Prof. Dr. Cedric Sachser hat seit September 2024 den Lehrstuhl für Klinische Kinder- und Jugendlichenpsychologie in Bamberg inne. Er gewährt im Interview Einblicke in seine Arbeit an innovativen Versorgungsansätzen und beschreibt seine Pläne für Bamberg, wo er Forschung, Lehre und Patientenversorgung in einer Ambulanz eng miteinander verzahnen möchte.
Lieber Herr Sachser, Sie beschäftigen sich mit der Diagnostik und Behandlung von Traumafolgestörungen im Kindes- und Jugendalter. Gibt es ein Projekt, das Ihnen besonders am Herzen liegt?
Cedric Sachser: Meine Arbeit tangiert häufig den Bereich Kinderschutz und Themen wie Misshandlung und Missbrauch. Oftmals geht es dabei auch um die Arbeit mit vulnerablen Gruppen wie unbegleitete minderjährige Geflüchtete oder Kinder und Jugendliche, die im Jugendhilfesystem leben. Ein Projekt, das neben meiner Promotion und ohne Projektgelder lief, ist mir besonders wichtig: Ich habe gemeinsam mit Kolleginnen und Kollegen aus den USA und Norwegen einen Fragebogen entwickelt zur Messung von potentiell traumatischen Ereignissen und daraus resultierenden posttraumatischen Stresssymptomen sowie Funktionseinschränkungen im Alltag bei Kindern und Jugendlichen. Uns war wichtig, das Instrument Open Access zur Verfügung zu stellen. Häufig müssen Kliniken und Therapeutinnen und Therapeuten für diagnostische Tools hohe Lizenzgebühren zahlen, was den Zugang einschränkt – gerade für vulnerable Gruppen. Mittlerweile gibt es mehr als zwölf Übersetzungen des Fragebogens, darunter auch in Sprachen, die für unbegleitete minderjährige Geflüchtete in Deutschland relevant sind. Ich erhalte etwa zwei bis drei E-Mails pro Woche von Fachkolleginnen und -kollegen aus aller Welt, die anfragen, ob sie das Instrument verwenden oder eigene Übersetzungen anfertigen dürfen. Es ist ein Projekt, das ohne Finanzierung weltweit eine große Wirkung erzielt.
Sie haben gerade unbegleitete minderjährige Geflüchtete in Deutschland angesprochen. Ist das eine Gruppe, mit der Sie sich besonders befassen?
Meine Arbeit mit unbegleiteten minderjährigen Geflüchteten begann eher zufällig, weil ich 2015 in der Zeit der sogenannten „Flüchtlingskrise“ mit meiner Weiterbildung zum Psychotherapeuten für Kinder und Jugendliche angefangen habe. Alle der Geflüchteten, die zu uns in die Therapie kamen, hatten vorher ein oder sogar mehrere traumatische Erlebnisse – oft bereits im Heimatland. Hinzu kommen zahlreiche weitere Stressoren: Sie sind ohne Familie in Deutschland, erleben Diskriminierung, wissen nicht, ob sie in Deutschland bleiben können. Das macht die Therapie sehr komplex, weil es nicht nur um abgeschlossene traumatische Ereignisse geht. Hinzu kommen die Versorgungslücke und auch viele Hürden – von der Therapiegenehmigung und -bezahlung, über die Zusammenarbeit mit Dolmetscherinnen und Dolmetschern bis hin zu der Frage, ob unsere gängigen Interventionen auch bei Personen mit einer Fluchtgeschichte funktionieren.
Gibt es Möglichkeiten diese Versorgungssituation zu verbessern?
In einem Projekt entwickeln wir mit Kolleginnen einen gestuften Versorgungsansatz. Zuerst führen wir ein aufsuchendes Screening durch. Das bedeutet, wir besuchen die Jugendlichen direkt in der Jugendhilfe, führen Diagnostikgespräche und bauen so Vertrauen in gewohnter Umgebung auf. Denn viele finden aufgrund individueller, gesellschaftlicher und systemischer Barrieren gar nicht den Weg in die Therapie. Die zweite Stufe ist eine Gruppenintervention, „Mein Weg“, in der im Gruppenkontext erste Fähigkeiten zur Bewältigung des Erlebten erarbeitet werden. Die Interventionen werden von durch uns gezielt geschulte Jugendhilfemitarbeitende durchgeführt. Für die schwer belasteten Kinder und Jugendlichen vermitteln wir dann eine traumafokussierte Psychotherapie. Ein wichtiger Baustein ist zudem die Schulung von Dolmetschern. Sie helfen, nicht nur sprachliche, sondern auch kulturelle Hürden zu überwinden. Das gesamte Projekt wird durch eine randomisierte Studie begleitet, die die Wirkung des gestuften Versorgungsansatzes untersucht. Wir arbeiten mit Einrichtungen in ganz Deutschland zusammen und haben bereits über 600 Jugendliche einbezogen. Die Ergebnisse erwarten wir im nächsten Frühjahr.
Welche Pläne haben Sie hier in Bamberg?
Ich möchte mich weiterhin mit der Diagnostik und Behandlung von Traumafolgestörungen beschäftigen. Aktuell bauen wir am Maximiliansplatz eine Lehr- und Forschungsambulanz für Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie auf. Nächste Schritte sind hier die Zulassung der Ambulanz und die Ausstattung der aktuell noch leeren Räume – sie sollen mit Leben gefüllt und altersgerecht für die Patientinnen und Patienten eingerichtet werden. Die Ambulanz wird dann der Dreh- und Angelpunkt für Forschung, Lehre und Patientenversorgung gleichermaßen sein. Wir wollen etwa wissen, welche Interventionen für wen aus welchen Gründen hilfreich sind und für wen nicht. Wie müssen Behandlungsprozesse verändert werden, damit mehr Personen davon profitieren? Und welche neuen Ansätze kann es möglicherweise geben?
Haben Sie schon konkrete Ideen, welche Interventionen Sie untersuchen und gegebenenfalls verbessern möchten?
Vier Vorhaben möchte ich hier in Bamberg vorantreiben: Wir wissen, dass in der Traumatherapie die Exposition, also die Auseinandersetzung mit dem traumatischen Ereignis, ein Schlüsselfaktor ist. Weil die Symptome durch die Exposition aber häufig erst einmal stärker werden, bevor sie nachlassen, tendieren wir Menschen dazu, sich damit nicht auseinandersetzen zu wollen – und vor allem nicht über Wochen hinweg in zahlreichen einzelnen Sitzungen. Ich würde gerne untersuchen, wie man Traumatherapie kondensieren und in einer Art „Traumacamp“ innerhalb von ein bis zwei Wochen erfolgreich durchlaufen kann.
In einem Projekt, das bereits läuft, untersuche ich mit Kolleginnen und Kollegen, inwiefern digitale Traumatherapie funktionieren kann. Es geht darum, dass Inhalte teilweise online über Videos oder Texte dargeboten und Aufgaben durchgeführt werden. Unterstützend sind Therapeutinnen und Therapeuten mit dabei.
Darüber hinaus habe ich den Plan, die Möglichkeit der Vorhersage von Therapieverläufen durch Videographie oder Smartphone-Sensing zu untersuchen. Diese Forschung bewegt sich an der Schnittstelle von Psychologie und Informatik.
Zudem möchte ich mich weiterhin damit beschäftigen, wie traumatherapeutische Verfahren implementiert werden müssen, damit sie im System ankommen. Viele evidenzbasierte Interventionen sind noch nicht wirklich in der Behandlungspraxis angelangt. Es dauert im Schnitt über zwanzig Jahre, bis ein Behandlungsansatz, der sich in Studien als hilfreich erwiesen hat, wirklich in der Versorgung ankommt.
Vielen Dank für das Gespräch!