So fehlte der Freund Marbod jetzt überall. Während die Ravenswanns noch in Berlin weilten, war es ihm eine Art Wohlthat gewesen, dort wenigstens von Alfred sprechen zu hören, denn eine ganz seltene Anhänglichkeit, eine wahrhafte Freundschaft band ihn an diesen von ihm selbst so verschiedenen Mann.
Zwar verkehrte er viel und nicht ungern mit Doktor Moritz Bendel, sah auch dann und wann Männer aus litterarischen und politischen Kreisen, die Bendel ihm vorgestellt hatte, aber Alfred vermißte er so sehr, daß er sich selbst einer kindischen Schwäche zieh.
Vielleicht waren seine Gedanken auch so stark mit dem Freunde beschäftigt, seit er jene Briefe bekommen hatte, die ihm von dem jähen Ende des heißerkämpften Glückes meldeten. Immer wieder dachte er diesen Konflikt durch, mit dem warm theilnehmenden [391] Herzen des Freundes, mit dem seelisch zergliedernden Verstand des Schriftstellers.
Er begriff alles und nichts. Wenn er sich auf die tiefstgründige Art klar gemacht hatte, daß hier zwei gleichartige, aus genau denselben Elementen zusammengesetzte Wesen sich unwiderstehlich anzögen und doch, so wie sie einander nahe kamen, feindlich aneinanderstießen, stand er doch wieder vor der Räthselfrage, ob sie imstande sein würden, ohne einander zu leben.
Er fürchtete das Schlimmste für den Freund, wenn es nicht gelingen sollte, ihn mit Gerda zu versöhnen. Aber wenn er sich Gerda und Alfred vermählt dachte, zitterte sein Herz vor Angst.
Und doch, das Kind, der Knabe, den beide vergötterten, sollte er nicht der Zauberer sein können, der ihre Herzen friedlich und fügsam machte?
Zahllose Male war er in Versuchung, wieder an Gerda zu schreiben; aber er besann sich, daß, wenn die Freundschaft zwischen ihm und Alfred auch grenzenlos sei, es doch für ihn dieser Frau gegenüber Grenzen gab, jenseits deren die Unbescheidenheit oder Zudringlichkeit anfing.
Von Tag zu Tag wartete er auf Nachrichten von Alfred. Aber dieser schwieg, und Marbod wußte, daß auch eine Bitte ihn nicht zum Reden bringen würde, wenn er schweigen wollte. An den tollen Einfall Alfreds, sich aus dieser Verzweiflungsstimmung heraus in den vermeintlichen „Friedenshafen“ einer Ehe zu stürzen, dachte er gar nicht mehr.
Der ganze Monat September verging, und Marbod suchte sich durch Arbeit über die von Sorgengrübeleien erstickte Einsamkeit hinweg zu helfen. Viele Tagesstunden nahm seine Thätigkeit als Rechtskonsulent der Versicherungsgesellschaft in Anspruch. Den Abend brachte er zumeist am Schreibtisch zu, wo sich ihm eine Novelle gestaltete, in welcher er, nicht freier Wahl, sondern unabweisbarem seelischen Zwang folgend, wie er den berufenen Menschenschilderer zuweilen regiert, die feindliche Liebe Gerdas und Alfreds darstellte. Und wenn er ihnen auch ein fremdes Kleid anzog, sie waren es doch, ganz sie. Während er sich schaffend in ihre Kämpfe vertiefte, erwuchsen ihm ungeheure Schwierigkeiten, denn auch sein prophetisches Dichterauge vermochte nicht voraus zu erkennen, welche Lösung wahr, natürlich oder wenigstens glaubhaft sei. Die Arbeit wurde ihm schließlich zur Qual. Aber ein seltsamer Gedanke, der ihm verheißungsvoll in den Kopf gekommen, ließ ihn sie dennoch fortführen. Er wollte später Gerda das Manuskript senden, ohne ein[WS 1] Wort dabei. Sie würde lesen und vielleicht, in einem Spiegel das Schreckbild ihrer vulkanischen Naturen erkennend, versuchen, ihn und sich zu bemeistern.
Gerade als Marbod vor der Entscheidung stand, ob er die Nothwendigkeit einer glücklichen oder tragischen Lösung darstellen sollte, kam ein Brief von Alfred.
Marbod wog das langerwartete Couvert in der Hand, sah, daß es nicht aus Berlin, sondern aus Frankfurt am Main kam und am zweiten Oktober abgestempelt war. Und dann las er mit einer wahren Herzensbeklemmung:
„Seit Wochen, mein alter Junge, habe ich geschwiegen. Ich habe das Entscheidendste gethan, ohne Deinen Zuspruch zu erbitten, so, geradeaus gesagt, ohne ihn hören zu wollen. Denn ich war in einer Stimmung, wo man noch demjenigen zürnt, der es sich etwa beikommen läßt, einem in die Arme zu fallen. Ich aber wollte und mußte unaufgehalten dem Ziele zurennen, an welchem ich Herzensfrieden zu finden hoffe. Zwischen mir und ihr, die Du kennst, muß ein Abgrund sich aufthun.
Wenn Du diese Zeilen liest, ist es geschehen, oder nicht mehr zu verhindern. ich verheirathe mich am vierten Oktober. Du weißt, die Tochter jener Frau, die mein Vater geliebt hat. Wenn Du Deine aufsteigenden Bedenklichkeiten mit einer Sentimentalität beschwichtigen kannst, sage Dir, daß der Segen theurer Geister uns umschwebt.
Es ist vielleicht eine krankhafte Laune, daß mich der Gedanke an weiße Brautgewänder, Schleier, Kranz und Orgelton ganz elend macht. Jedenfalls in Baden soll es nicht geschehen. Aber um ans-tändig reisen zu können, wie Mietze Ravenswann sagen würde, lassen wir uns hier civiliter verbinden. Die Kirchenweihe – für ein Mädchengemüth ist und bleibt das nun einmal die eigentliche Trauung, und nicht der Mund des Standesbeamten, sondern der Priestermund spricht für sie das rechtskräftig nachwirkende Wort – die Kirchenweihe also soll unser Bund in Berlin haben unter Deiner Zeugenschaft. Besorge alles. Kirche, Prediger, Zeugen. Der eine bist Du. Zum zweiten hätte ich mit Absicht gern jemand, der ihrem Kreise angehört, also vielleicht Prasch. Und dann gehe zu meiner Frau Wirthin und vermelde ihr, daß meine alte Wohnung nicht mehr genüge, ich wolle zwei Zimmer dazu haben. Ist bei ihr nichts frei, so miethe was anderes anständig Möbliertes. Vier Zimmer und ein Mädchenzimmer sind nöthig.
Wir kommen am fünften Oktober mittags zwei Uhr an und erwarten Dich auf dem Bahnhof Friedrichstraße.
Glaube mit, nun werde ich ruhig.
Dein Alfred.“
Mit einer immer wachsenden Bekümmerniß las Marbod diesen
Brief. Zuerst fand er ihn frivol, aber das war der Eindruck, der mit
Sekundenschnelle kam und ging. Er kannte den Freund und wußte,
daß ihm leichte Worte von bitter zuckenden Lippen gehen konnten.
Die oberflächliche Art der Anordnungen für eine Kirchentrauung erweckten in Marbod sogleich den Vorsatz, nichts zu thun, denn er sagte sich, das neue Ehepaar könne sich das selbst bestellen, wie die junge Frau es am liebsten haben wollte.
An dieser jungen Frau hafteten seine Gedanken am längsten. Wie hatte ein Mädchen von Gemüth und Urtheilsfähigkeit in eine so überstürzte Ehe willigen können, noch dazu mit einem Manne, der sie nicht liebte und ihr gewiß auch keine Liebe vorgeheuchelt hatte! Denn dafür kannte er Alfred genau: weder mit Blicken noch mit Worten konnte er jemand etwas vortäuschen und am wenigsten einem Weibe Liebe.
Aber es war doch sehr leicht denkbar, daß sie ihn liebte – galt er doch als der „Unwiderstehliche“, und hatte Marbod es doch unzähligemal angesehen, wie oft, und wie oft unerwünscht und ungesucht, sein Freund Erfolge hatte. Vielleicht liebte sie Alfred und hoffte, seine Liebe zu erringen.
Oder aber, sie befand sich in hilflosester Lebenslage und wollte nur versorgt sein.
In jedem Falle: welch’ ein seltsamer erschreckender Ehebund!
Marbod fühlte, daß seine Beklemmung sich allmählich in tiefste Traurigkeit umwandelte. Er begriff, daß er durch diese Heirath den Freund ganz verlieren könnte, und der Gedanke an diesen Verlust war ihm so schmerzlich, als sollte ihm mit einem Federstrich die Erinnerung an viele sonnenhelle Jugendjahre ausgelöscht werden.
Die Gründe zu diesem Verlust konnten doppelte sein: er sah der Frau mit dem stärksten und durch die Umstände, unter denen sie Alfreds Gattin wurde, wohl gerechtfertigten Vorurtheil entgegen, und es konnte sein, daß dieses Vorurtheil sich bestätigte und seine Ehrlichkeit ihm dann verbot, weiter mit Alfred zu verkehren. Oder aber, die junge Frau konnte, eben in der Nothwendigkeit, sich Alfreds Liebe erst erobern zu müssen, eifersüchtig auf alle und alles sein, was den Gatten an frühere Zeiten gemahnte, und dahin streben, ihn – Marbod – von dem Freunde zu trennen.
Es bedurfte einer gewissen Willensanstrengung, daß er sich allen Grübeleien entriß, die er selbst als nutzlos erkannte. Die Thatsachen, mit denen es zu rechnen galt, konnten ganz andere sein, als er sie sich vorstellte.
Er beschloß, an diesem Abend nicht zu arbeiten, sondern im Café Kaiserhof Bekannte aufzusuchen. Zu seinem Mißgeschick war der runde Tisch in der Tiefe des nach dem Ziethenplatze zu belegenen Saales noch ganz leer, obgleich es bald zehn Uhr abends war und gerade sein Kreis sich hier schon früher zusammenfand.
Er fragte den Kellner und erhielt die Antwort, es sei eine Premiere im Schauspielhaus.
Marbod vertiefte sich in die Lektüre von gleichgültigen Zeitungen. Rings um ihn schwirrte das gedämpfte Geräusch des Kaffehauslebens. Dominosteine klapperten, Sprechen und Lachen, das Räderrollen und die dumpfen Tritte der Pferdehufe auf dem glatten Makadam draußen, das Aneinanderprallen von Billardkugeln, das vom andern Ende des Cafés manchmal hertönte, das Rücken von Stühlen und Knistern von Zeitungen – das alles gab zusammen ein endloses anheimelndes Geräusch. Der Raum war von bläulichem Cigarrenrauch leicht durchwölkt und die elektrischen Lämpchen hingen gleich Tropfen in dem Qualm. Die hohen Fenster waren dick beschlagen, und im Gegensatz zur Herbstkühle der Nacht war es hier sehr warm. Die Gemüthlichkeit des Kaffeehauses war behaglich ausgebreitet; Marbod, der sie zuweilen im Gegensatz zu seiner Junggeselleneinsamkeit sehr angenehm empfand, hatte heute keinen Sinn dafür.
[394] Immer eilten seine Gedanken zu dem unglückverheißenden Ehebund des Freundes. Unwillkürlich verglich er sich mit ihm. Er gestand sich, daß er niemals, in keiner Lage des Lebens sich hinreißen lassen könnte, so blind, so absichtlich blind die folgenschwersten Dinge zu unternehme. Und nun gar eine Heirath!
Vor ihm erstand das Bild jenes blonden schönen Mädchens, welches er vor drei Monaten in Schwalbach gesehen hatte und welches immer wieder in sein Gedächtniß zurückkehrte.
Aus Frankreich heimkehrend, hatte er damals seine verschiedenen Verwandten aufgesucht und, während die Vorverhandlungen wegen seiner jetzigen Stellung liefen, sich bald da, bald dort in Mitteldeutschland aufgehalten, die Geschwister seiner verstorbenen Mutter gesehen, in Frankfurt seine einzige dort verheirathete Schwester besucht und diese nach Schwalbach zum Kurgebrauch gebracht.
Dort hatte er einige Tage „aus der Ferne“ ein junges Mädchen beobachtet, das eine kranke Mutter hingebend pflegte. Das heißt, die „Ferne“ war eigentlich die Nähe eines Nachbarbalkons gewesen. Seine Schwester, selbst entzückt von der ersichtlichen Geduld, Ergebung und immer gleichen Freundlichkeit der schönen Blondine, hatte es verstanden, sich mit ihr bekannt zu machen. Sie bemerkte zwar, daß die kranke Dame und deren vielbeschäftigte Tochter keine Zeit und Neigung zu Badebekanntschaften hatteb, aber ihre Vorliebe machte sie etwas zudringlich, sie redete die Damen immer wieder an und stellte sogar gelegentlich den Bruder vor.
Marbod wußte nicht, ob er irgend welchen Eindruck gemacht oder irgend eine Erinnerung hinterlassen hatte. Er selbst hatte erst im Lauf der vergangenen Monde erkannt, daß sich das Bild jenes Mädchens in seiner Seele festgesetzt hatte als Bild vollkommenster Weiblichkeit.
Wie oft hatte er schon vorgehabt, seine Schwester brieflich zu fragen, ob sie mit der kranken Frau Thomas oder ihrer Tochter Germaine näher bekannt geworden sei, ob sie Beziehungen unterhalten habe und den Wohnort der Damen anzugeben vermöge. Aber seine zögernde Art hatte ihn immer davon zurückkommen lasse.
Nun jedoch, durch die Gefahr, den Freund zu verlieren, fühlte er sich plötzlich von dem zwingenden Wunsch ergriffen, zu lieben und geliebt zu werden. Nicht unruhvoll, leidenschaftlich, unglücklich und maßlos wie Alfred, sondern ruhig, felsensicher und lebenbeglückend.
Er wollte schreiben, hier auf der Stelle. Eben rief er nach Papier und Tinte, als Doktor Moritz Bendel und Herr von Prasch ankamen. Der erstere, wie immer in tadelloser Eleganz gekleidet, hing seinen Ueberrock und seinen Cylinder an den nächsten Haken und warf, noch ehe er sich setzte, einen flüchtigen Blick in den Spiegel. Sein schönes, höfliches Gesicht veränderte sich um keine Miene, als er Marbod die Hand reichte und sprach:
„Sieht man Sie endlich einmal, lieber Steinweber? Waren Sie im Theater? Nicht? Unglaublich! Ja, wo wollen Sie denn die Berliner Gesellschaft kennen lernen?“
Prasch, der immer irgend etwas „Merkwürdiges“ anhatte – so behauptete Bendel wenigstens – wickelte sich noch immer aus den Falten eines zu weiten genialen Havelocks und erreichte nur mit Mühe die Höhe des Kleiderrechens, um seine verfrühte Pelzmütze anzuhängen.
[411]
Herr von Prasch setzt unweigerlich am einundzwanzigsten März
den weißen Strohhut und am dito September die Pelzmütze
auf,“ sagte Bendel und wandte sich dem Kellner zu, mit ihm über
den Belag von Brötchen, die er essen wollte, zu unterhandeln.
Herr von Prasch that, als höre er die Hänselei nicht. Bendel hatte damals eine nette Notiz über das Wagnerbuch gemacht und er hoffte, daß Bendel über das bevorstehende Buch über Hölderlin eine noch nettere machen werde, und somit hätte er sich von Moritz Bendel sogar mißhandeln lassen.
„Aber bester Steinweber, Sie waren nicht im Theater?“ sagte auch er, „es war ein Abend – roh – empörend – man hat diesen armen Weinhardt ausgepfiffen – nun, wie man eben nur in Berlin auspfeifen kann. Mein Gott, der Mann muß sich ja wie geächtet fühlen!“
„Ausgepfiffen?“ rief Marbod, „aber ich fand bei der Lektüre das Stück nicht unbedeutend, und in Hamburg, Frankfurt und Leipzig hat es gefallen.“
„Du meine Güte,“ sprach Bendel mit ruhiger Verächtlichkeit, „was Prasch für enfantile Ansichten hat! Weinhardt sich geächtet fühlen! Mit der Hautbeschaffenheit! ‚Kinder,‘ sagte er zu mir und Müllberg, ‚den Sekt trinken wir beim nächsten Stück.‘ Und das reussirt auch. Das ist er und das Publikum bei seinen Schauspielen so gewohnt – einmal auf und einmal nieder. Wäre das heutige zufällig an einem Tage drangekommen, wo ein Erfolg an der Reihe war, hätte man rasend geklatscht.“
„Mit welchem Cynismus Sie von dem Werke mühseliger Arbeit sowohl als von dem Urtheil des Publikums sprechen, Sie, der Sie auf beides angewiesen sind und vor beidem Respekt haben sollten!“ sagte Marbod unwillig.
Bendel zuckte die Achseln.
„Ich würde mich nie getrauen, hier ein Stück aufführen zu lassen,“ sagte Herr von Prasch ängstlich.
„Sie gehören auch nicht zu denen, die in Versuchung kommen, eins zu schreiben“ bedeutete ihm Bendel, „Sie leben von Küchenabfallen.“
„Wieso?“ fragte Prasch ganz unbefangen.
Bendel wollte ihm darauf mit noch größerer Unbefangenheit die tiefe Verachtung klar machen, die er – Bendel – für jene hätte, welche nichts zu schreiben imstande wären, wenn andere nicht vorher geschrieben hätten; für jene, welche aus gleichgültigen Briefen, nebensächlichen Anekdoten großer Männer so lange Bücher und Artikel machten, bis sie selbst einen Namen hätten.
„Wie ich sie hasse,“ sprach Bendel, der mit olympischer Ruhe gegenwärtigen Personen die allergrößten Unannehmlichkeiten sagen konnte, „wie ich sie hasse, diese Goethe-Müller, Schiller-Meier, Wagner-Lehmann, Lessing-Schulze, die dann Autoritäten über ihren Helden geworden sind, ohne auch nur eines einzigen eigenen Gedankens fähig zu sein! Im ganzen halte ich es für geschmacklos, eine alte Anekdote zu erzählen, aber vielleicht kennen Sie sie nicht, lieber Prasch, und wenn Sie erst der Hölderlin-Prasch geworden sind, mögen Sie sich ihrer erinnern.“
„Ich bitte Sie!“ sagte Marbod, der die Anekdote kannte. Prasch sah ihn ängstlich an.
„Also,“ begann Bendel unerbittlich, „beim Bauern Klaas wird Heu gefahren und man hat von der Tenne bis zum Boden eine schräge Stiege errichtet, auf welcher das Heu hinauf geschafft wird. Der Ochs des Bauern frißt von den Abfällen, die auf der schrägen Ebene verstreut sind. Mit einem Male sieht unser Klaas, der vor der Thür steht, das Haupt seines Ochsen käuend aus der Bodenluke gucken. ‚Jehann,‘ fragt er seinen Knecht, ‚uns Os is up’n Böhn, woans is he rupper kamen?‘ – ‚Je, Herr, he hett sik rupper lickt.‘“
Einige hinzukommende Kollegen Bendels überhoben Prasch der Qual, auch noch zu lachen. Während Bendel diese begrüßte, flüsterte Prasch.
„Er ist doch boshaft.“
„Widerlegen Sie ihn, indem Sie Eigenes schaffen,“ sagte Marbod.
„Das hat die Gräfin Mollin mir auch schon gerathen,“ gab Prasch mit einer wahrhaft unglücklichen Miene zu. Man sah es dieser Miene an, daß er zugleich die Verpflichtung und das Nichtkönnen fühlte, seiner Freundin „Genie“ zu zeigen.
Nun wurde es sehr laut und lustig am Tisch; alle Welt machte gute und schlechte Witze über das zu Grabe getragene Stück. Fast jedermann zeigte Schadenfreude darüber, daß der allzu rasch emporgestiegene Autor wieder zurückgeschleudert worden sei.
Marbod mußte des Vergleiches gedenken, den Alfred einmal gemacht hatte, als er sagte, er sähe die ganze Welt auf einer Leiter klettern. Und Marbod fühlte den Unterschied zwischen sich und diesen Männern. Diese sahen höhnisch hinab auf die Nachklimmenden oder neidisch auf die Voranstrebenden; er aber sah nur empor zum Ziele.
Die Zerstreuung, die er gesucht, hatte er gefunden, aber ihm war doch recht leer ums Herz, als er spät in der Nacht heimkam. Und aus dem ganzen Chaos von Eindrücken, die er heute hatte aufnehmen müssen hob sich wieder lebhafter als jemals die wohlthuende Erinnerung an das blonde Mädchen, welches er beim stillen Samariterthum beobachtet hatte.
Aber zu dem Brief an seine Schwester war es nun zu spät geworden und er verschob ihn auf den folgenden Abend.
Am nächsten Morgen dachte er ernstlich nach, auf welche Weise er Alfred und seinem jungen Weibe wohl eine festliche Ankunft bereiten könnte. Er erbat sich Urlaub für diesen Tag und – sich seiner Mutter erinnernd, die alle Familienfeste so heiter zu verschönern gewußt hatte durch eine kleine Verschwendung in Blumen – kaufte er eine ganze Menge von blühenden Gewächsen, Sträußen und Kranzgewinden. Er ließ alles nach der alten Wohnung Alfreds schaffen, wo die Wirthin weitere zwei Zimmer herrichtete und dem jungen Mann auch gutwillig half, den blühenden Schmuck anzubringen.
Marbod war bei diesem festlichen Thun recht weh ums Herz. Ihm war es, als ob Gerdas Augen ihm zusähen und als ob er in diesen Augen eine große schmerzliche Frage läse. „Weiß sie davon?“ dachte er plötzlich. Und eine große Sorge ergriff ihn. „Was wird sie beginnen, wie es ertragen? Kann sie das überleben? Ist es nicht eine Schmach für sie? Muß sie sich nicht vergessen wähnen? Oder wenn sie ihn so durchschaut, daß sie weiß, er handelte in trotziger Verzweiflung – wird sie nicht kommen und diesem Weibe sagen: ‚Er ist dennoch mein‘?“
Je mehr die Stunde nahte, wo er Alfred begrüßen sollte, je mehr ergriff ihn, den stets Gesammelten, eine Nervosität, die ihn wahrhaft peinigte.
In den letzten Minuten vor der Einfahrt des Zuges, während er in der riesigen Glashalle des Bahnhofes stand, schlug ihm das Herz bis zum Halse hinauf.
Da – da kroch eine schwarze Schlange langsam heran; ein geller Pfiff durchschnitt die Luft.
Und da war Alfreds Gesicht am Fenster. Marbod lief am Zuge entlang bis zu dem Wagen, wo er den Freund gesehen hatte, und mit einer Bewegung, die sie beide sonst nie nach langer Trennung gezeigt hatten, fielen sie sich in die Arme.
Dann sah Marbod den Freund an. Der erschien ihm sehr bleich und überwacht, wie ein Mensch, dessen Züge von vielen schlaflosen Nächten zerstört sind. Und auf der Stirn, zwischen den Brauen hatte er eine Falte, die da früher so tief nicht gestanden.
Sie wechselten kein Wort, nur Blicke, tiefe, ernste Blicke.
„Und Dein Weib?“ fragte Marbod dann.
„Mein Weib? Ja – so,“ sagte Alfred aufwachend.
Auf der langen Reise, in vielen harmlos zerstreuenden Gesprächen mit Germaine hatte er fast vergessen, was gestern auf dem Standesamt in Baden geschehen war.
Er wandte sich um; Marbod sah voll Spannung auf die schöne, hohe Gestalt, die, ihm den Rücken wendend, noch beschäftigt war, Handgepäck aus dem Coupé zu nehmen. Er sah unter dem schwarzen Hut einen dicken Haarknoten hervorquellen.
„Seltsam – ebenso blond,“ dachte er.
[412] „Komm, Marbod, ich will Dich vorstellen,“ hörte er Alfred sagen, und dann kein Wort mehr.
Nicht imstande, seinen tödlichen Schrecken zu bemeistern, stand er und sah Germaine an, die ihrerseits nach einigen Augenblicken, in denen es schien, als sammle sie eine Erinnerung, sehr freundlich sagte:
„Ich glaube, ich habe schon einmal flüchtig das Vergnügen gehabt – in Schwalbach, nicht wahr, durch Frau von Zech. Wie geht es Frau Hauptmann von Zech? Wir haben nicht wieder von ihr gehört, seit sie aus Schwalbach ging.“
Und zu ihrem Unbehagen wurde Germaine bei den alltäglichen Worten ganz roth und fragte sich, wo in aller Welt denn hier eine Veranlassung zum Erröthen sei.
Alfred aber sah die vollkommene Fassungslosigkeit in seines Freundes Gesicht. Erst begriff er nicht, was das bedeute. Dann, als Germaine sprach, kehrte plötzlich in sein Gedächtniß zurück, was Marbod ihm einmal gesagt von einem Mädchen, „blond und ruhevoll, kraftvoll und rosig, das ganze Wesen eine Wohlthat“. Er lächelte. Ein sonderbares, ironisirendes Lächeln.
Er klopfte Marbod auf die Schulter und sagte:
„Ich hoffe, Ihr werdet die besten Freunde sein. Germaine soll der gute Engel unserer Winterabende werden. Aber nun komm! Gieb ihr den Arm, wir wollen einen Wagen nehmen. Du fährst doch mit uns? Hast Du alles besorgt?“
Marbod hatte sich bezwungen. Mit ruhiger Stimme, die aber feindselig kalt klang, antwortete er:
„Nicht alles. Nur die Wohnung. Was die kirchliche Trauung anbetrifft, so waren Deine Befehle zu ungenau, um ausgeführt werden zu können.“
„Desto besser. Wir verzichten auf eine Trauung – allerlei Gründe – genug, es kann nicht sein, lassen wir es. Vorwärts also zum Wagen!“
Und Alfred ging so hastig voran, daß Marbod nichts übrig blieb, als mit Germaine zu folgen.
Er fühlte, daß er etwas sagen müsse. Doch wollte ihm kein leeres Wort über die Lippen. Wenn er sie nicht felsenfest geschlossen hätte, würde eine heftige, vorwurfsvolle, erniedrigende Frage herausgekommen sein. „Wie konntest Du, gerade Du, ohne Liebe heirathen? Ist Deine Weiblichkeit also nur Komödie gewesen?“ Der Schmerz, den jede Enttäuschung bereitet, war ihm sehr bitter.
Germaine wunderte sich, daß er nicht sprach, auch ihre erste Frage nach seiner Schwester nicht beantwortet hatte. Ein Gespräch über gemeinsame Bekannte ist doch sonst die willkommenste Aushilfe zwischen Fremden, die zusammen sprechen müssen.
Sie wartete so lange auf eine Anrede von ihm, bis auch sie zu verlegen ward, um ihrerseits anzufangen.
Alfred erwartete sie am Wagen und sah sie so schweigsam nebeneinander herankommen.
„Du fährst mit uns?“
„Nein!“
„So kommst Du heute abend?“
„Nein!“
„Aber ich bitte Sie,“ begann hier Germaine mit unsicherer Stimme, „mich nicht glauben zu machen, daß meine Gegenwart Ihren freien Verkehr mit Alfred stört. Ich weiß, daß Ihre Freundschaft das Beglückendste für ihn ist. Sie werden nicht aufhören dürfen, ihm Beweise derselben zu geben, wenn Sie ihn nicht unglücklich machen wollen.“
„In der That,“ sagte Marbod, sich zu einer Lüge aufraffend, „ich fürchtete zu stören.“ Er wußte recht gut, daß Alfred einfach sagen würde. „Wir brauchen Dich nicht,“ wenn er mit Germaine hätte allein sein wollen.
„Wir wollen immer so wahr bleiben, wie wir es gewesen sind,“ sprach Alfred, gab ihm die Hand und sah ihn fest an.
Dieses Wort und dieser Blick trafen Marbod; ihm schien es, als durchschaute Alfred ihn vollkommen.
„Also heute abend,“ sagte er tonlos.
Alfred und Germaine fuhren davon. Er stand und sah dem Wagen nach.
„Und ich – ich habe ihr die Rosen auf die Schwelle der neuen Heimath streuen müssen,“ dachte er bitter.
Die Ravenswann und die Schneider hatten nach der interessanten Hochzeit nicht mehr lange Ruhe in Baden-Baden gehabt. Sie packten ihre Sachen und beschlossen, nach einem kleinen Besuch in Heidelberg, wo der Assessor studiert hatte, nach Berlin zurückzukehren.
In Heidelberg wurde den beiden Frauen eine Begegnung, die sie dann noch tagelang beschäftigte. Während ihre Männer Ravenswanns alte Corpskneipe zu einem Frühschoppen aufsuchten – eine Unregelmäßigkeit in der Lebensweise, die der Assessor sich nur einmal jährlich und nur hier gestattete – saßen die Frauen reisemüde und gelangweilt auf der Terrasse vor ihrem Hotel, den Mittagsschein der Herbstsonne noch benutzend.
Da fuhr ein Wagen vor, der Portier eilte heraus, öffnete den Schlag und wartete, bis die Herrschaften, die ihn benutzen wollten, aus dem Hause kamen.
Eine mittelgroße Dame erschien; sie trug einen Reisemantel, einen grauen Filzhut und über diesem, sowie um Gesicht und Haar einen grauen Gazeschleier. So ein glänzender Seidenschleier, der Hut und Haupt umhüllt, wirkt undurchdringlich; Marie Ravenswann konnte nicht einmal sehen, ob die Dame jung oder alt sei. Aber das Kind, welches an der Hand des Mädchens folgte, kam ihr sehr bekannt vor.
Auf einmal, durch einen Blick von Jettchen Schneider belehrt, wußte sie es: der kleine Offingen.
Mit athemloser Spannung sahen sie nun zu, wie die verschleierte Dame einstieg, wie die Jungfer das Kind in den Wagen hob und es mit einer Reisedecke umwickelte. Dann schloß der Portier den Wagen und kehrte mit der Jungfer in das Haus zurück.
Als wenige Minuten nachher der Oberkellner unter die Thür trat, winkte Frau Doktor Schneider ihn heran.
„Bitte, sagen Sie doch, Herr Oberkellner, wohnt eine Baronin Offingen hier?“
„Allerdings. Die Dame sind aus Baden-Baden mit dem jungen Herrn Baron und Bedienung,“ antwortete der beflissene Mann.
„Schon lange?“
„Seit gestern.“
„Wissen Sie, ob die Herrschaft lange hier bleibt?“ fragte Frau Schneider weiter. Frau Marie besaß nicht die Souveränität im Ausfragen wie ihre Freundin und setzte ein bißchen zu ängstlich vor dem Kellner hinzu:
„Wir kennen die Dame nämlich, daher interessirt es uns.“
„So viel ich weiß,“ sagte der Mann höflich, „sind Frau Baronin hier, um den berühmten Professor Willradt zu konsultieren.“
„Sie ist krank!“ riefen beide Frauen und sahen sich an.
„So viel ich weiß, der kleine Junker. Wie die Bonne sagt, soll es erblich sein.“
„Danke,“ sagte Frau Doktor Schneider, gnädig mit dem Kopfe nickend. „Du mußt wissen, Mietze, daß der erste Mann der Offingen an der Schwindsucht starb.“
„Wie gräßlich! Da kann man wirklich von der sichtbaren S-trafe des Himmels s-prechen, die die leichtsinnige Frau trifft. Das einzige Kind! Ja, wo einmal Auszehrung in der Familie ist …“
„Unsinn,“ sagte Frau Doktor Schneider, „mein Mann sagt, Auszehrung giebt es nicht, das sind Tuberkeln und das ist organisch, freilich auch erblich und ansteckend.“
Sie harrten auf ihrem Platz aus, bis die Baronin Offingen zurückkam, und konnten, als sie mit dem Kinde vorüberging, den halblauten Ausruf „wie elend!“ nicht unterdrücken, wobei Gerda von Offingen sichtbar zusammenzuckte, ohne übrigens aufzusehen. War dieser Ausruf Mitleid mit dem zarten Kind? Mit der geprüften Mutter? War er das triumphirende Gefühl, mit dem der vermeintlich Gerechte sich über den vermeintlich Ungerechten erhebt? Vielleicht war beides, das Mitleidige und das Schadenfrohe, darin vermengt, denn die Regungen des Herzens sind oft unentwirrbar verwoben aus Schlechtem und Gutem.
Tagelang sprachen sie noch davon, und Frau Mietze nahm sich vor, bei der ersten Gelegenheit Alfred davon zu erzählen. Sie brannte darauf, ihn wiederzusehen, und sowie sie in Berlin ihre ganze Wohnung reingemacht hatte, mit einer Umständlichkeit, als habe sich dort in den fünf Wochen der Staub eines Jahrhunderts angesammelt, erließ sie Einladungen zu einer Abendgesellschaft.
[414] Sie hatte das Recht, hiernach zu erwarten, daß „die Haumonds“, wie sie Alfred und Germaine nun nannte, ihr sofort einen Besuch machen würden, um selbst für die Einladung zu danken.
Richtig erschien auch Germaine schon am folgenden Tag.
„Ich bitte Sie, Alfred zu entschuldigen. Er ist sich vollkommen der Unhöflichkeit bewußt, die er begeht, allein er rechnet auf Ihre freundschaftliche Nachsicht, die Sie ihm so oft bewährt haben. Er ist so in Arbeit vertieft, daß er sich ungern seine besten Stunden durch gesellschaftliche Pflichten zerstört,“ sagte Germaine.
Sie sah noch gerade so aus wie in Baden, worüber Frau Mietze sich wunderte, denn sie hatte immer die naive Vorstellung, man müsse den Menschen jede Veränderung ansehen, und ebenso eine naive Unbescheidenheit, die Leute daraufhin anzustarren.
„Man ist es ja gewohnt, Herrn von Haumond alles immer anders machen zu sehen, als andere Leute es thun,“ sprach Frau Ravenswann spitzig. „Ich hatte gedacht, daß Sie ihn ein bißchen erziehen sollten. Aber morgen abend hat er doch Zeit, uns die Ehre zu schenken?“
Germaine sagte, daß sie so frei sein würden.
Hierauf fand Frau Ravenswann ihren wohlwollenden Beschützerton wieder und fragte:
„Na Kinder, wie habt Ihr es Euch denn eingerichtet, und seid Ihr glücklich?“
Sie betrachtete es als ihr einfaches Recht, von Germaine in alle kleinen Geheimnisse ihres neuen Lebens aufs genaueste eingeweiht zu werden.
„Wir haben uns vorerst gar nicht eingerichtet, sondern bewohnen einige möblirte Zimmer. Alfred denkt, sich auf dem Lande anzukaufen. Und wir haben uns zunächst nur auf Steinwebers Zureden entschlossen, hier zu bleiben, bis Alfred mit der Uebersetzung eines englischen philosophischen Werkes fertig ist. Marbod Steinweber fand das Begonnene zu werthvoll, um es als Bruchstück ungenützt liegen zu lassen,“ erzählte Germaine.
„Ach – auf dem Lande will er sich ankaufen? Das kann reizend werden. Nur ja dicht bei Berlin, dann kommen wir im Sommer immer hinaus. So auf dem Lande zu Besuch sein, ist meine Schwärmerei. Aber sagen Sie doch, wie ist er so als Ehemann – ganz leicht ist wohl nicht mit ihm umzus-pringen. Zeigt er Ihnen auch ein bißchen die Sehenswürdigkeiten von Berlin?“
Germaine wußte wirklich nicht recht, wie sie diese mit ganz gutmüthiger Zudringlichkeit gestellten Fragen beantworten oder abweisen sollte.
„Ich mag nicht ausgehen,“ sagte sie, „wir sind immer zu Hause und jeden Abend kommt Marbod Steinweber.“
„Was? jeden Abend? zu einem jungen Ehepaar? wie unpassend! Ich hätte ihm mehr Zartgefühl zugetraut,“ rief Marie in heller Entrüstung.
„Er ist uns beiden sehr willkommen,“ sprach Germaine, während ihr Gesicht ganz roth wurde.
Was ist denn das? dachte Frau Marie. „Wenn Sie und Alfred denn nicht ohne Marbod S-teinweber sein können, so wird es Sie freuen, daß er morgen abend auch hier ist,“ sagte sie.
Beide wußten nicht mehr, was sie zusammen sprechen sollten. Germaine erhob sich. An der Thür begann Marie nochmals, allerlei zu fragen, nach der Bedienung und der Art, wie sie sich beköstigten, und andern Nebenumständen, die sie allesammt nichts angingen. Zum Schluß betonte sie noch mit einem unausgesprochenen, aber fühlbaren Tadelhinweis auf Alfreds Unhöflichkeit, daß sie, und natürlich ihr Mann mit, morgen vormittag einen Besuch bei Haumonds machen würden.
Wirklich erschienen sie denn auch, beide in ganz feierlichen Besuchsanzügen. Bei diesem Wiedersehen mit Alfred fühlte Frau Mietze sich sehr enttäuscht, denn er kam ihr gerade so „sonderbar“ vor wie früher und ebenso boshaft.
Der Assessor sprach sehr steif und gemessen mit Germaine, Alfred unterhielt Frau Ravenswann. Dabei sah er sie aus seinen hellen durchdringenden Augen mit seinem kältesten Blick an, gleichsam als sähe er sie zum erstenmal und wollte sie ergründen.
„Mein Gott,“ dachte er dabei, „wie elend muß ich gewesen sein, um dieser Frau Freundesrechte an mich und Germaine einzuräumen!“
Und er staunte sie immerfort an.
Dieser Blick ärgerte natürlich Frun Marie um so mehr, als sie ihn nicht verstand. Der Wunsch regte sich in ihr, ihn wieder zu ärgern.
„Wir haben die Offingen in Heidelberg gesehen,“ sagte sie plötzlich, „sie war dort, um für ihr krankes Kind den Professor zu konsultieren.“
Alfred erblaßte so, daß selbst Marie erschrak und es ihr wirklich leid that, den Namen der Baronin genannt zu haben.
Er faßte mit eisernen Fingern die Falten der Tischdecke zusammen, blieb wie athemlos unbeweglich auf seinem Stuhl und hielt die Lider sekundenlang geschlossen.
Er antwortete nichts. Kein Laut, nicht einmal ein Seufzer kam von seinen Lippen.
Germaine hatte den Vorgang wohl bemerkt. Sie wandte sich augenblicklich an Marie mit der Frage, wie sie dieses Zimmer und die Lage der Wohnung finde und ob es ihr – Germainen – nicht gelungen sei, dem Raum einen Anstrich von intimer Gemüthlichkeit zu geben, was allerdings angesichts der furchtbaren rothen Plüschmöbel sehr schwer gewesen sei.
Marie erklärte alles für entzückend und bat, die ganze Wohnung sehen zu dürfen, was Germaine sonderbar, aber nicht zu verweigern fand.
Auch dieser Besuch endete.
Auf der Straße trennte Frau Marie sich von ihrem Gatten und nahm einen Wagen, um schnell zu ihrer Freundin Schneider zu gelangen.
„Denke Dir,“ berichtete sie dieser mit fliegendem Athem, „bei den Haumonds ist es nicht richtig. – Nein, danke; ich kann mich nicht erst setzen; ich muß noch Besorgungen für heut abend machen. Aber ich mußte Dich schnell s-prechen. – Gestern war sie bei mir, sie wird roth, wenn man von S-teinweber s-pricht. Heute war ich da; er wird blaß, wenn man von der Offingen anfängt. Und ich habe ihre Wohnung besehen: er schläft im ersten, sie im vierten Zimmer, dazwischen liegen Eß- und Wohnzimmer. Daß das mindestens komisch ist, mußt Du zugeben.“
Natürlich gab Frau Schneider es zu, aber sie hatte es sich gleich gedacht, daß diese überstürzte Ehe kein Glück bringe. Wer wußte, ob die Offingen ihn nicht mit Vorwürfen oder gar noch mit ihrer Liebe verfolge, und ob die arme junge Frau sich nicht mit Steinweber tröste.
Wenn dem so wäre, meinte Frau Mietze, wollte sie doch als warnende und wachsame Freundin dazwischen treten.
Vorderhand beschlossen sie, zunächst sehr genau aufzupassen.
Und die drei Verdächtigen gaben denn auch am Abend eine Unmenge Stoff zu Bemerkungen.
Erstens kamen sie zusammen an und Marbod erwähnte, daß er Alfred und Germaine abgeholt habe.
Dann zeigte Alfred sich den ganzen Abend von einer übermüthigen Heiterkeit, sprach aber fast nie und dann in ganz alltäglichem Ton zu Germaine. Es gelang den beiden Wächterinnen nicht, nur einen zärtlichen Blick, nur ein Schmeichelwort aufzufangen zwischen Alfred und Germaine.
Wohl aber glaubte Marie zu sehen, daß Alfred zuweilen forschend von Germaine zu Marbod sah, wenn sie, was fast unausgesetzt geschah, zusammen sprachen. Andererseits flog oft ein beobachtender Blick von Germaine zu Alfred, als dieser begann, „auf Tod und Leben die Kour zu schneiden“, und zwar Frau Marien.
Mit einem eifersüchtigen Mann haben Frauen immer Mitleid, mit einer eifersüchtigen Frau niemals.
Marie hielt Germainens Blicke für Eifersucht, fand das albern, denn sie – Marie – hatte Alfred schon gekannt, als er noch gar nicht an Germaine dachte, und bedauerte Alfred von Herzen, denn es war doch offenbar, daß er Grund zur Eifersucht hatte und daß, wenn nicht alles so war, wie es sein sollte, die Schuld an Germaine lag. Sie beschloß, mit Marbod ein ernstes Wort zu reden.
Beim Aufbruch kam ihr Mann ihr zu Hilfe, natürlich ohne von ihrem Vorhaben eine Ahnung zu haben.
„Noch ein Wort, Steinweber,“ bat er, als alle fünf Gäste zusammen sich verabschiedeten.
[429]
Du wünschest?“ fragte Steinweber den Assessor, mit heimlichem
Bedauern Alfred zunickend. Für sie, die späte Stunden gewohnt
waren, bedeutete dieser Aufbruch noch kein Ende des Abends,
und sie hatten verabredet, nachher noch in ein Café zu gehen.
Aber in Ravenswanns Gegenwart durfte man sich nicht
verständigen, wo man sich nun treffen wollte, denn der
Assessor würde es aufgefaßt haben, als gehe man hungrig,
durstig und unbefriedigt von ihm und suche nach Entschädigung,
– Ravenswann nöthigte Steinweber erst wieder
zum sitzen, holte eine Flasche Wein vom Abendtisch
und schenkte ein, ehe er mit seinem Anliegen herauskam.
Er zog ein Zeitungsblatt aus seiner Brusttasche, welches Marbod, obgleich es noch ganz klein zusammengefaltet war, mit dem Kennerblick des Journalisten für das „Morgenblatt“ Doktor Bendels erkannte,
„Hast Du den Leitartikel im ‚Morgenblatt‘ gelesen?“
„Nein,“ sagte Marbod, verwundert, das von Ravenswann gehaßte Blatt in dessen Hand zu sehen.
„Unser nächstjähriges Budget,“ las Ravenswann die Ueberschrift, ließ das Blatt sinken und sah den Freund an.
„Ich habe ihn nicht gelesen,“ wiederholte dieser. Ravenswann räusperte sich.
„Der Artikel wimmelt von Irrthümern.“
Marbod wunderte sich, daß Ravenswann von den „Irrthümern“ eines gegnerischen Blattes, anstatt mit höhnischer Verachtung, in sanft melancholischem Tonfall sprach.
„Doktor Bendel ist der Besitzer und Chefredacteur?“
„Allerdings.“
„Du kennst ihn?“
„Recht gut.“
„In dem Artikel,“ begann Ravenswann, das Blatt scharf und vielfach zusammenfaltend und wieder aufblätternd, „ist auch lobend der Broschüre erwähnt, welche ich voriges Jahr über die Salz- und Tabakmonopole in Oesterreich und Italien geschrieben habe. Die Broschüre wird eine fleißige Arbeit genannt. Ich kann wohl sagen, das ist sie auch, Bendel scheint doch ein urtheilsfähiger Mann, der sich belehren lassen wird und mit dem ich gern persönlich meine Ansichten austauschte.“
„Seine Ansichten austauschen“ nannte Ravenswann seine Versuche, mit den eigenen Ansichten die anderer niederzusprechen.
Da Marbod ihm nicht zu Hilfe kam, mußte er vollenden:
„Vielleicht führst Du ihn ein, oder vermittelst ein Zusammentreffen am dritten Ort. Ich glaube, daß der Minister zufrieden sein würde, wenn es mir gelänge …“
Es blieb unklar, was er hatte sagen wollen. Marbod versprach, bei Bendel einen Versuch zu machen, im stillen sehr amüsirt über Ravenswann. Er sah wieder, daß Leute, die nicht gewohnt sind, sich in der Oeffentlichkeit [430] genannt zu sehen, von einem Tröpflein Druckerschwärze, das ihren Namen begießt, ganz berauscht werden.
Als er dann endlich gehen wollte, hielt ihn an der Thür Frau Mietze auf. Sie hatte nun einmal die Neigung, die wichtigsten Dinge mit dem Thürdrücker in der Hand zu besprechen.
„Ein Freundeswort, lieber S–teinweber,“ sagte sie; von innerer Erregung zitterte ihr aber doch die Stimme. „Nehmen Sie es, bitte, nicht übel, aber unter Freunden soll Offenheit herrschen.“
„Ich bitte Sie, gnädige Frau – was könnten Sie mir zu sagen haben?“ fragte Marbod befremdet.
„Vers–prechen Sie mir in die Hand, es nicht übelzunehmen?“ fragte sie entgegen und hielt ihm die Hand hin.
Wohlgemuth legte er seine Rechte hinein. Er fühlte sich über die Möglichkeit erhaben, Marien etwas übelzunehmen.
„Haben Sie nie bedacht, daß man ein junges Paar sich selbst überlassen muß? Sie verkehren mit Germaine, daß es mich nicht wundern soll, wenn Alfred eines Tages eifersüchtig wird – vielleicht ist er es schon. Glücklich sieht weder er noch sie aus. Den S–törenfried in einer Ehe zu machen, ist eine verantwortliche Sache, und wenn Germaine, die vielleicht nicht so gut erzogen ist wie ich, in ihrem Benehmen gegen Sie keine richtigen Grenzen weiß, sollten Sie diese Grenzen doch festhalten.“
Marbod war sehr bleich geworden und seine Hand zog sich aus der Mariens zurück.
„Frau von Haumond ist tadellos,“ sagte er finster.
„Natürlich, das finden Sie. Na, ich habe meine Pflicht gethan. Wenn Sie wollen, können Sie mir ja nun bös sein,“ sprach sie, zufrieden aufathmend.
„Nichts liegt mir ferner. Ich danke Ihnen. Gute Nacht!“
Unten auf der Straße sah er nicht nach dem Wege. Aufs Gerathewohl schritt er fürbaß, hastig, Leute anrennend und über Trottoirstufen hinstolpernd. Derbe oder boshafte Bemerkungen, die ihm dabei nachgerufen wurden, hörte er nicht. Auf seiner Stirn perlte Schweiß, seine Brust athmete schwer.
„Sie ist tadellos – tadellos – tadellos,“ wiederholte er sich ungezählte Male, und mit immer wachsendem Schrecken hörte er eine leise, aber eindringliche Stimme in seinem Verstande dieser Versicherung widersprechen.
Oder hatte Mariens Einflüsterung seine Phantasie vergiftet? War der Blick, mit dem Germaine ihn noch heute abend beim Abschied erröthend angesehen hatte, war der Blick nur von der Wärme harmloser Freundschaft durchleuchtet gewesen? Und war die Wonne, die dabei seine Brust durchzog, auch nur Freundschaftsaufwallung?
Eine Art von Verzweiflung erfaßte ihn, als sein Gedächtniß ihm nicht so ganz genau Stunde um Stunde zurückbringen wollte, die er mit der jungen Frau zusammen verlebt hatte, seit damals, als er sie auf dem Bahnhof gesehen.
Wie war doch alles gewesen? Ja, richtig, damals im ersten Schreck, sie, der er ein von edlen Wünschen begleitetes Gedenken bewahrt hatte, als Alfreds Gattin wiederzufinden, weigerte er sich, wie vordem mit Alfred in brüderlicher Gemeinsamkeit weiter zu leben. Er redete sich ein, daß die Frau dazwischen stände und daß er ein Recht habe, die Frau zu verachten, die in eine solche Ehe eingewilligt. Aber die ersten Abendstunden, die sie zu dritt verbrachten, hatten alle seine finsteren Gedanken verscheucht.
Sie war doch ganz so, wie er ihr Wesen damals aus der Ferne zu erkennen geglaubt hatte. Daß Alfred und sie nicht wie Ehegatten, sondern freundlich wie Geschwister verkehrten, sah er wohl.
Aber erst in dieser Stunde machte er sich das recht klar und begriff zugleich, wie sehr ihn diese ruhige, geschwisterliche Herzlichkeit zwischen den beiden beglückt, daß nur sie es ihm möglich gemacht hatte, den alten guten Ton dem Freunde gegenüber zu finden. Gewiß, darin hatte Frau Marie recht, das war eine verwunderliche Sache, daß er jeden Abend mit den beiden zubrachte. Das war schon so ausgemacht, daß es nicht einmal mehr einer Verabredung oder Aufforderung dazu bedurfte.
Alfred und Germaine zeigten niemals den Wunsch, allein zu bleiben. Und er, der wußte, daß ihre Seelen sich nicht in Liebe gehörten, er hätte ihnen gerade dadurch, daß er sie allein ließ, Gelegenheit geben sollen, sich zu finden. Sie waren vermählt – sie waren beide so liebenswerth – sie besaßen lauter Ergänzungseigenschaften für einander – mußten da nicht eines Tages ihre Herzen erwachen? Mußte Alfred die Geliebte nicht vergessen lernen bei dem friedvoll schönen Beisammensein mit der Gattin?
So hatte die taktlose Frau mit ihrem unbescheidenen Eindringen in das Seelenleben anderer doch recht! Er war als Störenfried in Alfreds Ehe getreten!
Und da rann wieder heiß durch seine Adern die Erinnerung an den Blick, den Germaine ihm geschenkt.
Seine Füße trugen ihn kaum mehr. Seine Gedanken versagten, er konnte nicht mehr folgerichtig weiter grübeln. Das Bewußtsein eines großen Elends legte sich bleischwer auf ihn.
Ein Morgen, eine Zukunft schien es überhaupt nicht mehr zu geben. Er begriff nur eine Pflicht, die, mit Alfred zu sprechen und den Freund hineinsehen zu lassen in alle Entdeckungen, die er heute in seiner Seele gemacht hatte.
Alfred war sein Richter.
An diesen Gedanken klammerte er sich und fand daran eine Art Beruhigung wie jemand, der nach langem Umherirren ein vorläufiges Ziel sieht, von dem aus er dann den wahren Weg zu finden hofft.
„Ich will mit ihm reden,“ wiederholte er sich dann immer von neuem.
Der Wunsch kam ihm, wenn es gleich schon zu spät war, noch in der Nacht den Freund aufzusuchen, oder doch an den Fenstern der beiden vorüberzugehen. Und als er die Wegesrichtung einschlagen wollte, bemerkte er erst, daß er sich in einen nördlichen Stadttheil verirrt hatte, anstatt seine Schritte dem Potsdamerviertel zuzuwenden.
Er lächelte bitter schmerzlich. Dergleichen war ihm noch niemals an sich vorgekommen, und in den wichtigsten Entscheidungsstunden seines Lebens hatte ihn Auge und Begriffsvermögen doch immer unbeirrt die Dinge um ihn sehen lassen.
„Ich will mit ihm reden,“ sagte er sich nochmals, als wollte er durch diesen Vorsatz auch dem erschöpften Körper Muth und Kraft geben, den endlosen Weg durch die schlafende Riesenstadt zurückzugehen.
Als Alfred und Germaine an diesem Abend in ihr Heim zurückkehrten, zog die letztere sich gleich in ihr Zimmer zurück. Sie hatte den ganzen Abend gefühlt, wie er nach Einsamkeit lechzte.
Und einen tiefen großen Seufzer stieß Alfred hervor, als er sich dann endlich allein sah. Er setzte sich an seinen Schreibtisch, stützte den Ellbogen auf und legte die Stirn in die hohle Hand. Vom Aufsatz des Schreibtisches herab glühte still die Flamme der Lampe hinter milchweißem Glase. Auf dem Schreibtisch war gut geräumt, Papiere und Bücher lagen in den Fächern des Aufsatzes, die grüne Tuchplatte war fast leer. Das Schreibzeug stand da und neben demselben lagen kleine Gebrauchsgegenstände.
Alfred starrte vor sich hin. Sein Auge sah gar nicht, auf was es die Blicke richtete. Dann auf einmal stellte sich die Verbindung zwischen Blick und Bewußtsein wieder her. Alfred sah den dunklen großen Fleck, der allen Reinigungsversuchen der Wirthin widerstanden hatte.
Und dieser Fleck ward ihm angstvoll beredt. Kleine süße Kinderhände hatten ihn gemacht – winzige Bleisoldaten hatten in der Tintenlache damals geschwommen. – Ein Kichern und Flüstern ging durch den nächtlich schweigsamen Raum. Kalt rann es über Alfreds Glieder. Ihm war’s, als fühlte er dicht an seiner Wange eine zarte, junge andere Wange und sähe dicht vor seinen Augen ein dunkles, großes Augenpaar, dasselbe wie sie, sie es besaß …
Er stand auf und ging hin und her.
Seit vielen Wochen hatte nicht einmal sein Gedächtniß es gewagt, ihm den Namen zuzurufen, den heute die vorwitzige unzarte Frau vor ihm ausgesprochen.
Das war ein Anruf gewesen, so tödlich erschreckend, wie wenn man einen Nachtwandelnden anruft, der an Abgründen geht.
Den ganzen Tag, der ihm keine Stunde der Einsamkeit gegönnt, hatte er einen Riesenkampf gekämpft. Er wollte gleichsam erwürgen, was sich wieder lebendig in ihm regte.
[431] Er hatte es sich geschworen, Herr zu werden über sich und aus eigener Kraft den Abgrund unüberbrückbar aufzuthun zwischen sich und ihr, den er mit einer Heirath schaffen wollte und nicht hatte schaffen können durch die wunderlichste Schicksalsfügung.
Er setzte sich wieder an den Schreibtisch und schrieb mit eiliger Feder Verse nieder, flüchtig, undurchdacht – nur wie aus einem Nothgefühl heraus, das in irgend einem Ausdruck Befriedigung erhofft:
„Daß wir zusammen einst geschritten,
Daß wir vereint gedacht, gelitten,
Schwand mir, wie eines Liedes Klänge
Hinsterben, fast im Tagsgedränge;
Ich dachte Dein und jener Zeiten kaum,
Und wenn ich dachte, dacht’ ich wie im Traum.
Da, als sie Deinen Namen riefen,
Was hat mich jählings so ergriffen?
Es ist mir gleich Lots Weib ergangen,
Nicht dämpfen konnt’ ich das Verlangen,
Zurückzuschau’n und in die Gluth zu seh’n –
Ich sah zurück und blieb entgeistert steh’n.“
Nein, das befreite nicht, das waren schöne Lügen, gereimte Unwahrheiten. Als er wieder las, wie es dastand, daß er „ihrer kaum gedacht“, ergriff er das Papier, drückte es zum Ball zusammen und warf es in den Papierkorb.
Ihrer kaum gedacht?!
Er senkte seine Stirn auf die verschränkten Arme nieder, die auf der Tischplatte ruhten, und blieb so lange – lange.
Ein Frauenkleid rauschte hinter ihm, ein leise schreitender Fuß war herangekommen. Er hörte es wohl, doch regte er sich nicht. Unbeweglich trug er auch die Hand, die sich dann auf seine Schulter legte. Erst als eine innige Stimme sanft seinen Namen rief, wandte er das gramvolle Gesicht dem jungen Weibe zu.
In ihren Augen standen Thränen, nicht die aufsteigenden Thränen beginnender Rührung, sondern die letzten Tropfen von vergossenen Fluthen.
Alfred sprang auf und zog sie in seine Arme.
„Auch Du!“ rief er schmerzlich. „Und warum?“
Germaine versuchte an seiner Schulter ihr Gesicht zu verstecken; sie war eine von den Frauen, die sich schämen, wenn man bei ihnen Gefühlserregungen sieht.
Da sie schwieg, glaubte Alfred mit der natürlichen Selbstsucht des Unglücks, sie habe um seinetwillen geweint. Er streichelte ihr sanft das Haar, versuchte zu lächeln und sagte:
„Gewiß, es wird vorübergehen. Es muß für alles ein Vergessen geben. Auch dafür. Aber weine nicht! Erinnerungsschmerzen thun weh, so weh, daß sie für Stunden überwältigen können – aber doch wird mein Leben leer sein, wenn sie mir nicht mehr kommen.“
Germaine faßte sich und, wie es ihre Art war, gelang ihr dies vollständig. Mit ruhiger Stimme bat sie Alfred, doch schlafen zu gehen, der Lichtschein, der aus seiner halb offenstehenden Thür gekommen, habe sie erschreckt und hierher gelockt; seinen Nerven sei das späte Aufsitzen und das Versinken in finstere Grübeleien gewiß nicht gut. Er versprach ihr, was sie wollte.
Als sie wieder gegangen war, fiel ihm erst ein, daß sie den Lichtschein aus seiner Thür gar nicht hätte sehen können, wenn sie selbst nicht noch zu ungewohnter Zeit im Zimmer daneben gewesen wäre. Und sie war schon mit Thränenspuren gekommen. Sorgenvoll dachte er nach, welche Beunruhigungen an dieses immer gleich sanfte und reine Frauenherz getreten sein konnten. Er bemerkte, daß sein Nachdenken ganz unnütz war, denn es stützte sich auf keinerlei Beobachtungen. Er hatte Germaine neben sich hergehen lassen, ohne im mindesten darüber nachzudenken, ob ihre Stunden auch anregend und befriedigend ausgefüllt seien. Und wie zufrieden und still hatte sie dabei um ihn gewaltet! Es mußte schon ein hoher Grad von Unglücksgefühl sein, der sie zu Thränen brachte, zu Thränen, die sie ihm nicht verbarg.
Mit dem Vorsatz, sich fortan mehr und eingehender um Germainens Tageseintheilung, ihre Interessen und Abneigungen zu bekümmern, ging er schlafen.
Als sie am andern Morgen beim Frühstück zusammensaßen, überraschte er sie durch Fragen und Vorschläge. Ob sie Talente habe zur Musik, zur Malerei, für Sprachen. Ob sie durch Unterrichtnehmen dergleichen weiter pflegen wolle, oder ob er ihr in den Fächern, darin er sich etwas zutrauen dürfe, dienen könne.
„Wie merkwürdig!“ sagte Germaine, „gerade in dieser Nacht habe auch ich gedacht, daß es gesünder sein möchte, wenn ich, anstatt zu naschen, mich ernährte. Ich habe bunt durcheinander gelesen, was mir unter Deinen Büchern verlockend erschien. Dabei habe ich nebenher das bißchen häusliche Geschäfte besorgt. Eine feste Tageseintheilung möchte besser sein; ich werde sie strenge innehalten. In dieser möchte ich dann Stunden feststellen, wo ich Kunstgeschichte und Sprachen weitertreibe. Du weißt wohl gar nicht, was ich für ein unwissender Mensch bin. Ich schäme mich oft vor … ja, ich schäme mich manchmal.“
„Gut, ich habe ‚Kugler‘ und ‚Schnaase‘, wir wollen sie gleich suchen.“
Sie standen beide vor den Regalen der Bücherwand und suchten vergebens nach den Werken. Auch das Fehlen anderer Bücher fiel Alfred dabei auf.
„Es steht noch von Baden-Baden her eine kleine Kiste – dem Gewicht nach mit Büchern – uneröffnet in der Kammer,“ sagte Germaine.
Die Kammer war ein gänzlich lichtloses Kabinett, das man einer Korridornische abgewonnen hatte. Germaine ging mit einem Licht und einem Brecheisen dahin. Aber es gelang ihr nicht, die von Fritz derzeit gut besorgte Vernagelung zu sprengen.
„Es ist gut, daß Du kommst,“ sagte sie zu Alfred, der ihr folgte, um die Bücher zu tragen, „meine Hände sind doch zu schwach.“
Das Licht stand auf einer umgestülpten leeren Kiste; rings an den weißgetünchten Wänden hing allerlei Kleidung, die außer Gebrauch gesetzt war. Reisekoffer thürmten sich in einer Ecke, leere Bilderrahmen und alte Bilder lehnten an der Wand. Bündel zusammengeschnürter illustrirter Journale lagen in einem staubigen Haufen auf dem rauhen Estrich. Es roch nach Staub, Leder und Holz.
„Das ist ja Fritzens Livree,“ sagte Germaine, als Alfred den Deckel gesprengt hatte. Sie nahm die Kleidungsstücke mit spitzen, vorsichtigen Fingern heraus wie etwas, das man mit leisem Widerwillen anfaßt.
„Die Sachen kann man hier gleich mit anhängen,“ meinte sie und trug die Röcke zu den Kleiderhaken an der Wand.
„Ordentlich eingepackt hat er, das muß man dem fatalen Menschen lassen.“ sagte sie, sich abermals zur Kiste beugend, auf deren Ecke Alfred saß, „sieh da – aus der Westentasche guckt ein Papier!“
Sie zog es heraus. Ihren Lippen entrang sich ein Laut – wie wenn ein Schrei noch mit Mühe zurückgehalten wird.
„Was hast Du?“ fragte Alfred, seinen suchenden Blick von den Bucheinbänden zu ihr erhebend, die zitternd dastand, die Hand zusammengekrampft, die Augen bang auf ihn geheftet.
Es war vielleicht nur der düstere, unwirthliche Raum, den das Licht der Kerze nur nothdürftig und unfreundlich erhellte, welcher Germainens Gesicht so seltsam bleich erscheinen ließ.
„Was hast Du?“ fragte er noch einmal.
Da lösten sich ihre Finger und ein Papier fiel heraus, ein geschlossenes Briefcouvert, das von dem Druck der Hand zerknüllt war.
Er bückte sich danach. Er las die Aufschrift und seine Hand sank lahm auf seine Kniee nieder.
Man hörte keinen Athemzug. Wie zwei leblose Wesen verharrten sie.
Draußen auf dem Korridor gingen Hausbewohner vorbei; man hörte sie sprechen. Sie mochten irgendwo eine Thür öffnen und schließen, wodurch ein Windstoß über den Korridor ging, denn die Kammerthür knarrte, öffnete sich mehr und fiel dann krachend zu. Nun waren die beiden wie eingekerkert in dem düstern Loch.
Von dem Krach schrak Alfred zusammen. Er sah Germaine an. Der angstvolle Schmerz in seinem Blick ergriff sie unsagbar.
„Lies doch!“ sagte sie leise.
Seine bebenden Finger erbrachen das Couvert. Vor seinen Augen flirrte es. Hilfesuchend sah er wieder Germaine an. Sie trat zu ihm, hockte neben ihm nieder und las flüsternd von dem in seiner Hand zitternden Blatt ab:
[434] „Liber süser Papa liber guhter Papa Bitte komm doch Wiehder Du hast einmahl gesagt Du Willst mein Papa sein Ich und Mama Sind sehr Traurich und so grüse Ich Dich als Dein Sascha.“
„O Gott!“ schrie Alfred auf und schlug seine Hände vor das Gesicht.
„Fasse Dich, fasse Dich!“ flehte Germaine angstvoll, „besinne Dich! Begreife doch, daß nun alles gut werden kann! Sie hat Dich gerufen durch das Kind, das von Dir so heißgeliebte. Daß ihr Ruf nicht zu Dir drang, konnte sie nicht wissen – Du nicht ahnen, daß Du gerufen warst. Eile zu ihren Füßen! Sage, daß Du sie noch immer liebst – höre, daß Du noch immer geliebt bist! Ja, Du bist es. Ich fühle es, ich glaube es. Sieh! für Gerda und ihr Kind bitte ich.“
„Und – und Du?“ fragte er mühsam.
„Sag’ ihr, daß ich nicht Dein Weib, daß ich Deine Schwester bin; sag’ ihr alles!“ fuhr Germaine mit immer steigender Leidenschaft fort. „Heute noch sprich das Wort, das auch vor dem Gesetz die Lüge aufdeckt, die uns bindet. Ja, laß es alle Welt wissen, daß wir niemals Gatten waren, daß wir beide frei, ganz frei sind!“
Auf ihren Wangen brannten Fieberflecke, ihre Augen glühten.
„Daß ich mich vermählen wollte, sie wird es nie verzeihen. Denn sie wird verstehen, daß ich es nicht that, um einem andern Weibe zu gehören, sondern um mich auf ewig von ihr zu scheiden,“ sagte er tonlos. „Daß Du meine Schwester bist, ändert für sie nichts, nichts an der Grausamkeit, die ich ihr angethan.“
Er starrte vor sich hin. In seinen Augen glomm allmählich ein festes finsteres Licht auf und die Erregung in seinen Zügen wandelte sich in herbe Unbeweglichkeit.
„Ja – Grausamkeit,“ wiederholte er wie für sich, „das ist es und das wollte ich, das war meine Wehr gegen die Qual, die ich um ihretwillen litt.“
Er stand auf. In einem völlig veränderten Ton, aber ohne Germaine anzusehen, sagte er: „Aber wir wollten ja ‚Kugler‘ suchen. Geh’ nur! Die Luft hier ist unerträglich. Ich bringe Dir das Buch.“
Sie ging, langsam wie eine, der man eine riesengroß aufflackernde Hoffnung zerschlagen.
Er aber nahm das Papier mit den kindischen Schriftzügen, bedeckte es mit Küssen, las es mit nassen Augen wieder und wieder und, indem er es auf seiner Brust verbarg, dachte er:
„Dich – Dich, geliebtes Kind, kann ich nicht mithassen …“
Als Germaine die Wohnstube betrat, erschrak sie so, daß sie sich an dem Stuhl nächst der Thür festhalten mußte. Marbod Steinweber stand am Fenster und wandte sich der Eintretenden zu.
Mit einer Förmlichkeit und einem fremden Ernst, wie er ihn in jener Stunde gezeigt hatte, als Germaine ankam, und seitdem nie mehr, fragte er, ob Alfred nicht zu Hause sei.
„Gewiß,“ erwiderte sie leise, „er kommt gleich.“
Sie sahen sich nicht an.
„Hat Marie auch ihr so fürchterliche Dinge gesagt?“ dachte er, „weshalb sonst ist sie nicht wie gestern noch, freimüthig, liebevoll? Oder hat Alfred selbst ihr gesagt, daß sie so nicht – nicht auf mich blicken dürfe?“
„Ich habe mit ihm allein zu sprechen,“ sagte er nach einer Pause. Das klang rauh, ja verletzend. Merkte sie das nicht? In demüthiger Bescheidenheit antwortete sie:
„Ich werde mich gleich zurückziehen.“ Und es schien, als wollte sie augenblicklich das Zimmer verlassen.
„Nicht so – nicht so!“ rief er plötzlich ausbrechend, „Lebewohl dürfen wir uns sagen. Ich gehe. Wir sehen uns zum letztenmal.“
Da hob sie ihr Auge zu ihm mit innigem Blick. Es war ein unverhüllter Blick der Liebe.
Der Schreck ließ seine Seele in Schmerz und Wonne erbeben.
„Man hat mir gesagt,“ begann er stockend, „daß ich störend zwischen Ihnen und Alfred stehe. Mein Gewissen hat dieser Warnung recht geben müssen. Ich bin gekommen, um Alfred Lebewohl zu sagen und Sie zu bitten …“
Er hatte sie bitten wollen: „versuche Alfred zu lieben!“ Aber nein, nein – das sollte doch nicht von seinen Lippen.
„Um was zu bitten?“ fragte sie und sah ihn immer an, wie hilflos einem übermächtigen Zwang gehorchend.
„Zu bitten – an mich – nur – wie an einen Freund zu denken – denn ich …“
Er kam wieder nicht weiter. Ihre Augen schienen in seiner Seele zu lesen und zu erkennen, daß die Worte auf seinen Lippen lauter Lügen waren.
Sie schwiegen beide einige Sekunden. Er versuchte sich zu fassen. Sie schien ihm so liebens- wie hassenswürdig zugleich; das heiße Glücksgefühl in seinem Herzen bemühte er sich gewaltsam zu tödten und nur auf den Schrecken zu achten, der ihn erfaßte, weil das Weib seines Freundes sich so besinnungslos dem unerlaubten Gefühl hinzugeben schien.
„Eins möchte ich wissen,“ begann er leise, ohne sie anzusehen, „haben Sie mich damals, als wir uns zuerst begegneten, so gar nicht bemerkt? War an mich in Ihrer Seele keine Spur von Erinnerung zurückgeblieben? Waren in Ihrem Herzen, als Sie Alfreds Gattin wurden, auch nicht die blassen Schatten irgend eines flüchtigen Traumes von – von – einem andern?“
Germaine sah ihn ruhig und fest an.
„Nein,“ sagte sie klar. „Ich hatte Sie nicht mehr und nicht minder bemerkt als all die hundert gleichgültigen Menschen, die bei unserem Wanderleben an mir vorübergezogen sind. Ich bin von denen, deren Augen kein Gedächtniß haben, deren Seelen aber zu langsam sehen, um sich bei flüchtigen Begegnungen schon jemandes Bild einzuprägen.“
„Ich danke Ihnen,“ sprach er.
Sie neigte das Haupt, ging an ihm vorüber und hinaus. Er wußte nicht, ob sein Herz ihren Worten dies hinzusetzen durfte: „wenn meine Seele aber ein Bild aufgenommen hat, hält sie es fest für immer.“
„Nun, Marbod? So früh? Ist nicht Deine Bureaustunde …?“ fragte hinter ihm Alfreds Stimme.
„Es giebt Stunden, wo auch der pflichteifrigste Mensch einmal sich dagegen auflehnt, eine Arbeitsmaschine zu sein. Ich konnte heute nicht arbeiten und habe mich entschuldigt.“
Jeder von ihnen war so stark mit sich beschäftigt, daß ihm die erregten Züge des andern nicht auffielen.
„So – so,“ sagte Alfred, der kein Wort verstanden und gar nicht zugehört hatte; zerstreut fügte er hinzu: „Setze Dich doch! Bleibe bei uns, sei heut unser Gast!“
„Ich habe kein Recht mehr, mich an Deinen Tisch zu setzen, wenn ich nicht ein Unwürdiger sein will,“ sprach Marbod finster.
Alfred wurde aufmerksam und zugleich ward ihm sehr unbehaglich. Scenen und Erregungen mit großen, pathetischen Worten waren ihm entsetzlich.
Er hatte Marbod immer in einem vernünftigen Gleichmaß der Stimmung und des Gebahrens gekannt und dies vor allem an ihm geliebt.
„Ich bitte Dich,“ sagte er ganz niedergeschlagen, „fange Du doch nicht auch noch an, Dich mit aufregenden Phantasien zu beschäftigen.“
Es ging ihm, wie einem chronisch Kranken, der das Kranksein und die Klagen anderer nicht erträgt, weil die eigenen Leiden ihm das Wichtigste für alle zu sein scheinen.
„Es sind leider keine Phantasien,“ begann Marbod, des Freundes Hände ergreifend, „es ist eine traurige Wahrheit, die ich Dir beichte, indem ich mich Deinem Richterspruch übergebe. Für die Gefühle, die über uns kommen, sind wir nicht verantwortlich, wohl aber für die Folgen, die wir aus ihnen entstehen lassen. Ich liebe Germaine. Ich habe sie immer geliebt. Seit dieser Nacht aber weiß ich, daß meine Liebe von jener Art ist, die besitzen oder entsagen muß. In ruhiger Freundschaft neben ihr weiter leben – das kann ich nicht. Du begreifst, daß ich gekommen bin, um für immer Abschied von Euch zu nehmen.“
Alfred sah ihn mit einem Erstaunen an, das man hätte ein objektives nennen können.
„Ah,“ sagte er, „Germaine! So kann sie doch ein Herz erwärmen. Ich dachte, sie sei zu kühl, um zu empfinden, oder um Empfindung einzuflößen.“
„Manche Herzen gleichen kühlen und dunkeln Kellern; man muß tief hinabsteigen, um den feurigen Wein heraufzuholen.“
Alfred sah dem Freund herzlich in die männlichen, von tiefer Erregung zerstörten Züge.
„Hoffst Du auf ihre Gegenliebe?“ fragte er.
[435] Marbod wich einen Schritt zurück und sah in Alfreds Gesicht, auf dem in diesem Augenblick nur wohlwollende Antheilnahme stand.
„Bist Du von Sinnen?“ fragte er erzitternd, „Du sprichst von Deinem Weibe!“
„Von meinem Weibe?“ wiederholte Alfred mit einem wehmüthigen Lächeln, „ach nein; Germaine ist nicht mein Weib.“
„Ich weiß es,“ rief Marbod, „daß sie in jenem höchsten, letzten Sinne nicht die Deine ist, daß Ihr wie Geschwister neben einander lebt und so auch nur Euch zugethan seid. Aber doch ist sie Dein Weib und eines Tages könntest Du sie lieben lernen.“
„Niemals,“ sagte Alfred. „Jener gesetzliche Akt, der Germaine das Recht gab, den Namen von Haumond zu führen – denke, er sei nur eine Form gewesen, mittels welcher ich Germaine ermöglichen wollte, in meinem Schutze, in meiner Versorgung zu leben.“
„Das weiß ich, das fühlte ich längst,“ sprach der gefolterte Mann, „und dennoch, und obschon Ihr auch den Segen der Kirche verschmäht habt, dennoch muß Euer Bund mir heilig sein. Trägt sie nicht Deinen Namen? Und Du selbst, Du selbst sagst Dinge, die klingen, als wolltest Du mein Liebeswerben begünstigen!“
Alfred ging einige Male im Zimmer hin und her. Plötzlich blieb er vor Marbod stehen, der ihn mit bangen Augen verfolgt hatte.
„Nun denn! Eine Frage auf Ehrenwort! Denke nicht, daß hier ein Weib zu schonen ist! Denke, daß von Deiner Antwort Dein und ihr Lebensglück abhängt! Liebt Germaine Dich wieder und hast Du davon Beweise?“
„Ja!“ antwortete Marbod erblassend, „sie liebt mich, obschon ich keine andern Beweise habe, als ihre unbewachten Blicke.“
„Wenn Germaine ihre Blicke nicht mehr bewacht, so ist das mehr Beweis als die glühendsten Liebesworte von hundert Frauen. Sie liebt Dich! O, Ihr seid beide die Naturen, ein dauerndes Glück mit einander zu finden. Ihr – ja!“ sagte Alfred, von einer peinigenden Erinnerung erfaßt.
„Was sinnst Du?“ rief Marbod, „eine Scheidung?! Nein! Nicht vor der Welt, noch weniger aber vor mir selbst will ich das auf mich laden, dem geliebtesten Freund den Frieden zu nehmen. Denn wenn ihre Nähe Dir auch kein Glück gab, Frieden gab sie Dir.“
„Ehrlicher Mensch!“ sprach Alfred, seine Hand auf Marbods Schulter legend, „die Wohlthat ihrer sorgsamen Gegenwart brauche ich ja nicht zu entbehren. Höre denn die Wahrheit: Germaine ist eine Tochter meines Vaters. Wir entdeckten dies einige Stunden nach der standesamtlichen Verbindung, die wir – begreifst Du es nun? – in irgend einer unauffälligen Form wieder lösen lassen müssen. Daß wir mit dieser Lösung einige Wochen zögerten, begreifst Du wohl ohne weiteres? Lieber wollen wir, Germaine und ich, das Aufsehen einer Scheidung ertragen, als das Andenken theurer Menschen verschattet sehen.“
Marbod war beinahe fassungslos. Er umarmte den Freund und blieb lange still an seiner Brust.
„Gewiß,“ sagte Alfred leise, „Ihr werdet sehr glücklich sein. Ich mit Euch. Wem es nicht beschieden ist, selbst glücklich zu werden, soll zufrieden sein, wenn er die Liebsten im Glück sieht.“
„Und Du?“ rief Marbod ergriffen, „ist denn für Dich jede Hoffnung ausgeschlossen? Ist es Dir nicht wie ein Schicksalswink, daß aus Deiner geplanten Ehe, die Dich von ihr trennen sollte, nichts wurde?“
„Das alles sagte Germaine mir auch. Aber ich will Dir etwas gestehen.“
[449]
Alfred ließ sich nieder und stützte den Kopf die Hand.
Seine Augen hafteten am Boden. So sprach er mehr zu
sich als zu Marbod:
„Der Kampf, der zwischen Gerda und mir herrschte, als wir noch vereint waren, oder doch nach Vereinigung strebten – er hat sich fortgesetzt in meiner Seele, – das Gedächtniß – die Phantasie streitet weiter. Wenn ich vergehe vor Verlangen, einmal nur dieses Augenpaar noch zu sehen, einmal nur diese Lippen zu küssen, die mir die höchsten Wonnen verhießen, dann fährt grell und verderblich zündend wie ein Blitz durch mein Erinnern ein Wort, ein Lachen, eine Geste von ihr; das Verlangen wandelt sich in Haß, die Sehnsucht nach dem Kusse in die Begierde, sie schlagen zu dürfen.“
„Mein Gott, sind das menschliche Gefühle?“ fragte Marbod entsetzt.
„Vielleicht die menschlichsten und ursprünglichsten,“ sagte Alfred tonlos; „sieh, ich weiß es, wenn sie jäh vor mir stände, wir wurden uns jauchzend wie Götter in überirdischen Seligkeiten in die Arme sinken und dann – erwachend in neugeborenem Haß uns gegenseitig zu vernichten wünschen. Aber daß ich dies weiß – siehst Du, dies grauenvolle Bewußtsein – das martert mich so entsetzlich … Ich weiß nun besser als ehedem, was dies alles ist. In ihr und mir sind gerade diejenigen Eigenschaften, die wir vielleicht in stiller Erkenntniß an uns selbst tadeln, daran wir vielleicht schwer tragen, vollkommen gleich. Deshalb haßt einer die Fehler des andern, wie man seine eigenen Fehler haßt, wenn man ihnen bei theuren Menschen begegnet – vielleicht, weil man die möglichen unglücklichen Folgen am besten beurtheilen kann aus der Erfahrung eigener Lebensqual heraus. – Dann aber sind in ihr und mir Wesensseiten, die dem [450] andern das höchste Glück verheißen, und um dieser himmlischen Verheißung willen ist etwas in uns, das uns zwingt, immer wieder zu versuchen, ob wir uns nicht lieben können.“
Er stand auf.
„Geh zu meiner Schwester,“ sagte er abgewandt.
Marbod sah, wie tief erschüttert der Freund war.
„Es giebt auch noch so etwas wie Selbstüberwindung,“ versuchte er tröstend zu sagen, „zu der ein denkender und erkennender Mensch sich um der Liebe willen zwingen kann. Reise zu ihr und versuche es noch einmal!“
„Umsonst,“ flüsterte Alfred, „sie wird mir auch meine schnelle Heirath nicht vergeben können.“
Und dann, sich gewaltig bezwingend, sprach er heiter:
„Du zeigst keine Eile, Germaine zu verkünden, daß ich Euch meinen brüderlichen Segen gegeben habe.“
Germaine, die vielleicht den Verlauf der Unterredung geahnt hatte und nicht länger imstande war, die Erwartung zu ertragen, erschien auf der Schwelle. Ihr Antlitz glühte, ihre Augen leuchteten.
„Marbod,“ fragte sie laut, „denken Sie noch, daß ich unrecht thue, Sie so anzusehen, wie meine Seele fühlt?“
„Germaine!“ rief er zu ihr eilend, „so haben Sie mich durchschaut?“
„Ganz und gar,“ sagte sie mit glücklichem Lächeln.
„Und so wissen Sie auch, wie grenzenlos ich Sie liebe!“ rief er und zog sie an sein Herz.
Alfred konnte den Anblick ihres Glückes nicht ertragen, er trat an das Fenster, preßte die Stirn gegen die Scheiben und sah auf die vorbeitreibenden Menschen hinab, die da mit gleichgültigen Gesichtern über die Straße gingen und ihre Noth, ihr Glück, ihren Jammer oder ihre Leere unter ihrer Alltagserscheinung verbargen.
Der unglückliche Mann sah ihnen zu und dachte, daß diese Gleichgültigkeit auf den Menschengesichtern nur wie eine Palimpsestschrift sei, die, fortgewischt, darunter die wahren Schriftzüge der Lebensschicksale erkennen lasse.
Und weiter dachte er, mit wie viel Schriften die Zeit und das Leben auch die Seite bedecken möchten, auf der die Tragödie seiner Liebe gestanden hatte, daß hier, immer wieder lesbar, ihm der eine Name hervorleuchten müßte, der ihm Leben und Tod bedeutete. Gerda!
Das ganze Leben in der Weltstadt hatte gedämpfte Töne angenommen. Der Himmel selbst hatte einen Schalldämpfer auf die lautklirrenden Saiten des Rieseninstrumentes gesetzt. Seit Tagen lagen Schneemassen in kaum zu überwältigender Menge in den Straßen. Weihnachten stand vor der Thür, und trotz der bösen Zustände auf den Gassen hatte der Verkehr eine beängstigende Lebendigkeit angenommen.
Vom Fahrdamm waren die Schneemassen möglichst hinweggeräumt und lagen als Wälle an den Grenzen der Bürgersteige. Da und dort hatte man in diese weißgrauen, langgestreckten Haufen Bresche gemacht und die Fußgänger schlüpften durch die sich schnell verbreiternden Lücken herüber und hinüber. An den Pferdebahnzeilen entlang waren emsig Männer mit Spitzschaufeln beschäftigt. Dumpf und zurückgehalten klang das Rollen der Räder und der schnelle Tritt der Rosseshufe. Schriller aber als sonst klang die Warnungspfeife der Pferdebahnkutscher.
Die tausendfältigen Wärmeströme, die in den Straßen einer großen Stadt tagsüber zusammenfließen, bewirkten zwar kein Thauen des Schnees, aber doch ein feucht aufsteigendes Verdunsten. Bläulich und unrein schien die Luft und verdichtete sich in der fernen Perspektive der Straßenzeilen zu grauem Nebel, durch den die Lichter, die man eben entzündete, wie glanzlose rothgelbe und weißbläuliche Punkte blinkten.
Aus den Fenstern des Café Bauer brach schon lange ein heller Lichtstrom, als es draußen noch Tag war. Oben in den warmen und gemächlichen Leseräumen hatte Doktor Moritz Bendel eine Stunde lang gesessen und bezahlte eben seinen Kaffee, als die Gräfin Mollin mit der Mara und dem kleinen Prasch erschien. Die dunkeläugige Sängerin, die jüngst als Carmen große Erfolge errungen hatte, war für Doktor Bendel nicht ganz gleichgültig. Eingeweihte sagten sogar, er wolle sie heirathen, finde jedoch in ihrem Herzen noch allzu lebhaft die Erinnerung an den „Traum Haumond“, wie die Mollin jene flüchtige Beziehung nannte.
Die Gräfin war sehr heiter. Ihr Schützling hatte sein Hölderlin-Buch herausgegeben und von einem berühmten Goetheforscher, dem er es zugesandt, einen lobenden Brief bekommen. Die Begegnung mit Bendel war ihr deshalb sehr gelegen, sie konnten dem erfahrenen Journalisten den Brief gleich zu lesen geben, denn Prasch hatte ihn immer bei sich. Mit der ihr eigenen Lebhaftigkeit trug sie die Sache vor.
Bendel wechselte indeß mit der Sängerin einen Händedruck, hörte achtungsvoll zu und fragte endlich, als die Gräfin Prasch den Brief aus der Hand gerissen und ihm sogleich vorgelesen hatte, mit seiner sanftklingenden Ironie:
„Sie theilen mir den Brief mit, weil Sie auf eine Indiskretion meinerseits hoffen?“
„Das nicht gerade,“ sagte der naive Prasch, „aber ich möchte wohl hören, ob ich diesen Brief drucken lassen kann.“
„Wie Ihr Taktgefühl es Ihnen gebietet,“ meinte Bendel, der nie einen Rath ertheilte.
Die Gräfin holte sich fünf Blätter vom Zeitungsständer und kam mit dem zusammengerollten Lesestoff wieder an den Tisch.
„Sie entschuldigen! Aber ich suche eine Notiz.“
Herr von Prasch bestellte für sie und sich Thee, Fräulein Mara befahl ein Glas Melange, und man setzte sich nun erst. Die ganze Briefgeschichte hatte die Mollin stehend vorgetragen.
„Ich möchte wohl mein Buch Steinweber schicken. Er ist Ihr näherer Bekannter, nicht wahr? Wissen Sie seine Adresse?“ fragte Prasch.
Bendel nannte Marbods Wohnung.
„Man sieht weder ihn noch Haumond irgendwo,“ sprach der kleine Prasch mit seiner hellen, langsamen Stimme weiter; „irgend jemand hat mir eine ungeheuerliche Geschichte erzählt; man sagt, Haumond werde geschieden von der Frau, die er Anfangs Oktober geheirathet hat, und Steinweber stehe dieser Scheidung sehr nahe. Trotzdem wohne das gewesene Ehepaar unter einem Dache weiter und Steinweber sei täglicher Gast. Sie werden uns das Allergenaueste von der Sache mittheilen können.“
Bendel errieth ganz genau, daß die Sängerin unterwegs Prasch gebeten hatte, die Rede auf diese Geschichte zu bringen. Er sah daher nicht Prasch an, sondern begegnete fest dem dunklen Auge der Mara, als er antwortete:
„Das Allergenaueste kann ich Ihnen freilich sagen, nämlich dies: daß Germaine von Haumond eine edle und tadellose Weiblichkeit besitzt. Warum sie sich schon scheiden lassen, ist ja durchaus eine Frage, die nur die Betheiligten interessirt. Meine Privatmeinung geht dahin, daß Haumond sich so eilig verheirathet hat, um die schöne Baronin zu vergessen, daß es ihm aber durchaus nicht gelungen ist, und daß vielleicht seine große Leidenschaft für diese Frau ihm den Wunsch eingegeben hat, seine Freiheit wieder zu erlangen.“
Dabei sagte sein Blick nach der Sängerin: „Für Dich ist er in keinem Fall wiederzugewinnen.“
„Was für merkwürdige Verhältnisse! Liebe Freundin, glauben Sie, daß Gerda ihn wieder annimmt?“
Die Gräfin fuhr aus ihrer Lektüre auf und sah durch ihren Kneifer abwesend auf den Fragenden und dann sogleich wieder hinein in die Zeitung.
„Warum nicht? Liebe verzeiht viel,“ sagte die Mara.
„Ja, das thut sie,“ stimmte Bendel ihr bedeutungsvoll zu. „Aber auch dies ‚viel‘ hat eine Grenze, an welcher ein Charakter innehält.“
Er erhob sich.
„Sie gehen?“ fragte Prasch ängstlich. Er hatte ja noch keine Gewißheit, ob Bendel für oder gegen die Veröffentlichung des Briefes von dem berühmten Manne war.
„Ich muß. Eine Einladung ruft mich schon früh zum Assessor Ravenswann.“
„Dort verkehren Sie?“ fragte Prasch mit seinem knabenhaften Erstaunen.
„Steinweber hat mich auf Ravenswanns Wunsch eingeführt, schon Anfangs November. Aber allen Einladungen konnte ich nicht folgen, ich war immer schon ‚besetzt‘, bis wir nun von langer Hand vorher den heutigen Abend feststellten,“ erzählte Bendel, indem er sich den Pelz umnahm, die Hilfe des Kellners ablehnend. In [451] der That war er bei drei erfolgten Einladungen nur einmal versagt gewesen, hatte es aber für angezeigt gehalten, sich mehrmals bitten zu lassen.
„Sind Sie morgen um zwölf Uhr zu Hause, mein gnädiges Fräulein?“ fragte Bendel.
„Ich will einmal nachdenken – was ist morgen um zwölf? Probe?“ begann die Mara.
Bendel verbeugte sich rasch.
„O, ich danke. Wenn Sie erst nachdenken müssen, versage ich mir das Vergnügen. Meine Herrschaften, ich habe die Ehre!“
Die Mara bekam ein dunkles Gesicht und schaute dem hochmüthig Davonschreitenden erschreckt nach.
„Behandeln Sie ihn nicht so hautaine,“ sagte Prasch ärgerlich, denn die Mara war für ihn die Verbindungsbrücke zu dem einflußreichen Bendel, „er ist ein ganz bedeutender Mensch von unantastbaren Gesinnungen. Wirklich anständig. Eine brillante Partie obendrein. Soll ich morgen zu ihm gehen und ihm sagen, Sie lassen ihn doch bitten, zu kommen?“
Mit solcher Freudenbotschaft konnte er dann in einem Athem bitten, eine Notiz über sein Buch zu verfassen.
„Meinetwegen,“ sagte die Mara, der eine solche knappe Abfertigung ganz neu und einschüchternd war. –
Es schlug gerade acht Uhr, als Bendel in das Zimmer der Frau Marie Ravenswann trat, wo er außer dem Ehepaar noch die unvermeidlichen Schneiders traf die, bis über die Ohren hinter Vorurtheilen gegen den ihnen persönlich unbekannten Bendel verschanzt, steif und stumm dasaßen.
Ravenswanns waren auch etwas verlegen. Sie wußten doch nicht recht, welchen Ton sie gegen den fremden Gast anschlagen sollten, mit dem sie wohl in einer Stadt, aber nicht in einer Kultursphäre lebten.
Aber Bendel war nicht die Persönlichkeit, sich durch irgend welche Menschen oder irgend welche Situation die vollkommene Sicherheit und Ruhe seiner Gedanken und Bewegungen rauben zu lassen. Er war im Frack mit dem chapeau claque erschienen; als Ravenswann eine Bemerkung darüber machte und sagte, daß man hier ganz einfach unter sich sei, entschuldigte Bendel sich; er müsse später noch den Jour fixe der Freifrau Hammerburg besuchen.
„Sie verkehren dort?“ fragte Marie, die das Haus dieser Dame unter den ersten der Residenz hatte nennen hören.
„Viel,“ sagte Bendel einfach. „Die Freifrau liebt, wie Sie wissen werden, Wagner sehr. Ich theile diese Idolatrie. Wir finden uns oft in gemeinsamem Wirken für des Meisters Musik zusammen. Ich möchte Ihnen dringend rathen, sich einmal Zutritt zu unseren Konzerten zu verschaffen; dort erst lernen Sie kennen, was man tout Berlin nennt. Es kann Ihrem Gatten durch seine Verbindungen doch nicht schwer fallen, vielleicht gar Mitglied unseres Vereins zu werden.“
Durch diese Erzählung war Bendel den Anwesenden mit einem Male ganz wichtig geworden. Vorher hatten sie sich gewissermaßen vor einander entschuldigt, daß man sich im Grunde nichts vergebe, wenn man auch einmal mit einem Journalisten verkehre, den man ja nicht bei großen Gesellschaften einzuladen brauche. Nun schien er plötzlich sogar über sie hinaufgerückt. Die Mienen wurden heiterer, der Ton traulicher.
„Ich hoffte, Steinweber und Haumond hier zu treffen“ sagte Bendel, als er nachher neben Frau Mietze zu Tische saß.
Tödliches Schweigen legte sich über die Tafel.
„Wir verkehren nicht mehr,“ sagte Ravenswann endlich, sich räuspernd.
„O, das thut mir leid für Sie,“ sprach Bendel mit der größten Unbefangenheit; „beide Männer sind bedeutend, die junge Frau sehr anziehend.“
„Daß sie Verstand haben, spreche ich ihnen nicht ab, nur hat dieser sie doch nicht davor geschützt, sich sehr unverständig zu benehmen,“ erklärte Ravenswann. „Was die junge Frau betrifft, der ich so wenig wie dem besonnenen Steinweber dergleichen zugetraut hätte, so habe ich meiner Frau verboten, sie noch zu empfangen.“
„Sie sehen mich erstaunt,“ rief Bendel, „was ist vorgefallen? Was haben diese drei Menschen begangen, das sie von der Gesellschaft scheiden sollte? Haben sie sich als Nihilisten entpuppt?“
„Die reine Anarchie herrscht wenigstens bei ihnen,“ brummte Schneider.
„Meine Gnädige, klären Sie mich doch auf!“ bat Bendel. Jettchen Schneider schlug die Augen nieder und schüttelte sanft die blonden Locken.
„Ich verstehe nicht, was da vorgeht. Sie müssen wissen, ich habe so jung geheirathet und mein Mann hat meine Seele so sorgfältig davor behütet, die Abgründe kennen zu lernen, die das moderne Leben birgt, daß ich wirklich nicht verstehe, was da vorgeht.“
„Ich will Ihnen sagen, was wir wissen,“ begann Mietze entschlossen. „Es hat mich furchtbar mitgenommen, ich habe so viel von beiden gehalten und so viel für beide gethan. Wirklich, ich hätte besseren Dank verdient, als daß sie mir solche Geschichten machen.“
„Ihnen? So haben sie sich gegen Sie vergangen?“
„Natürlich treffen solche Skandalgeschichten doch auch den Kreis mit, in welchem die Betreffenden verkehrten. Schon unsertwegen hätten sie das nicht dürfen. Denken Sie nur, Haumond und Germaine lassen sich scheiden; die Scheidung wurde schon nach vierwöchiger Ehe eingeleitet. Daß Sie aber davon nichts hörten, begreife ich nicht.“
„Natürlich habe ich das gehört,“ gab Bendel zu, „ich finde das außergewöhnlich, aber weiter nichts. Man löst ein Band, das, wie ich höre, nur zum Schein bestand und nicht einmal in der Kirche gesegnet war.“
„Das ist doch s-tark genug. Die ganze kurze Ehe nur eine Komödie. Ich kann Ihnen sagen, daß es Ravenswann und mir schrecklich genug ist, uns ahnungslos zum Mits-pielen hergegeben zu haben. Aber nicht genug damit: Germaine, diese blonde Heuchlerin, die vor mir so sittig und s-till that, hat eine Liebschaft mit S-teinweber. Sie wollen sich heirathen. Alfred ist bei alledem ein Herz und eine Seele mit beiden. Aber sie hat schon vor ihrer Heirath ein Verhältniß mit S-teinweber gehabt, das weiß ich ganz genau.“
„Von wem?“
„Alle Leute sagen es.“
„Meine Gnädigste,“ begann Bendel und wußte, ohne seinen Ton zu heben, doch seiner Stimme einen eindringlich scharfen Druck zu verleihen, „meine Gnädigste, ich gebe zu, daß alles, was Haumond und Steinweber – meine Freunde, wie sie mir hoffentlich gestatten, sie zu nennen – daß alles, was sie jetzt thun, sehr ungewöhnlich ist. Sie gehen nicht im Geleise des Alltagslebens. Darf ich Sie fragen, ob das Ungewöhnliche als solches, auch ohne Kenntniß der Gründe, Ihnen schon verdammenswerth erscheint?“
„Was sollen da wohl für Gründe sein? Uebers-pannte Menschen sind sie, ohne Moral,“ sagte Mietze entrüstet.
Bendel pflegte sonst nicht mit Leuten zu streiten, die nicht logisch antworteten. Hier aber bemühte er sich, Marien näher zu kommen, die sich von den Anwesenden offenbar für die Nächstbetheiligte hielt und die Unterredung führte.
„Sehen Sie, meine gnädige Frau, ich denke mir so: ein guter Christ und humaner Mensch, der seinen lieben Nächsten etwas scheinbar Unbegreifliches thun sieht, läßt ihn still seine besonderen Wege gehen in der Annahme, daß sich die Gründe der ungewohnten That wohl eines Tages von selbst enthüllen werden. Wenn ich Beweise habe, daß ein Mensch vornehm empfindet und klar denkt – solche Beweise gaben unsere beiden Freunde – gebe ich ihm gewissermaßen moralischen Kredit. Ich glaube an ihn, auch wo ich ihn nicht verstehe. Ich sage mir, es ist eben nicht jedermann gegönnt, gemächlich auf glattem Wege vorwärts zu wandern. Ich wünsche dem Abirrenden eine gefahrlose Wiederkehr auf den ruhigen Pfad. Aber ich hüte mich, ihn anzuklagen, denn seine Gründe können die reinsten und zwingendsten sein, und ich selbst kann nie wissen, ob ich nicht auch eines Tages, wider Wunsch und Willen, mich in Lagen versetzt sehe, wo ich dann der Unverständliche und Ungewöhnliche bin.“
„S-prechen kann man wunderschön über so was,“ sagte Marie erregt, „für einen Junggesellen wie Sie ist es ja auch was anderes, mit so viel bes-prochenen Menschen zu verkehren. Wir mußten es aufgeben, so leid es mir für Haumond that, der es hätte besser haben können. Ich bitte Sie bloß – was für Gründe können da vorliegen?“
Bendel lächelte etwas und ließ seine Phantasie reden.
„Zum Beispiel könnte eine Testamentsbestimmung Alfred auferlegt haben, Germaine zu heirathen, und die Rücksicht auf den [452] Wunsch Verstorbener war bestimmend. Mir ist sogar, als hörte ich dergleichen. Vielleicht handelt es sich um eine Vermögenszuschiebung, die nur möglich war, wenn Germaine gesetzlich den Namen Haumond trug. Vielleicht hatte Alfred die ritterliche Idee, eine arme Waise in dieser Form vor Noth zu schützen. Oder ein Familiengesetz zwang Alfred, bis zu einer bestimmten Frist vermählt zu sein. Vielleicht auch …“
„Der Novellist spricht aus Ihnen,“ sagte Ravenswann.
„In der That würde ich eine Wette annehmen, in zehn verschiedenen Fassungen eine Novelle über den Fall zu schreiben, wobei die Betheiligten immer unschuldig erschienen. Ich weiß, der gedruckten Novelle würden Sie glauben. Den Romanen, die unsere Nebenmenschen leben, glauben wir nie die Schuldlosigkeit. Das kommt vielleicht aus der Erkenntniß, daß wir alle von Adam und Eva abstammen und uns vor Sündenfälligkeit selbst nicht sicher fühlen.“
„Das kann ich von mir Gott sei Dank nicht sagen,“ meinte Frau Marie mit erregter Stimme, „ich bin in soliden Verhältnissen aufgewachsen und wäre gar nicht ims-tande, etwas Unpassendes oder gar Sündhaftes zu thun.“
„Ich beneide Sie um dies Bewußtsein,“ sagte Doktor Bendel.
Schneider hatte während des Gespräches immerfort gegessen und aß auch ruhig weiter, als seine Frau jetzt mit einem Seufzer bat:
„Sprechen Sie doch von weniger peinlichen Dingen. Mietze ist, wie soll ich sagen, eine robuste Natur; mich macht es schamroth, nur solche Fragen diskutieren zu hören.“
So sprach man denn von anderen Dingen.
Marie Ravenswann aber, die sich sonst eines festen und traumlosen Schlafes erfreute, konnte lange nicht die Augen schließen. Das gewisse Lächeln Bendels empörte sie immer von neuem, als er gesagt „ich beneide Sie um dies Bewußtsein.“ Er hatte gerade so gelächelt, als ob er ihr auch alles mögliche zutraue. Vielleicht deutete er ihre eifrige Theilnahme an Haumond falsch. Das wäre nun gar empörend.
Und Marie bewies ihren eigenen Gedanken mit hundert unwiderleglichen Gründen, daß sie Alfred bloß Theilnahme schenke, weil er ihres Mannes Jugendfreund gewesen war und weil sie gehofft hatte, bessernd auf ihn einzuwirken.
Noch am andern Morgen war sie durch diese Gedanken zerstreut und hörte gar nicht zu, als ihre Köchin ihr von den Bewohnern des zweiten Stockes eine lange Geschichte erzählte.
Wie wurde ihr aber, als das Stubenmädchen ihr bald nach zwölf Uhr eine Karte in das Zimmer brachte!
„Alfred von Haumond.“
[469]
Einen Besuch abzuweisen, gehörte nicht zu den Lebensgewohnheiten
der Frau Assessor Ravenswann; im Gegentheil, sie
bedauerte es immer sehr, wenn sie einen solchen verfehlt hatte.
Ludolfs Weisung, Germaine nicht mehr zu empfangen, konnte sie
durch einen Zufall leicht befolgen. Germaine kam zweimal, als
Mietze nicht daheim war. Diese Besuche blieben einfach unerwidert
und damit war der Bruch geschehen. Steinweber und
Haumond hatten sich gar nicht gezeigt.
Die Frau befand sich in der größten Erregung. Sollte sie sagen lassen, sie sei nicht zu Hause? unpäßlich? Aber der brennende Wunsch, Alfred zu sehen, von ihm selbst vielleicht alles zu hören, war so groß in ihr, daß sie sich plötzlich darauf besann, daß man nicht durch Dienstbotenmund Lügen bestellen dürfe.
„Ich bitte,“ sagte sie, lief aber in das Nebenzimmer, um sich etwas zu sammeln, ihre Schürze abzunehmen, ein frisches Taschentuch mit Kölnischem Wasser zu betupfen und ihr Haar noch besonders glatt zu streichen
Dann kehrte sie mit zitternden Knieen in das Gemach zurück, wo Alfred mit dem hohen Hut in der Hand stand und die Photographie eines Thumannschen Bildes, die an der Wand hing, ansah.
„Gott, wie ist er blaß!“ dachte Marie ergriffen. Natürlich, an Aerger und Kummer durch die Frau hatte es ihm nicht gefehlt.
„Wir haben uns lange nicht gesehen,“ sagte sie mit bebender Stimme.
„In der That“ antwortete Alfred mit einer Stimme und einer Miene, als sei nichts vorgefallen, „ich bin gegen meine gnädige Gönnerin nachlässig gewesen. Aber wenn Sie wüßten, was alles auf mir lag.“
„Ich weiß,“ sagte sie innig und traurig.
„Sie wissen?“ fragte er entgegen. „Das nimmt mich wunder. Ah, vielleicht durch Bendel. Ja, ich merke, daß ich doch bessere Arbeitskraft besitze, als ich mir immer zutraute. Ich hoffe auch, etwas Nützliches gethan zu haben, indem ich der deutschen Leserwelt ein bedeutendes englisches Buch zugänglich machte. Seit vierzehn Tagen bin ich mit der Uebersetzung fertig. Daneben und nachher hatte ich schrecklich viel zu thun mit der Ordnung meines Vermögens. Sie wissen, ich denke mich in Pommern anzukaufen. Bei der Bebauung meiner Scholle und der Beschäftigung mit meiner Bücherei hoffe ich ein befriedigtes Leben zu führen. Ich reise morgen ab, um einige Besitzungen, die mir angeboten sind, zu besichtigen. Man schreibt mir, daß die Gegend dort schneefrei ist. Mich zu verabschieden bin ich gekommen, denn es wäre mir, an dessen Unhöflichkeiten Sie so oft gütig Nachsicht geübt haben, doch zu ungezogen erschienen, mich aus Berlin zu entfernen, ohne Ihnen noch die Hand zu küssen.“
Nein, das war denn doch zu viel der Komödie! War er gekommen um sie dumm zu machen? Marie kämpfte mit Thränen.
„Und Germaine?“ entfuhr es ihr.
„Germaine? Wir haben [470] eine alte Dame als Gesellschafterin für sie gefunden – aber, nicht wahr, Sie gestatten, daß ich mich setze? – mit dieser wird sie wohnen.“
Marie fiel fast in einen Stuhl, Alfred gegenüber, der sich lächelnd gesetzt.
„So ist es alles, alles gar nicht wahr?“ rief sie mit bebenden Lippen.
„Was?“
„Daß Sie sich scheiden lassen, daß S-teinweber Germaine heirathet,“ brach sie aus.
Alfred sah sie an. Er schien zu überlegen, ob er ernst oder spielend mit ihr sprechen solle und wie er am klügsten handle.
„Gewiß,“ gab er freundlich zu, „gewiß ist es wahr. Sie behalten Germaine, die sich zur Zeit natürlich zurückzieht und sich selbst das Vergnügen versagt, Sie zu sehen, hier in Berlin. Ich denke, daß im Frühling ihre Vermählung mit Marbod erfolgen soll, nachdem gestern schon die Scheidung perfekt wurde.“
„Gestern schon?“
„Es lagen eben besondere Verhältnisse vor. Unsere Ehe war nur Schein.“
„Mein Gott, davon s-prechen Sie so ruhig?“
„Warum nicht? Ich liebe Germaine, als wenn sie meine Schwester wäre, und wünsche ihr ein volles Glück mit Marbod.“
Marie faltete die Hände im Schoß, sie war geschlagen, verständnißlos, unfähig, mit einer zwingenden Frage der Sache auf den Grund zu kommen.
„Das vers-tehe, wer kann! Sind Sie denn gar nicht unglücklich?“
Da verstand er, daß sie ihn von Herzen gern bemitleidet und getröstet hätte. In seinen Augen blitzte etwas auf – ein kleiner, ganz kleiner Teufel.
„Unglücklich! Ach, meine Freundin, ich glaubte oft, daß Sie in meiner Seele läsen. Sie wissen, ich stürzte mich in die Ehe mit Germaine, ohne sie zu lieben. War es nicht meine Pflicht, Germaine die Freiheit wieder zu geben, damit sie fände, was ich ihr nie werden konnte: einen Gatten? Glauben Sie mir, Sie stehen hier schuldlosen, aber unglücklichen Menschen gegenüber. Germaine ist rein wie Sonnenlicht, ebenso Marbod.“
„Das will ich für meine Person so auch gern glauben,“ sagte Marie seufzend, „aber man kann es doch nicht alle Menschen glauben machen, die nun einmal schlecht von den beiden denken. Ach, es kommt wirklich nicht auf die Schuldlosigkeit an, sondern auf das, was die Leute s-prechen. Ich bin es wenigstens meinem Ruf und meiner S-tellung schuldig, nicht mehr mit einer Frau zu verkehren, die so ins Gerede gekommen ist.“
Der kleine Teufel in Alfreds Augen begann etwas kühner zu blicken.
„Und ich?“ fragte er mit einem Seufzer, indem er sich vorbeugte und ihre Hand ergriff, die sie ihm zitternd ließ, „wollen Sie auch mich verdammen, weil mein Herz das Glück nicht finden kann, nach dem es lechzt? O Marie, theure Freundin!“
„Sie – nein, Sie verdamme ich nicht,“ stammelte sie; „Sie hätten so glücklich sein können – Sie haben ein so gutes Herz.“
„Marie, ich kann und darf Sie nicht in mein Inneres blicken lassen. Aber Sie – lassen Sie mich nicht mit dem Gedanken scheiden, daß Sie mich falsch beurtheilen. Sagen Sie mir durch einen Händedruck, daß Sie mir ein gütiges Andenken bewahren werden, auch wenn ich nie mehr zurückkehre.“
„Nie – nie?“ rief Marie. Schluchzend drückte sie seine Hand. Alles, was er sagte, kam ihr so wunderschön und so todtraurig vor. Ja, er hatte doch ein edles und gefühlvolles Herz und unter ihrem Einfluß hätte noch ein ganz guter, solider Mensch aus ihm werden können. Fühlte er das selbst? Wollte er das nur Ludolfs wegen nicht gestehen? Wie sagte er doch? „Ich kann und darf Sie nicht in mein Inneres blicken lassen.“ Sie weinte immerfort.
„Aber so fassen Sie sich doch!“
„Es ist so furchtbar,“ schluchzte sie, „daß gerade Sie immer Frauen finden, die Sie nicht vers-tehen, oder nicht vers-tehen dürfen.“
Er stand vor ihr und sah lange mit eigenthümlichem Blick auf die weinende Freundin nieder. Ob Marie diese Thränen einer andern Frau verziehen hätte? Schwerlich. Ob sie sich genau bewußt war, weshalb sie ihr flossen? Ob ihre Seele dunkel danach schmachtete, die unbestimmte Beunruhigung, die durch ihre Nerven ging, von ihm sich klar machen zu lassen?
„Ich danke Ihnen für Ihre Theilnahme,“ sagte er endlich in ganz freundlich höflicher Weise, „und Sie werden Ludolf und Schneiders Grüße von mir bringen. Sobald ich mich angekauft habe, werde ich mir erlauben, es Ludolf mitzutheilen. Vielleicht kann ich ihn und Sie dann schon im kommenden Sommer bei mir als Gäste begrüßen. Und so leben Sie wohl!“
Sie stand wankend auf. Ihre ihn überragende Gestalt mußte Halt suchen. Sie faßte nach der Stuhllehne. Ihre Hand fühlte seinen kurzen kräftigen Händedruck.
Es wurde ihr ganz dunkel vor Augen. Wollte er gehen? So gehen? Ihr war, als müsse sich noch irgend etwas ereignen – noch irgend etwas Außerordentliches, Unerhörtes. Ihr Herz schlug. Ihre Lippen wurden trocken.
Wie durch einen Schleier sah sie, daß er ging, wirklich ging, nachdem er sich noch einmal an der Thür verneigt hatte. Die Thür fiel zu. Auf dem Korridor verhallte sein Schritt.
Sie warf sich in den Stuhl, auf dem er gesessen, und legte das Haupt an die Lehne, die seine Schulter berührt hatte.
Und sie weinte, laut und heftig und lange.
„Würde mein Kind mir gesunden, wenn ich es nach dem Süden führte?“ hatte Gerda den berühmten Arzt in Heidelberg gefragt.
„Ich glaube, daß eine Reise, und wenn Sie dieselbe mit dem größten Luxus ins Werk zu setzen vermöchten, Ihrem kleinen Sohn nur schaden dürfte,“ antwortete ihr der ernste milde Mann. „Die ungewöhnliche geistige Regsamkeit des Kindes ist die Todfeindin seiner Gesundheit. In immer derselben, möglichst ruhig heiteren Umgebung, in der Stille Ihres Heims kann er sich vielleicht erholen, auf einer Reise nach Kairo oder Madeira niemals. Vielleicht wären die Anlagen, die der Kleine offenbar von seinem Vater ererbt hat, nie zur verderblichen Entwickelung gekommen, wenn er vom ersten Jahr seines Lebens an in geeigneten Klimaten gewohnt hätte. Aber auch das ist schwer zu sagen. Wo die Tuberkel als konstitutionelle Eigenschaft einer Familie sich forterbt, sind unsere Rathschläge und Vorbeugungsmittel meist nur eine Beruhigung für unser eigenes Gewissen. Wir erleben da die wunderbarsten Fälle. Robuste, volle, kräftige junge Menschen sehen wir in solchen Familien oft in jähem Verfall sterben. Zarte, kränkelnde Menschenpflänzchen mit angegriffenen Lungen sehen wir zäh Widerstand leisten, erstarken und endlich den innern Feind besiegen. So kann Ihr kleiner Liebling vielleicht als erwachsener, verhältnißmäßig gesunder Mann Ihnen einst für die Sorgen danken, die Sie jetzt seinetwegen tragen.“
Und mit diesem Bescheide hatte die einsame Frau ihr geliebtes Kind wieder heimgeführt in das Haus auf den Waldbergen.
Was mit Erfindungsgabe, Geld und Fürsorge zu beschaffen war, geschah, um das Berghaus gegen die Rauhheiten des Winters zu schützen. Gerda ließ Heizungen und Ventilationen herrichten, ein Glashaus anbauen, wo das Kind unter immer grünen Bäumen spielen konnte, und mußte alle ihre Vorkehrungen täglich neu gegen das Tantchen vertheidigen.
Das alte Fräulein fand sich und ihre „Krankheit“ in der empörendsten Weise zurückgesetzt gegen den verzogenen Jungen, dessen bißchen Kränkeln die ängstliche Mutter überschätzte. Kaum fragte man sie, wie sie geschlafen habe, wie ihr die Pulver bekommen seien; niemand kümmerte sich darum, ob mittags auch ihre Speisen genau nach der neuen diätetischen Vorschrift bereitet wurden, die sie aus einer Broschüre entnommen und der Köchin klar gemacht hatte. Wenn der Arzt kam, beschäftigte er sich zumeist mit Sascha und dessen Husten. Das alte Fräulein hustete auch, seit das Kind es that, und quälte den Doktor, der ihr jeden Tag die Lungen behorchen sollte.
Endlich gab ihr dieser den Rath, nach San Remo zu reisen, denn der verständige Mann sah ein, daß die kleine anspruchsvolle Dame mit ihrem gewohnheitsmäßigen Kranksein Gerda quälte. Von da an bis zu dem Tag ihrer Abreise benahm das Tantchen sich wie jemand, der im Begriff ist, an der Schwindsucht zu sterben. Sie schrieb an alle ihre Bekannten, daß der Doktor sie wegen ihrer angegriffenen Lungen nach San Remo schicke. Sie ließ sich [471] eine ganze Litteratur kommen, welche die Lungenschwindsucht und die Wege ihrer Heilung behandelte, unterrichtete sich über alle Luftkurorte, die für solche Kranke in Frage kommen konnten, und wußte Höhenlagen, Temperaturgrade und Pensionspreise in allen Orten auswendig.
Sie gewöhnte sich an, zu sagen: „Ich ginge gern da oder da hin, aber das ist zu spät für mich, ich muß schon nach San Remo.“
Das ganze Haus athmete auf, als sie endlich abreiste.
Nun war Gerda mit ihrem Sohne ganz allein. Daß der Herbst gekommen war und der Winter, bemerkte man dort oben nur an den Regenschauern und Stürmen, die vorüberjagten. Von den ineinander sich verziehenden Linien der sanften Bergeshöhen sah der immergrüne Tannenwald herüber, und wo da oder dort das nackte Geäst kahler Eichen und Buchen aus dem dunklen Grün braune Flecken warf, beachtete man es kaum.
Gerda verließ ihr Haus nie mehr. Das Wägelchen des Verwalters fuhr jeden Morgen hinab in die Stadt und brachte alles herauf, was für die Ernährung des Kindes und der Hausbewohner nöthig war.
Kein Laut aus der Welt kam mehr herauf; kein Buch, nicht einmal mehr eine Zeitung nahm Gerda in die Hand. Sie spielte weder Klavier, noch nahm sie je eine Nadel, um zu arbeiten. Der ganze Tag gehörte ihrem Kinde. Sie spielte mit Sascha, hielt ihn auf dem Schoß, wenn sie ihm vorplauderte, wachte neben ihm, wenn er ruhen sollte, bereitete seine Speisen selbst. Aber ach, sie fühlte, daß ihrem Wort die leichte Heiterkeit fehlte, die ein Lächeln auf dem süßen Gesichtchen hervorzaubern konnte; daß ihr Blick nicht hell und frei genug war, um den fragenden Augen des Knaben ermuthigend zu begegnen. Er wollte immer belehrt sein, aber sie verstand es nicht, spielend zu belehren und seinem Verstande die ersehnte Nahrung zu geben, indem sie zugleich seine Phantasie schön beschäftigte. Auf die tausend merkwürdigen Fragen, die ein zugleich über- und unreifer Kinderkopf aufwirft, hatte sie Erklärungen, zerstörende oder bejahende, zur Antwort. So gab sie ihm zu schwere Denkarbeit.
Und bei jeder Frage, bei jedem Spiel, bei jeder Traurigkeit des Kindes erinnerte sie sich, wie Alfred ihm zu antworten gewußt: befriedigend, ablenkend und doch nicht unwahr; wie er mit ihm zu spielen gewußt: erfinderisch, wichtig, unermüdlich, wie er ihn zu erheitern gewußt, daß sein helles Lachen durch das Haus klang.
Wenn heute noch einmal die Stunde käme, wo sie fragte: „Was soll Dein Lebensinhalt sein?“ und er antwortete noch einmal. „Ich will Deinem Sohne leben,“ würde sie noch sagen: „Zu wenig Lebensinhalt für einen Mann!“?
Auf den Knieen würde sie ihm danken und von ihm die Gesundheit und das Leben ihres Kindes zurückerwarten.
Er war vermählt! Vielleicht schenkte ihm die Natur eines Tages ein eigenes Kind. Bei solchen Gedanken schloß Gerda die Augen und nahm ihren Sohn fest in die Arme. O, wie hatte er Sascha geliebt! Konnte er den Knaben so ganz, ganz vergessen haben, daß er den rührenden Ruf des kleinen bangen Herzens nicht einmal beantwortet hatte?
Tausend Vorstellungen gingen zermarternd durch ihren Kopf. Hatte er damals Saschas Brief empfangen, als es schon zu spät war, von seinem jetzigen Weibe sich wieder los zu machen? Aber ein Wort, ein armes kleines Wort hätte er dem Kinde doch wiederschreiben können. Oder hatte er gedacht, diese kindisch liebessehnsüchtigen Zeilen seien von ihr, von Gerda, diktirt gewesen, und hatte er herbe und stolz ihr durch sein Schweigen zeigen wollen, daß zwischen ihnen alles erstorben sei, selbst die Erinnerung?
Und bei solchen Gedanken gährte der alte Zorn gegen ihn in ihr auf. Ja, es war alles erstorben zwischen ihnen und sollte todt bleiben. Einen Mann, der von ihrem Herzen weg so unvermittelt in die Arme einer andern eilte, konnte sie nur hassen.
Aber des Kindes hätte er gedenken sollen. Daß die kleine kranke Seele nach einem Zeichen von ihm schmachtete, das mußte er fühlen und wissen. Vielleicht hatte ein neues Liebesglück auch das Bild des einst geliebten Knaben in seinem Herzen ausgelöscht. Vielleicht hatte die Hoffnung auf eigene Kinder ihn das Kind seiner Wahl vergessen lassen.
Riesengroß flammte oft in Gerda der Wunsch auf, ihn nur noch einmal, einmal zu sehen, um ihm zu sagen – daß sie ihn hasse. Dann malte sie sich mit peinvoller Deutlichkeit alles aus, seine Gestalt, seine Stimme, sein Lächeln, sein blondes Haar. Und die Flamme des Hasses wandelte sich, ihr unbewußt, in die Gluth heißester Sehnsucht.
Sie fühlte es oft deutlich, daß er wiederkommen müsse, daß er wiederkommen werde. Das war ihr so gewiß wie die Wiederkehr der Jahreszeiten in der Natur. Aber wenn sie an dies Wiederkehren die Gedanken klammerte und wenn sie diese Gedanken ausspann und sich ein Weiterleben mit ihm dachte – dann schien es, als vergingen ihr die Sinne und als bäume sich ihr ganzes Wesen auf zu einer gewaltigen Abwehr. Und die Sehnsucht ward ihr neu zum Zorn.
Das Kind sprach nie von ihm. Aber Gerda sah, daß Sascha jeden Gegenstand, den Alfred einst in die Spielstube des Kindes getragen hatte, sorgsam bewahrte, und als der Knecht das Gärtchen zur Winterruhe bereitete, schickte Sascha das Stubenmädchen hinaus mit der Bitte, die kleine Hütte aus Tannenzweigen möge man stehen lassen. Sascha konnte sie von seiner Stube gerade sehen. Das Hüttchen hatte er mit dem Kinde gebaut, er den Tisch und die Bank darin mitgezimmert, er unter dem niedern Tannenreisergeflecht mit dem Knaben zusammen gekauert.
Oft, wenn das Kind auf Gerdas Schoß saß und mit seinen großen, unnatürlich glänzenden Augen in die Abenddämmerung hinaus starrte, waren sie beide ganz still. Jeder hörte den Herzschlag des andern im dumpfen, gleichmäßigen Takt gehen. Die Arme der Mutter umschlossen die Gestalt des Knaben fest. Ihr Athem bewegte leicht einige Härchen seines dunklen Gelocks. Die Schatten fielen herab und durch die Einsamkeit sang die Stimme des Windes, der durch den nahen Tannenwald sauste. Sterne blinkten auf, über die schwarzen Bergesfernen wandelte die Nacht.
In solchen Stunden dachten sie beide den einen Gedanken, den unauslöschlichen: an ihn!
Der Winter rückte vor. Das Gesichtchen des Knaben wurde kleiner, seine Augen immer wundervoller. Sein Gebahren ward träumerischer; kaum griff er noch mit seinen mageren Händchen nach dem Spielzeug. Seine Nächte wurden immer fieberhafter; Gerda saß oft stundenlang, hielt seine heißen Hände und sah stumm, mit brennenden, thränenlosen Augen auf ihn herab. Die Dienerschast beschwor die Herrin, sich zu schonen. Der Verwalter erlaubte sich die Bemerkung, daß das Athmen Tag und Nacht im selben Raum mit dem Kinde für die Gnädige nicht gut sein könne, auch ihre Wangen seien schon seltsam rosig und sie huste wie das Kind. Gerda bestritt es, denn sie wußte nicht, daß sie huste oder fiebere; sie hatte ihr Ich ganz vergessen.
Es war in der zweiten Hälfte des Dezembers, als es zu schneien begann. Aus leichtem grauen Gewölk, das eine Weile am blauen Himmel stand und dann langsam weiterzog, fiel feiner weißer Staub auf die Tannenbreiten und zu Thal niedergehenden Gelände. Ein frischer Wind fegte die Tannennadeln wieder frei, die Mittagssonne nahm den Schnee aus den Ackerfurchen und von den Wiesenabhängen hinweg. Dann, Tag um Tag, schob sich fester und undurchdringlicher ein Wolkenmeer ineinander, heftiges Flockengeriesel wechselte ab mit kaum sichtbar herabstäubenden Schneetheilchen. Am Himmel verschwammen die finsteren dunklen Linien, die letzten blauen Durchblicke verblaßten; ein gleichmäßiges, lichtloses, blendendes Hellgrau spannte sich über die Erde und in unveränderter Ausdauer Nacht und Tag wirbelte der fallende Schnee herab. Die Flocken fielen auf die sich zu Thal senkenden Matten und häuften auf sie hohe lockere, weiße Decken; die Flocken rieselten durch das Gewipfel der ragenden Tannenwälder, beschütteten das Gezweig und beschichteten den Waldgrund, daß er silbern emporstieg an den grauen Stämmen, langsam, langsam, aber unaufhaltsam. Zuletzt lagen die untern Zweige mit ihren Spitzen auf weißem Wall, und auf dem sich breitenden Geäst lasteten die Schneemassen schwer. Kein Windstoß schüttelte mehr die dunklen Wipfel und sie hüllten sich alle in Weiß.
Die blauen Höhen der Ferne waren weiß, die grünen Berge der Nähe weiß, weiß das Gelände und unter weißen Kappen versteckt die Dächer im Thal. Kaum daß noch die grauen Felsenschroffen der alten Schloßruine aus dem unendlichen, stummen, todten Weiß hervorsahen.
Zuweilen zog die eigene Schwere ein Häuflein vom biegsamen Tannengezweig hinab zum Fall, dann stäubte ein Geflock auf, ähnlich einem Rauchwölkchen, aber der immer gleichmäßig fortrieselnde Schnee deckte bald wieder den nackt gewordenen grünen Zweig.
[474] Der Schrei der Lokomotive, der zuweilen aus dem Thale heraufscholl, und das Gekrächz vorüberfliegender Raben waren die einzigen Laute in der fürchterlich verschwiegenen und verschneiten Welt.
Wenn das bange Auge am Abend noch einen letzten Blick hinauswagte, sah es fallendes, sanftes, gleichmäßiges Schneegeriesel; wenn der geblendete Blick morgens über die weißen Lande und Höhenzüge zu schauen suchte, sah er fallendes, sanftes, gleichmäßiges Schneegeriesel. Und so schneite es Tag um Tag und begrub die deutschen Berge, Wälder und Ebenen unter ungeheuren Schneemassen. Es wurde Weihnacht und es schneite noch immer fort.
Aber die Todtenruhe des Schneefalls wurde nächtens zuweilen jäh durchtobt von wilden Stürmen.
In dem Hause am Walde hatte man sich gewehrt gegen den lautlosen Feind. Mit großen Mühen hatte man den Fahrweg zum Thal einigermaßen brauchbar erhalten, wenn auch des Verwalters Pferd anstatt des Wägelchens nun einen derben Holzschlitten zog. Und auf diesem Schlitten kam alles herauf, was Gerda für ihr Weihnachtsfest brauchte.
Ihr Knabe zeigte eine Art von ungeduldiger Vorfreude auf den heiligen Abend. Doch sagte er jeden Tag, daß er sich nichts wünsche, nur einen Tannenbaum, diesen aber sehr schön. Der Verwalter hatte eine schöne Fichte zu beschaffen gewußt, und seit mehreren Tagen schlich sich Gerda, sobald das Kind etwas zu schlummern schien, in das Glashaus, in dessen Mitte man die Fichte eingepflanzt hatte, als wüchse sie da natürlich heraus.
Sie hing den herrlichen Baum voll mit all den Dingen, die ein Kinderauge blenden und ein Kinderherz entzücken. Was eine reiche Phantasie nur ersinnen konnte an stimmungsvollem Schmuck, hatte Gerda erhandeln lassen. Die grünen Zweige flimmerten von Silberfäden, Krystallzapfen, Goldsternchen. Die bunten Wachslichtchen waren nicht zu zählen und auf der Spitze des Baumes schwebte ein Engel mit schimmernden Flügeln, die Hände segnend ausgebreitet.
In der Glashalle standen rings an den Wänden Palmen, Lorbeern und Coniferen in großen Kübeln. Den Boden in der Mitte deckten dicke Matten und Teppiche. Eine künstlich verdeckte Heizung ließ eine behagliche Wärme nie unter den Grad sinken, den der Arzt als für Sascha nothwendig bezeichnet hatte. Für das Kind war dieser Raum in weniger als sechs Wochen hergestellt worden. Aber der arme Kleine hatte kaum die Lust gezeigt, darin zu spielen.
Für den Weihnachtsabend ließ Gerda bequeme Stühle, eine Chaiselongue und dergleichen hereintragen, damit der Knabe seinen Tannenbaum sehen und dabei still liegen konnte. Denn seit einigen Tagen zeigte er sich zu matt, um sich noch auf den Füßen zu halten.
Gerdas Angesicht war bleich und die eherne Schrift unaussprechlicher Leiden hatte scharfe Züge hineingeschrieben. Kein Lächeln erhellte ihr Gesicht, als sie am Nachmittag des vierundzwanzigsten Dezembers ihr fertiges Werk besah. Keine frohe Hast war in ihren Bewegungen, die nur eine letzte Willensenergie der Todmüdigkeit abzuringen schien. Nicht wie eine glückliche Mutter schmückte sie den Christbaum für ein jubelndes Kind. Diese Lichter sollten einen letzten Glanz auf den Weg zum Grab werfen, den ihr Kind, ihr einziges Kind ging.
O, könnte sie mitgehen! Die Welt mit ihren Freuden und Leiden war ihr versunken. Die Grabesstille der verschneiten Natur hatte auch Stille in ihr Herz gebracht. Sich hinlegen, nie mehr aufwachen und so sanft, sanft, immerzu den sachten Schnee auf sich herabrieseln lassen!
Die Kerze in ihrer Hand zitterte. Sie hätte sich da hinwerfen mögen auf den Boden und weinen – weinen. Aber in dem Zimmer, von welchem aus man in das Glashaus gelangte, war das Kind. Sascha hätte es hören können, wenn nur ein schluchzender Laut über ihre Lippen gekommen wäre.
Und die Riesenkraft der Mutterliebe besiegte zum unzähligsten Male den Jammer in der Brust der unglücklichen Frau, der endlich, endlich einmal laut aufzuschreien lechzte.
Sie zwang ihre Hand zum Gehorchen und ihren Blick, klar zu bleiben. Sie ging hin und wieder, ordnete die Geschenke für die Dienstboten und zündete alle Lichter an.
Die Glaswände warfen die Bilder der vielen kleinen Strahlenherde kalt blinkend zurück. Weiß schimmerte von draußen der Schneewall, der das Haus umlagerte, weiß grüßte vom durchsichtigen Dach die Decke herab, die draußen der Schnee auf die Glasplatten gehäuft hatte.
Trotz der Wärme, die hier drinnen herrschte, überlief es Gerda frostig.
Sie hielt noch einmal Umschau. Alles war fertig. Wie seltsam – eine Weihnacht für ein Kind ohne Geschenke! Sie wußte ja, ihr Knabe hatte mehr an schönen Sachen, als die wechselndsten Neigungen eines Kindes nur begehren konnten, und verlangte fast nie mehr nach Spielzeug oder nach Büchern. Aber wenn er doch einen, einen Wunsch gehabt hätte – selbst den thörichtsten, Gerda würde ihn mit Wonne erfüllt haben. Und doch, so ohne Wünsche, so voll heimlicher Vorfreude?
Welcher Einbildung, oder welcher Ahnung diese Vorfreude gelten könnte, wagte Gerda kaum auszudenken. Ihre Kniee versagten ihr den Dienst, wenn sie an die Enttäuschung dachte, die dieser Vorfreude folgen mußte.
Warum mußte?! Wenn seine Liebe den Knaben prophetisch gemacht hätte! – so an den Grenzen des Grabes wird die Seele hellseherisch. Wenn das wahr würde, was Sascha zu erwarten schien! Wenn er käme, endlich, endlich zurückkäme zu den beiden, die ohne ihn vergingen!
Gerda fühlte einen Schwindel. Aber jäh stockte ihr rasender Pulsschlag. Sein Weib fiel ihr ein. Zur Weihnacht bleibt man bei seiner Familie.
Armes Kind!
[485]
Mit wankenden Schritten ging Gerda in das Gemach, wo
Sascha in einem Lehnstuhl kauerte und neben ihm die Dienstboten
des Hauses standen.
„Komm, mein Liebling,“ sagte sie, mühsam ihren Ton beherrschend. Sie neigte sich zu ihm und hob ihn auf. Er war so leicht geworden, daß sie ihn ohne Mühe trug.
Ein schweigender, kleiner, trüber Zug folgte der Herrin in den lichtschimmernden, weihnachtlich geschmückten Festraum.
Gerda stand vor dem Christbaum. Das Kind hatte seine Arme um ihren Hals geschlungen und seine Wange an ihre gelegt. Stumm schauten sie in das Strahlengefunkel. Plötzlich fühlte Gerda an ihrer Wange ein heißes Naß – Thränen aus den Augen ihres Kindes.
„Gott, den sie barmherzig nennen, gieb Du mir Kraft!“ betete Gerda in stummer Verzweiflung, während ihre Arme fester das Kind umschlossen.
Sie ging hinüber auf die Seite, wo der Tisch mit den Geschenken für die Leute stand.
„Dies,“ sagte sie mit kaum hörbarer Stimme, „dies schenkt Euch alles mein Sascha als Dank für die Liebe, die Ihr ihm zeigt.“
Die beiden Mädchen und der derbe Knecht weinten und küßten die Hände der Herrin und des Knaben. Dann nahmen sie die reichen Spenden und gingen weinend hinaus.
Gerda trug den Knaben auf die Chaiselongue und knieete vor ihm nieder. Der Kleine hatte auf seinen Wangen dunkelrothe Flecke. Sein Puls flog, sein Auge brannte.
„Nun kommt mein Geschenk,“ flüsterte er mit seligem Lächeln.
„Mein Liebling,“ sagte die geängstigte Frau, „Du hast Dir ja nichts gewünscht.“
„Doch,“ erzählte er leise und wichtig, „doch! Aber nicht von Dir, vom lieben Gott etwas. Gesagt habe ich es ihm jeden Abend. Du sagst zwar, er sieht immer, was in unseren Herzen ist, aber ich dachte, Weihnacht hat er in so vielen Herzen etwas zu sehen, daß er nicht alles und alles behalten kann, deshalb habe ich es ihm jeden Abend gesagt.“
„Was denn?“ fragte Gerda zitternd. Sie war bleich wie der Tod. Und dabei suchte sie mit klammernden Fingern das Händchen des Knaben festzuhalten, um den fieberkündenden Puls zu zählen. Aber das Kind war sehr unruhig und wollte nicht angefaßt sein.
Saschas Augen irrten umher. Er sah an den blanken Glaswänden entlang und zu dem Schnee hinaus.
„Deshalb wollte ich auch im Glashaus meinen Tannenbaum haben,“ erzählte er weiter.
„Weshalb?“ fragte Gerda, die das irre Fieberlicht sich wieder in den großen Kinderaugen entzünden sah.
„Ein Engel wird kommen mit großen Flügeln, weiß von Schwanenfedern, aber mit silbernem Schimmer. Ja, und der führt ihn an der Hand. Die Glaswände thun sich auf und der Schnee zertheilt sich. Ich habe es dem lieben Gott ganz genau beschrieben.“
Seine Lippen sprachen flüsternd und unverständlich weiter, seine Augen hafteten [486] fest an einer Stelle, wo er zwischen den grünen Palmen den Schnee draußen sich bis an die Fenster drängen sah.
„Mein Kind!“ schrie die unglückliche Frau verzweifelt auf.
„Wir mögen nicht mehr allein sein,“ sagte der Knabe lauter, „ich habe dem lieben Gott auch erzählt, wie vergnügt wir früher waren.“
„Mein Kind,“ sprach Gerda, sich ganz nah an ihn schmiegend, „Du möchtest – möchtest Alfred wiedersehen?“
„Ach ja,“ rief er, indem er glücklich lächelte, „das wäre so schön, so schön!“
Gerda sprang auf. Auch ihre Wangen glühten. Sie ging in ihr Zimmer, sie schrieb einige Zeilen, sie rief die Dienstboten und fragte, wer sie lieb genug habe, noch heute, am Festabend, den beschwerlichen Weg zu Thal zu machen. Alle waren bereit.
Und dann kehrte sie zu ihrem Kinde zurück. Auf der Schwelle stockte ihr Fuß. War das, was sie geschrieben, nicht eine Lüge gewesen?
„Mein sterbender Knabe will seinen Freund noch einmal sehen. Gerda.“
War er wirklich sterbend?
Licht und warm war’s in dem hellen Raum, den Tannenduft durchwebte. Still lag das Kind und schaute mit glänzenden Augen auf den strahlenden Tannenbaum. Auf den Wangen hatte es Röthe, seine Händchen waren friedlich gefaltet. War er wirklich sterbend?
Gerda knieete vor ihm nieder. Sie neigte ihr Haupt auf seine Brust und horchte.
Ja, das war der eilige, schwache Schlag des Herzens, das dem Ende entgegenschlägt, das die Blumen des Todes, die rosig auf seinen Wangen blühten, das war der unirdische Blick eines schon halb verklärten Geistes.
Und die Mutter senkte ihr Angesicht vor dem unerbittlichen Geschick, das der Unerforschliche ihr auferlegt.
Das kleine Briefblatt wanderte durch die Nacht in die Welt hinaus. Schneestürme versperrten ihm den Weg. Und als es weiterging, fand es den, für welchen es bestimmt war, nicht in der großen Stadt. Es zog ihm nach, aber der Winter häufte die Hindernisse; Züge blieben im Schnee stecken, Landposten verirrten sich im Sturmtreiben. Aber endlich nach langen Tagen kam das arme kleine Blatt in die Hände des Mannes, den es suchte. Und dem kurzen, entsetzensvollen Inhalt antwortete ein Schreckensschrei.
Wie Alfred es möglich gemacht, von dem einsamen Gehöft am Strande des Meeres, wo er geweilt hatte, um es sich vielleicht zu erwerben, auf unwirthlichen, oft versperrten Wegen bis an die große Landstraße und den südwärts führenden Schienenstrang zu kommen, war ihm selbst kaum bewußt. Als er im schwer weiter keuchenden Zuge durch die todtenweiße Welt fuhr, war ihm nur eine dumpfe Erinnerung geblieben an schneidende Stürme, die sein Gesicht zerpeitscht, an Stunden voll rasender Ungeduld, die er in einer vom Verkehr abgesperrten Poststelle verbracht hatte. Und wie der Zug kroch, anstatt zu jagen! Wie unerträglich das war, stillsitzen zu müssen und die langen Stunden zu zählen! „Ich komme,“ hatte er durch den ersten Telegraphen, dessen er habhaft werden konnte, hingerufen. Wie hätte er diesem Rufe, der sich durch schwirrende, summende Drähte schleunig fortsetzte, doch ebenso schnell folgen mögen!
Ueberall gab es Aufenthalt, Anschlüsse wurden versäumt. Der Tag ging zu Ende und durch die schauerliche Nacht keuchte der Zug, den Schneepflug voran. Alfred wachte mit brennenden Augen. Wenn die Fahrt langsamer wurde, zitterte er, daß sie ganz stocken könnte. Er horchte auf das dumpfe Schüttern der Radumdrehungen, aus dem gleichmäßigen Takt derselben drängte sich seinem Ohr die Erinnerung an eine Melodie auf und diese summte in seinem Gehirn neben all seinen Gedanken immerfort. Dann wieder zerriß der hohle bange Schrei der Lokomotive die Nacht. Das blanke Fenster spiegelte friedlich den hellen kleinen Raum wieder, in welchem der blasse Mann in verzehrender Unruhe saß.
Zahllose Male sah er nach der Uhr. Eins – zwei – drei – mein Gott, welch eine lange Nacht! Und dann auf einmal gab es einen Ruck und der Zug stand. Eine Station? Nein, draußen gähnte die Nacht und jagendes Schneegestöber verbarg dem Blick selbst die Uebersicht über das nächste Gelände.
Alfred versuchte, seine Thür zu öffnen. Schwer gelang es ihm, denn der Zug hatte sich in Schneewälle hineingebohrt und die weißen Mauern drängten gegen die Wagenwände. Aus allen Thüren und Fenstern beugten sich im Lichtscheine, der von drinnen hervorbrach, die Silhouetten von Menschenköpfen. Stimmen wurden laut und suchten den Sturm zu übertönen. Beamte kletterten an den Trittbrettern entlang. Aus dem Ruf und Gegenruf hörte Alfred, daß man sich in der Nähe von Frankfurt befinde und daß die Schneeverwehungen so hoch und ausgedehnt seien, daß Stunden hingehen möchten, ehe die Bahn frei werde.
Zu den offenen Coupéthüren drängte sich mit den Sturmstößen feiner Schneestaub herein. Die Kälte des Grabes schauerte den überwachten Mann an.
Er hatte das Gefühl, lieber durch diese Schreckensnacht vorwärts wandern, als hier festgebannt bleiben zu wollen. Die Bewegung allein schon schien ihn seinem Ziele näher zu bringen. Er fragte, ob ein entschlossenes Vorwärtsdringen für einen Fußgänger Erfolg haben könnte. Andere, vielleicht von ähnlicher Unrast erfaßt wie er, zeigten denselben Entschluß. Einer von den Zugbeamten sollte ohnedies die nächste kleine Station zu erreichen suchen, um Hilfe herbeizuholen.
So begann denn ein Häuflein von Männern die beschwerlichste Wanderung. Man umging die Schneeverwehungen, man hielt sich eng aneinander, um die Gefahr des Verlierens zu vermeiden. Der Wind warf sich ihnen entgegen wie ein körperlicher Widerstand. Die Stimmen wurden heiser, der Athem keuchend. Die Schneenadeln stachen in die Augen, weiß bereiften Bärte und Pelzhaare. Verlöschend bald und bald aufflackernd schwankte die Laterne ihnen voran, welche der der Gegend kundige Schaffner trug.
Ein Gehöft am Wege, eine Baumgruppe, die den selbstgesuchten Pfad sperrte, eine ansteigende Wellenlinie des Bodens gaben den suchenden Männern die Richtung. Und endlich blinkte es vor ihnen wie Licht auf, verschwand wieder und stand als fester Punkt.
Sie waren an einer kleinen Station angekommen, bei welcher die Eilzüge unaufhaltsam vorüberrasen. Hier gab es keine Hilfe, aber doch die Gelegenheit, aus der nahen großen Stadt solche herbeizurufen.
In dem engen, heißen, übelriechenden Raum der Bahnwärterstube drängten sich die erschöpften Männer. Aus ihren Haaren und Kleidern dampfte es feucht. Alfred, der in dem mehr als stundenlangen Kampf gegen Schneetreiben und Nacht seinen Körper nicht gefühlt hatte, empfand in diesen vier Wänden ein Elend ohnegleichen.
Die endliche Ankunft einer Lokomotive und eines Wagens von Frankfurt war ihm wie eine Erlösung. Sein Gepäck, der verschneite Zug – alles war ihm gleich. Er fuhr, der erste, der sich die Gunst erbat, mit der Arbeitslokomotive weiter und rechnete fieberhaft aus, daß er noch den Frühzug nach Baden erreichen könne.
Aber die qualvollen Stunden sollten sich ihm noch verlängern. In Frankfurt, wo der nächtige Wintermorgen ein ungewohntes Leben auf dem Bahnhof zeigte, erfuhr er, daß auch auf der Main-Neckarbahn Verkehrsstockungen stattgefunden hätten und daß der erste Zug vor Mittag kaum abgelassen werden dürfte.
Er ging in das nächste Hotel, klopfte die noch schlafende Dienerschaft heraus und fand ein Lager, auf das er sich halb entkleidet warf.
Seine Gedanken waren betäubt, sein Körper zitterte vor Ermüdung nach den bestandenen Anstrengungen. Und die Kälte, in welcher er stundenlang sich bewegt hatte, wirkte narkotisch. Er schlief ein, fest, tief, traumlos.
Der Ruf des Knechtes, dem er hierfür eine Stunde bestimmt hatte, erweckte ihn.
Er öffnete die Augen und schloß sie geblendet wieder, die Tageshelle war schier unerträglich. Draußen flimmerte die Sonne in tausend Diamantreflexen wieder vom blüthenweißen Schnee.
Heute sollte er sie sehen! Sie und das Kind! Alfred hatte ein brennendes Gefühl in seiner Brust, das ihn verzehrte und den Ton seiner Stimme unklar machte.
Und doch noch Stunden des Wartens! Diese, er fühlte es, würden noch unerträglicher sein als alle die vergangenen im Kampf mit den Unbilden der Natur.
[487] Er ging in die Stadt. Vor jedem Laden blieb er stehen, planlos, nur um die Zeit zu tödten. Vor einem Spielzeugladen stand er still, ohne zunächst von den Auslagen irgend etwas zu bemerken. Erst als von drinnen, zwischen den Wänden eines Theaters und einer Puppenküche, ein Männerarm hervorlangte, um eine nahe dem Fenster aufgebaute Spielerei empor- und hineinzunehmen, bemerkte Alfred, daß da Sachen standen, die früher sein aufmerksamstes Interesse erregt hatten. Vor solchen Fenstern hatte er zahllose Male in den Erwägungen gestanden. „Würde das Kind diese Trompete nicht gern haben? und würde Gerda sich nicht beide Ohren zuhalten und zu den schrecklichen Tönen lachen?“ – „Oder wenn ich ihm diese Spieldose mitbrächte, würde der Junge nicht schon nach einer Stunde die Mechanik untersucht und zerstört haben?“ – Sascha liebte vor allen Dingen Spielzeuge, bei denen er „inwendig“ großartige Entdeckungen machen konnte.
Zahllose kleine lustige Erinnerungen an solche Zerstörerthaten des Knaben hellten die Züge des Mannes auf. Sein Auge ward lebhaft, er suchte nach hübschen Dingen für die flinken kleinen Finger. Da und dort und dies und das – ein Dutzend Sachen gleich auf einmal, die ihn erfreuen möchten. Alfred wollte in den Laden treten, seine Hand griff gewohnheitsmäßig nach der Geldtasche.
Da stockte sein Fuß und seine Kniee zitterten. Jäh kam in sein Gedächtniß, warum er hier und jetzt hier stand. Er wartete auf den Zug, der ihn an das Todtenbett, vielleicht an die Leiche des geliebten Kindes bringen sollte. Er war im Begriff gewesen, für die kleinen Hände Spielwerk zu suchen, die vielleicht schon erstarrt waren.
Tödliche Angst ergriff ihn. Er floh davon, wieder dem Bahnhof zu und erfuhr dort neue Qual des Wartens.
Aber endlich, endlich hallte der letzte hohle Pfiff der Lokomotive von dem niederen Dach des Bahnhofes wieder, und durch die häßliche Breite der Geleise, Güterschuppen, zusammengeketteten Wagenreihen fuhr der Zug ins Freie.
Draußen lachte herrlichste Winterpracht. Denselben Weg war Alfred mit Gerda im Hochsommer gefahren.
Sein Herz erzitterte. Damals hatten sie geglaubt, ihre Liebe sei gewaltig genug, um sie Selbstüberwindung zu lehren. Seitdem hatten sie sich in Haß gegeneinander aufgebäumt und doch – und doch – keinen Athemzug gethan, ohne aneinander heiß zu denken. Und was war das, was ihn so qualvoll jetzt zermarterte? Diese wahnsinnige Erregung, die ihn wie Flammen durchloderte? War das nur die Angst um das geliebte Kind? Nur das? Zitterte sein Herz nicht vielmehr vor dem Augenblick, wo er ihr wieder begegnen sollte? Schlugen nicht ihr seine Pulse entgegen?
Und wieder wurde es Abend und wieder sank die Winternacht schnell hernieder. Aber das blendende Schneegebreite gab hellen Dämmerschein, so hell, daß der Mann aus den Wagenfenstern das Berghaus droben zu erkennen glaubte, als der Zug in das Oosthal einfuhr.
Und als er dann im schnell gleitenden Schlitten durch die Anlagen und bergan fuhr, hämmerte in seinen Schläfen das Blut, jeder Herzschlag tönte dort wie ein dumpfes Echo wieder. Seine Hände bebten, er fühlte seine Sinne unklar werden.
Das Kind, die Sorge um sein Leben – er hatte alles, alles vergessen. Die ganze Welt trug nur das eine Geschöpf für ihn: sie! Sie sehen, hören, zu ihren Füßen liegen, ihren Athem trinken, in ihren Armen vergehen! –
Da hielt der Schlitten. Er sprang heraus. Ein fremder Mensch trat herzu, ein Knecht oder Diener – Alfred sah alles wie im Traum. Der Mann sagte, daß man ihn seit Tagen erwartet habe, und brachte ihn in ein Gemach und ließ ihn allein.
Warten? Jetzt noch warten auf einen Ruf? Er warf seinen Pelz von sich und ging durch die nächsten Zimmer. Alles kalt und leer und kein anderes Licht als das vom Schnee draußen. Doch da – ein Schimmer durch die Spalte.
Er riß die Thür auf. Das Zimmer war leer, doch hell und warm, und durch weit zurückgezogene Vorhänge sah er in ein anderes Gemach, darinnen ein gedämpftes Licht matt über ein Bettchen floß und ein weißes Gesicht, geschlossene Augen und eine dunkle Lockenfülle unsicher mehr errathen als erkennen ließ. Und zu Häupten neben diesem Bette ein Lehnstuhl und darinnen ein Weib, das sein Haupt wie sterbensmüde gegen die Polster gelehnt hatte.
Er ging wankend vorwärts, das Geräusch seiner Schritte erweckte die Frau, sie hob das Angesicht und sah auf – –
Er lag zu ihren Füßen.
Sie waren beide stumm. Seine Arme umklammerten ihren Leib, sein Haupt lag in ihrem Schooß. Sie hatte den Kopf wie ohnmächtig weit zurückgelehnt und ihre Finger um seinen Nacken zusammengeschlossen. Sie sprachen kein Wort. Aber seine Seele vernahm ihren Herzschlag und die Geschichte ihres Grames. Er wußte, was sie gelitten hatte, und daß sie hier saß, um den letzten Athemzug ihres Kindes zu erlauschen.
Und so, nahe aneinandergeschmiegt, wuchsen ihre Gedanken immer heißer ineinander. Und endlich erhob er das Haupt und seine Augen suchten ihr Angesicht, das blasse, gramgeschmälerte. Sie aber sah ihn an, groß und mit dem Staunen eines Menschen, dessen Seele nicht mehr an Liebe zu glauben wagt.
Seine Lippen näherten sich den ihren, und ohne daß sie es beide gewollt oder gewußt, küßten sie sich lange und heiß. Er ließ sie nicht aus seinen Armen. Er flüsterte zu ihr, Worte von Liebe und Mitleid.
Da schraken sie beide auf. In dem Bettchen rührte es sich. Ein seufzender Athemzug kam von den Lippen des Kindes.
Sie knieeten vor dem Lager, Wange an Wange sahen sie mit bangen Blicken auf das schmale, liebe Gesicht mit den eingesunkenen Schläfen und dem bitteren Leidenszug um den Mund.
Fühlte das Kind die Blicke? War es aus seinem hindämmernden Schlummer erwacht? Aus diesem Schlummer der äußersten Mattigkeit, der das letzte Hinsterben aller Lebenskräfte bedeutet? Der Knabe schlug die Augen auf. Sein Blick wurde groß, ein ängstlich aufleuchtendes Leben trat hinein – Unglaube und Glück zugleich.
„Ja, er ist da,“ flüsterte Gerda, während, ihr selbst gar nicht bewußt, Thränentropfen über ihre Wangen rannen.
Der Knabe lächelte. Dies Lächeln ließ beide erschauern. Es war etwas Erschütterndes darin, wie die abgezehrten Züge sich glücklich verklärten und doch gerade in diesem Lächeln die furchtbare Verheerung durch das Leiden zeigten.
Er wollte seine Arme erheben und war zu schwach dazu. Alfred erfaßte die heißen, trocknen Händchen.
Das große Auge des Knaben ging leuchtend von der Mutter zu dem geliebten Freund und mit seinen Blicken drückte er einen ganzen Himmel voll Seligkeit aus. Er sprach kein Wort.
Plötzlich verdüsterte sich sein Gesicht, Angst schien ihn zu ergreifen, er versuchte Alfreds Hände zu pressen. Und die Angst gab ihm die Kraft, welche das Glück noch eben ihm nicht zu geben vermocht hatte. Er bewegte die Lippen.
Sie neigten ihre Häupter ganz nah zu seinem Munde. Und seine tonlose, hauchende Stimme sprach zu ihnen:
„Bleibst Du nun wirklich immer da?“
„Ja, mein Liebling,“ antwortete Alfred leise.
„O bitte, aber streitet Euch nicht mehr, daß Du wieder fort gehst!“
Alfred und Gerda erzitterten. Er aber preßte das Weib an seiner Seite mit eisernem Druck an sich und sprach laut:
„Wir schwören es Dir! Nie mehr!“
„O – – “ seufzte das Kind mit Lächeln und schloß die Augen.
Es schien zu schlummern. Wie lange? Wer mochte es sagen! Wer auch sagen, wie lange die beiden wachend Hand in Hand noch an diesem Lager saßen! Stunden kamen und gingen, vielleicht Tage und Nächte. Alfred und Gerda wußten es nie. In ihren Seelen schmiedete das Gedächtniß die zwei Stunden in eine zusammen – die Stunde, da er sich zu ihren Füßen wiederfand, und jene andere, auch ewig unvergeßliche.
Sie dämmerte empor an einem bleigrauen Wintermorgen nach durchwachter Nacht. Ueber die Schneegefilde ging ein blasser Tagesschein und stahl sich bläulich durch die Spalten der Vorhänge. Das Licht der Lampe kämpfte, glanzlos und röthlich werdend, gegen den kalten hellen Schimmer an.
Der Knabe, vor Schwäche und vielleicht auch durch die Betäubungsmittel ärztlicher Kunst fast regungslos, lag in einem Zustand schmerzlosen Halbschlummers. Sein Athem war kaum hörbar, sein Auge geschlossen. Jeden Augenblick erwarteten sie, die auf der schrecklichen Wacht bei ihm saßen, daß der sanfte Athem ersterben werde.
Da wurde der Knabe unruhig, da schien ihn Noth nach Luft zu befallen, er bewegte sich ängstlich, er schien sich erheben zu wollen. Alfred stützte ihn.
Er rang mit etwas, das ihn zum Husten zu reizen schien. Umsonst. Sein Gesichtchen färbte sich dunkel. Anstatt des beseelenden Hustens kam ein röchelnder Laut.
[488] Die Augen öffneten sich weit und bang. Und da sah sein letzter Blick die beiden geliebten Gesichter in unaussprechlicher Angst über sich, und seine kleine, liebevolle, tapfere Seele wollte die Anstrengung machen, durch ein Lächeln die beiden zu beruhigen. So stritt die Erstickungsangst mit dem Liebeslächeln auf dem Angesicht des kleinen Dulders einen sekundenkurzen Kampf – der Schein von Leben und Bewußtsein erlosch, die Lider senkten sich. Ein hohler Athem ging von den Lippen, die keine Luft wieder einsogen. Der kleine Körper wurde schwer, schwer. Er entsank den Armen die ihn hielten, und lag gestreckt in den Kissen.
Eine fürchterliche Stummheit war auf seinem Munde.
Und auf der jungen Kinderstirn thronte die Majestät des Todes.
Vielleicht anderthalb Jahre später war es, als eines Tages
Jettchen Schneider in höchster Aufregung zu ihrer Freundin kam.
„Jetzt weiß ich alles und endlich sieht man klar,“ sagte sie in der freudigen Stimmung jemandes, der sehr wichtige Dinge im Wissensbesitz hat und darauf brennt, sie mitzutheilen.
„Was denn?“ fragte Frau Marie, ihre Neugierde hinter würdevoller Ruhe verbergend, denn seit ihr Gatte einen höheren Titel bekommen hatte, fühlte sie sich in jeder Weise Jettchen Schneider überlegen.
„Nun, die Geschichte mit der Offingen und Haumond – da Du immer ein Tendre für ihn gehabt hast – ach was, ich hab’s ja doch gemerkt – so interessiert Dich doch wohl alles.“
„Aber die sind ja seit anderthalb Jahren verheirathet,“ sagte Marie möglichst gleichgültig, während ihr Herz klopfte.
„Freilich. Aber wir konnten uns doch auf die ganze Geschichte keinen Vers machen und fanden es unglaublich unpassend, daß sie heiratheten, als der arme Junge so zu sagen eben erst im Grabe lag,“ eiferte Frau Doktor Schneider.
„Freilich, das war auch unpassend,“ gab Frau Mietze zu.
„Denke Dir also,“ begann die noch immer „junge“ Frau, indem sie sich setzte und ihre Hutbänder löste, um freier sprechen zu können, „als ich vorhin von Potsdam kam, wen treffe ich in der Bahn? Das Tantchen. Das alte Fräulein kannte mich gleich wieder, wir wohnten doch früher in einem Hause und sahen uns manchmal im Garten. Na, und die schien auch froh zu sein, daß sie sich mal aussprechen konnte. Weißt Du, weshalb damals die Verlobung auseinander ging? Das Tantchen sagt: Sie konnten sich nicht ineinander fügen; das heißt doch auf deutsch: die Baronin war zu streitsüchtig. Nun ist mir auch erklärlich, warum sie zweimal die Jungfer in einem halben Jahr wechselte, ich konnte damals nicht recht dahinter kommen. – Aber sie hat ihn sich dann doch durch einen wahren Theatercoup wieder zu erobern gewußt. Als ihr Knabe starb, hat sie Haumond kommen lassen, na und da wird er sich wohl haben hinreißen lassen, denn ein mitleidiger Mensch war er doch. Das Kind soll ihnen sterbend den Schwur abgenommen haben, sich zu vertragen.
Das alte Fräulein ist im Frühling von San Remo zurückgekommen, aber sie ist in dem Hause und bei den beiden Menschen ganz krank geworden. Freilich, gestritten haben sie sich nie mehr. Aber es sei gräßlich gewesen, wenn sie verschiedener Meinung waren, angesehen hätten sie sich dann, als wollten sie sich morden – stumm und blaß und ordentlich gezittert haben sie. Und dann haben sie sich in die Arbeit gestürzt, als seien sie Tagelöhner. Er auf dem Gut, das sie sich da zusammengekauft haben, sie im Hause. Kurz und gut – ganz verrückt! Das ist der alten Dame auf die Nerven gefallen und sie ist zum Winter wieder fortgereist. Da, vor drei Monaten schreibt ihr Haumond. ‚Wir haben einen Sohn.‘ Nicht einmal, wie es Gerda geht und ob sie sich gefreut haben – nichts! Natürlich hält es das Fräulein, obschon sie selbst sehr elend ist, für ihre Pflicht, gleich hinzureisen, um Gerda zu pflegen. Da ist sie aber schön angekommen – sie meint, weder Gerda noch Alfred hätten ihre Anwesenheit recht bemerkt, wenigstens gekümmert habe man sich nicht um sie, trotz des bei ihrer Kränklichkeit so großen Opfers. Und das sei ein Gethue gewesen! Als habe der liebe Gott ein Wunder geschehen lassen! Eine Liebe und ein Glück! Eine Dankbarkeit und Rührung! Und das dumme kleine Kind haben sie jeden Tag neu angestauntl Und von Meinungsverschiedenheiten hat man nichts mehr gemerkt – kurz und gut: verrückt! Denn das muß ich sagen, Schneider und ich haben uns auch gefreut, als unser Junge geboren wurde, besonders Schneider, aber so albern haben wir uns nicht benommen und mit mir gebrummt hat mein Mann trotzdem wohl mal. – Und von der ganzen Welt wollen sie nichts mehr wissen, sie wollen nur für sich und ihr Kind leben. – Aber nun ist mir die Zunge ganz trocken geworden, Mietze, hast Du ein Glas Bier für mich?“
„Schade,“ sagte Frau Marie, während sie mit einem Theelöffelstiel ein Stückchen Kork herausfischte, das auf dem Bierschaum im Glase saß, „schade! Mit einer vernünftigen Frau hätte aus Alfred ein ganz geselliger, netter Mensch werden können. Die Offingen paßte nicht für ihn, die ist auch übers-pannt.“
Und Marie Ravenswann soll in diesem Roman das letzte Wort behalten, weil sie es auch im Leben immer hat und immer behalten wird, denn sie ist von denen, die im Geleise gehen.
Anmerkungen (Wikisource)
- ↑ Vorlage: eine