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Porträt

laut.de-Biographie

Christine And The Queens

Wer nicht regelmäßig im Nachbarland Frankreich Urlaub macht, bekommt die Klasse dortiger Künstler:innen oft erst sehr viel später mit (wenn überhaupt). Der nichtbinäre Chansonsänger (he/him) und ausgebildete Pianist und Tänzer Héloïse Letissier ist ein hervorragendes Beispiel für die exklusive Pop-Anglophilie hierzulande: Während der Jahrgang 1988 aus Nantes in der Heimat bereits seit 2008 aktiv und das 2014er-Debüt in den Himmel gelobt wird, ignoriert man Christine And The Queens im deutschsprachigen Raum noch weitgehend. Dabei trifft Letissier mit einer Mischung aus klassischem französischen Chanson und R&B den Nerv der Zeit.

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Der Sohn eines Lehrerpaars versteht sich wie wenige auf eingängigen, ja überaus gefälligen Gesang, in dem sich Letissiers Begeisterung für Fever Ray, Beyoncé, Kate Bush, die Chansonniers Daniel Balavoine und Serge Gainsbourg sowie amerikanische Rapper wie Kanye West und Frank Ocean spiegelt. So sampelt der französische Popstar Elemente aus West-Tracks, kooperiert mit Beyoncé und Perfume Genius und begleitet schon 2012 Lykke Li, The Dø und Woodkid auf Tournee. In Frankreich erreicht Christine And The Queens mit der Albumpremiere Platz zwei der Charts sowie Doppelplatin.

Neben der eher zurückgenommenen, mit elektronischen Sprengseln verzierten Musik besticht Letissier durch seine gleichfalls minimalistischen Tanzperformances auf der Bühne wie in Videoclips. In noirigen Bildern bewegt er sich darin in reduzierten Räumen und verleiht den Popklängen dadurch zusätzlich Ausdruck. Hin und wieder verwendet Letissier, der seinen Namen von Drag Queens erhält, die er 2010 in einer Bar kennenlernt, auch englische Lyrics. Das erleichtert nebenher die 2016 erfolgte Veröffentlichung des Debüts in den USA. Außerdem helfen lobreiche Twitter-Erwähnungen von Popstars wie Lorde, die auch in Übersee Erfolg nach Erfolg einfahren.

In England steigt "Chaleur Humaine" bis auf Platz vier der Charts. Seinen weltweiten Durchbruch unterstreichen anschließend gemeinsame Auftritte mit Sir Elton John. Amerika ist erwacht und freut sich dementsprechend auf das kommende Christine And The Queens-Werk "Chris" im Spätsommer 2018. "Für das zweite Album wäre es einfach gewesen, mir einen fancy Producer in L.A. zu suchen, um die richtig dicke Popschiene zu fahren. Stattdessen wollte ich es dieses Mal noch persönlicher gestalten, falls das denn möglich ist", resümiert Letissier die Arbeit an seinem zweiten Studioalbum. Darauf befinden sich einmal mehr Songs, die sich mit Verlangen und undefinierbarer Sexualität auseinandersetzen.

2019 stirbt Letissiers Mutter unerwartet an einer Herzmuskelentzündung. Dieser einschneidende Moment wird später noch Thema im Song "Les Étoiles", der Titeltrack des 2022 veröffentlichten Albums. Dazwischen liegen eine EP und der Lockdown, bei dem es in Frankreich mit rigiden Ausgangssperren hart an die Substanz geht. Immerhin einen Lichtblick gibt es 2020: "People, I've Been Sad" aus der EP "La Vita Nuova" wird vom US-Rolling Stone zu einem der Songs des Jahres erwählt.

Ansonsten schaut Christine And The Queens viel aus dem Fenster. Dabei fallen ihm überraschend oft rote Autos auf, die aus irgendeinem Grund seine Stimmung heben. Auf der Suche nach einem neuen geschlechtsneutralen Pseudonym fällt die Wahl auf: Redcar. Die Gender-Identität bleibt ein Thema. "Ich möchte irgendwie das System zum Einsturz bringen, das uns in so einer strikten Weise mit Geschlechtern etikettiert", verrät Redcar, Kind eines Gender-Studies-Dozenten, der New York Times.

"Mein erstes Lied "iT" handelte davon, dass ich ein männliches Glied haben wollte, nur um mir im Alltag leichter zu tun", erfährt das Dazzled-Magazin 2016 in einer berührenden Geschichte. "Jetzt würde ich 'iT' nicht mehr schreiben. Ich hab das verfasst, als ich 2008 von der Schauspielschule in Lyon geschmissen wurde, weil ich mein eigenes Theaterstück aufführte. Meine Lehrkräfte erlaubten Jungs Regie zu führen, aber erzählten Mädchen, dass sie erst Schauspiel erlernen müssten. Besagte Lehrkräfte dozieren dort immer noch. Ich möchte eine Frau bleiben und kämpfen, (...) indem ich geschlechtsneutrale Anzüge trage (...). Zu Magazinen und Werbung und wie sie Frauen abbilden, konnte ich nie eine Beziehung herstellen. Mich lenkte sowas nur unnütz ab, und Christine And The Queens war eine Art Flucht, eine Überlebenstechnik. Ich bin immer noch nicht drüber hinweg, weil wir als Mädchen von Perfektionsansprüchen umgeben sind (...). Nie perfekt genug. Christine ist wie ein Knopf, den ich drücken kann und sage 'Warte eine Minute. Das ist alles Bullshit'. Popkultur handelt davon einen Raum zu besetzen und sichtbar zu sein. Ich fühle mich wohl damit, Popmusik zu machen", erklärt sich die alte Identität als Christine.

Die New York Times bringt 2022 in Erfahrung, beim Anhängsel And The Queens "könnte man zwischen 'die' (mehrere) und 'sie' switchen>". TikTok- und Instagram-versiert, verbreitet Chris/tine/Hélöise/Redcar im Sommer '22: "Ich bin jetzt seit einem Jahr ein Mann", und wird in der Folge bei verschiedensten Posts zu verschiedensten Themen attackiert. Im Artist kommt es zu inneren Konflikten und Abbruchgedanken, Redcar a.k.a. Christine ist Überzeugungstäter und eckt gefühlt überall an - bei Fans, Plattenindustrie, in der Gesellschaft.

"Ich trete in den Widerstand gegen den Denkansatz, eine Trans-Identität erwerbe man mit Hormonen und Operationen. Das wird von einem binären System aufgezwungen, an das ich nicht glaube. Binäre Dichotomien sind zum Zweck der Kontrolle erfunden worden. Das System erlegt jedem Menschen von Geburt an eine Menge auf, wie man performen und sich verstellen muss, und ich möchte mich und jede:n andere:n davon befreien", kotzt sich Redcar im Gespräch mit der Londoner Zeitung Guardian aus: "Ich habe es satt, mich mittels grotesker Unterdrückungswerkzeuge zu definieren."

Dieses Engagement und die in die vielschichtige Musik, Lyrik und Video-Clips gestrickten Botschaften lassen den Artist vereinsamen. "Ich habe (...) an tiefgehender Musik gearbeitet, an die ich glaube, aber es wurde zu einem einsamen Kampf und isolierte mich stark. Jetzt fühle ich mich wahnsinnig und gebrochen", öffnet er sich der englischen Zeitung weiter. "Mein Körper brach bei Auftritten zusammen, und ich weine, weil ich das Gefühl habe, ich kann die Shows nicht mehr machen, weil ich zu kaputt dafür bin. Und ich habe zwei Jahre darauf gewartet, wieder aufzutreten. (...) Es ist kompliziert (...) und ich glaube nicht, dass die Gesellschaft dabei hilfreich ist. Die Gesellschaft hilft Leuten nicht, zu einer Ebene außerhalb des Konsums zu finden. (...) Und ich weiß nicht, wie ich mich wieder berappele, weil ich sehr wütend über vieles bin, einschließlich dessen (...) wie man heute als Artist existiert. Ich war schon versucht aufzuhören, nur noch Musik rauszubringen, überhaupt keine Visuals mehr dazu zu machen, vielleicht nicht mehr aufzutreten - und ich bin eine Performerin, so dass mir dass eigentlich eine Menge bedeutet."

Ab Juni 2022 kommt es zu öffentlich ausgetragenen Spannungen mit dem Pariser Label Because Music über die Vermarktung des folgenden Albums, das letztlich auf Druck der Firma ohne Tour auskommen muss. Auch zur Ankündigung der Platte äußert der Artist andere Vorstellungen. Vom Titel kursieren verschiedene Versionen, und ausgerechnet beim Verkauf auf Bandcamp, immerhin der Plattform, die Bands fair vergüten will, treten Probleme mit der digitalen Version auf. Die physische Version gibt es auch nach Wochen noch nicht, auf Amazon und Co aber schon. "Redcar Les Adorables Étoiles. Prologue" gerät ausgesprochen schön und sehr persönlich: Im besagten Song "Les Étoiles" nimmt der Artist Abschied von der verstorbenen Mama.

Das Nachfolge-Longplayer "Paranoïa, Angels, True Love" folgt bereits im Sommer 2023 und schließt an "Redcar Les Adorables Étoiles. Prologue" an. Beide Werke finden ihre Inspiration in Tony Kushners sich mit HIV in den frühen 1980ern während der Reagan-Ära auseinandersetzendes bitter-ironisches "Angels In America". Wie auch die Vorlage splittet Chris das Dreifachalbum in drei Akte auf. Die Texte handeln jedoch vom Tod der Mutter, der Ende der Liebe, seiner Gender-Transformation. Den Opening-Track "Overture" schließt Chris mit den weltumarmenden Worten: "From where I stand, everything is glorious".

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Roskilde Festival, 2023 Beeindruckendes One-Man-Theater bei Nacht.

Beeindruckendes One-Man-Theater bei Nacht., Roskilde Festival, 2023 | © laut.de (Fotograf: Manuel Berger) Beeindruckendes One-Man-Theater bei Nacht., Roskilde Festival, 2023 | © laut.de (Fotograf: Manuel Berger) Beeindruckendes One-Man-Theater bei Nacht., Roskilde Festival, 2023 | © laut.de (Fotograf: Manuel Berger) Beeindruckendes One-Man-Theater bei Nacht., Roskilde Festival, 2023 | © laut.de (Fotograf: Manuel Berger)

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