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Zeitschrift-Artikel: Gedanken über "Nächstenliebe und Seitenhiebe"

Zeitschrift: 43 (zur Zeitschrift)
Titel: Gedanken über "Nächstenliebe und Seitenhiebe"
Typ: Artikel
Autor: Wolfgang Bühne
Autor (Anmerkung):

online gelesen: 1697

Titel

Gedanken über "Nächstenliebe und Seitenhiebe"

Vortext

Text

Auf den Artikel "Billy Graham - wohin?" (FuT 42) sind eine Anzahl heftiger Leserbriefe gekommen.

Da schreibt z.B. ein Pastor aus Österreich:
"Wie wollen Sie es vor dem Herrn verantworten, einen Bruder, dem Sie zugestehen müssen, daß er weitgehend ein biblisches Evangelium verkündigt und dem Sie auch keine unlauteren Gründe vorwerfen können, als einen Repräsentanten des laodizäischen Christentums zu bezeichnen; sprich lauer Christ, den Christus ausspeit, wenn er nicht zu anderen Konfessionen so unfreundlich ist wie Sie. Erschrecken Sie nicht selbst vor dieser Anmaßung, diesem Richtgeist und der Brunnenvergiftung?"

Der Vorsitzende der Ev. Allianz in Deutschland und gleichzeitige Bundesdirektor der Baptisten beendet seinen Brief mit folgenden Sätzen:
"Es ist nicht gut, wenn Brüder über Brüder so reden und dann noch in einer so unsachgemäßen Weise. Ich muß diesen Artikel schärfstens kritisieren und bin sehr enttäuscht über das, was an unsachgemäßer Haltung hier zum Ausdruck kommt."

Eine Leserin aus Berlin machte sich sogar die Mühe, ihren Unmut über den Artikel in Reime zu fassen und schrieb auf den zurückgesandten Umschlag:
"Praktiziere Nächstenliebe
nicht Spott, Spitzen und Seitenhiebe!
Nur dann kann Gott Dich segnen.
Dieses Heft hat viel zu viele üble Nachreden aufzuweisen,
das kommt aus ganz bestimmten Kreisen, drum behaltet Euren Teil,
denn Jesus in der Liebe weilt."

Da auch in anderen Briefen und manchen Gesprächen immer wieder der Bibelvers "Richtet nicht, auf daß ihr nicht gerichtet werdet" angeführt wird, halte ich es für angebracht, einmal zu untersuchen, was die Bibel über das Richten sagt.

Zunächst ist zu sagen, daß die entsprechenden Worte im griechischen Grundtext in den deutschen Übersetzungen verschieden wiedergegeben werden: unterscheiden, urteilen, richten, untersuchen, prüfen.

Aus der Fülle der Bibelstellen möchte ich einige sehr deutliche Verse herausgreifen und in zwei Gruppen aufteilen.

Die erste Gruppe besteht aus Versen, die vor dem Richten warnen.

"Richtet nicht, auf daß ihr nicht gerichtet werdet" (Matth. 7,1).

"Wer ißt, verachte den nicht, der nicht ißt; und wer nicht ißt, richte den nicht, der ißt; denn Gott hat ihn aufgenommen. Wer bist du, der du den Hausknecht eines anderen richtest? Er steht und fällt seinem eigenen Herrn"
(Römer 14,3-4).

"So richte euch nun niemand über Speise und Trank, oder in Ansehung eines Festes oder Neumondes oder von Sabbathen . . . " (Kol. 2,16).

"Wer wider seinen Bruder redet oder seinen Bruder richtet, redet wider das Gesetz und richtet das Gesetz" (Jak. 4,11).

"So urteilet nicht etwas vor der Zeit, bis der Herr kommt, welcher auch das Verborgene der Finsternis ans Licht bringen und die Ratschläge der Herzen offenbaren wird" (1. Kor. 4,5).

1. Was soll also nicht gerichtet werden?

a. Über Geschmacks- und Traditionsfragen soll man nicht richten.

In Römer 14 werden schwache, unreife Christen erwähnt, die meinten, sie dürften nur noch Gemüse essen. Solche, die "stark" waren und alles aßen, standen in Gefahr, die "Schwachen" zu verurteilen und umgekehrt.

In Korinth (1. Kor. 8 u. 10) waren ähnliche Schwierigkeiten. Da gab es "schwache" Christen, die glaubten sich schuldig zu machen, wenn sie Fleisch aßen, daß möglicherweise einem Götzen geopfert war, und "Starke", die mit Recht (1. Kor. 10,25) alles aßen, was auf dem Fleischmarkt angeboten wurde.

Paulus warnt diese Christen davor, einander zu richten und fordert von den "Starken", auf die "Schwachen" Rücksicht zu nehmen:

"Darum, wenn eine Speise meinem Bruder Ärgernis gibt, so will ich für immer kein Fleisch essen, damit ich meinem Bruder kein Ärgernis gebe" (1. Kor. 8,13).

In Kolossä waren Geschwister, die neben den Speisen auch den jüdischen Festen eine besondere Beachtung schenkten. Sie standen in Gefahr, diejenigen zu richten, die verstanden hatten, daß diese Feste nun zu den "Elementen der Welt" (Kol. 2,16) gehörten, denen man gestorben war. Auch dieses Richten war Sünde.

Unter den heutigen Christen gibt es auch viel Streit um Dinge, die von der Bibel her zunächst einmal nicht verboten sind. Steht es mir z.B. zu, einen Bruder zu verurteilen, weil er zum Essen ein Glas Wein trinkt? Auch wenn ich das für mich aus verschiedenen Gründen ablehne, habe ich kein Recht, meinen Bruder deswegen zu verurteilen.

Wieviel Streit gibt es um Form- und Traditionsfragen! Soll man beim Beten aufstehen, sitzenbleiben oder niederknien? Soll man die Hände falten oder zum Himmel emporstrecken?

Sollen Frauen und Männer im Gottesdienst getrennt oder durcheinander sitzen?

Ist es "Weltförmigkeit", mit Schlips und Kragen zum Gottesdienst zu gehen, oder zeige ich mangelnde Ehrfurcht, wenn ich ohne Sonntagsstaat zum Tisch des Herrn gehe, wie manche meinen?

Sollen die Männer Bärte tragen, oder verraten sie damit einen rebellischen Geist?

Das sind einige der vielen Fragen, die sicher nicht völlig unwichtig sind, aber niemals Anlaß sein dürfen, zu richten und zu verurteilen.

Die Liebe wird in diesen Fragen Wege suchen, die den anderen nicht verletzen. So kann es geschehen, daß ich nachmittags mit Geschwistern zusammen bin, die Anstoß daran nehmen, wenn ich ohne Krawatte erscheinen würde und wenige Stunden später in einem Kreis anders geprägter Christen meine Krawatte in die Tasche stecke, weil ich mit Geschwistern zusammentreffe, die darin eine Weltförmigkeit sehen.

b. Es ist absolut verboten, das Herz und die Motive unserer Geschwister zu beurteilen!

Die Bibel sagt ausdrücklich:

"Prüfer der Herzen ist der Herr" (Ps. 17,3) und spricht von einem Tag, ". . . da Gott das Verborgene des Menschen richten wird" (Rö. 2,16) und "die Ratschläge der Herzen offenbar" werden (1. Kor. 4,5).

Deshalb sollten wir niemals über Motive und Beweggründe unserer Geschwister urteilen, weil Gott sich das vorbehalten hat und wir sicher vielen unrecht tun würden.

Ich denke, daß die Verse Matth. 7,1; 1. Kor. 4, 1-5 und Jak. 4,11 in diesem Sinn von "richten" reden.

Liegt da nicht viel Schuld bei uns? Sprechen oder denken wir nicht in unseren Versammlungen oft so:

"Das sagt Bruder X doch nur, um sich wieder einmal wichtig zu machen!"

"Bruder Y ist ja nur neidisch, des wegen hat er an allem was zu meckern!"

"Alle, die von der Bibelschule kommen, sind hochmütig und eingebildet!"

"Den alten Brüdern geht es ja nur darum, die Form zu wahren und haben keine Ahnung, was heute los ist!"

"Das Bekenntnis von Schwester Z kann nicht aufrichtig gewesen sein, da steckt eine andere Absicht hinter!"

Diese Sprüche kennen wir alle und könnten weitere Seiten damit füllen.

Solange ein schlechter Herzenszustand nicht durch eindeutige Taten offenbar wird, steht uns absolut kein Urteil darüber zu. Bis dahin erträgt die Liebe alles, glaubt alles, hofft alles, erduldet alles und läßt sich nicht erbittern (1. Kor. 13,4-7).

Nun kommt die zweite Gruppe Bibelstellen:

"Richtet nicht nach dem Schein, sondern richtet ein gerechtes Gericht" (Joh. 7,24).

"Ihr, richtet ihr nicht die, die drinnen sind? Die aber draußen sind richtet Gott; tut den Bösen von euch selbst hinaus" (1. Kor. 5,12-13).

"Wisset ihr nicht, daß die Heiligen die Welt richten werden? Und wenn durch euch die Welt gerichtet wird, seid ihr unwürdig, über die geringsten Dinge zu richten?" (1. Kor. 6,2).

"Propheten aber laßt zwei oder drei reden, und die anderen laßt urteilen" (1. Kor. 14,29).

". . . indem ihr prüfet, was dem Herrn wohlgefällig ist" (Eph. 5,10).

"Geliebte, glaubet nicht jedem Geiste, sondern prüfet die Geister, ob sie aus Gott sind" (1. Joh. 4,1).

2. Was sollen wir richten?

a. Ungerichtete moralische Sünden der Gläubigen

In 1. Kor. 5 wird jede ungerichtete Sünde mit dem Sauerteig verglichen, welcher um sich greift und alles durchdringt. In diesem Kapitel geht es um Sünden wie Hurerei, Habsucht usw.

Wenn einer der Gläubigen in einer solchen Sünde lebt - also nicht wie in Gal. 6,1 von einem Fehltritt übereilt worden ist -, sondern ein Hurer oder Habsüchtiger usw. ist, der diese Sünde tut und nicht verurteilt, so soll er "gerichtet", d.h. aus der Gemeinschaft der Geschwister ausgeschlossen werden.

Ebenso sollten Rechtsstreitigkeiten unter Christen von einem Bruder, dem Gott Weisheit geschenkt hat, gerichtet und entschieden werden (1. Kor. 6,1-5).

Bei diesen Bibelstellen geht es also um offenbare moralische Sünden, die von der Versammlung unbedingt gerichtet werden sollten.

b. Falsche Lehren sollen geprüft und verurteilt werden

Die Gemeinde wird in 1. Kor. 14,29 aufgefordert, jede Verkündigung an Hand der Bibel zu prüfen und zu beurteilen.

Als Petrus in Antiochien aus Furcht vor den Judenchristen heuchelte und einen gesetzlichen Standpunkt einnahm, widerstand ihm Paulus ins Angesicht, "weil er dem Urteil verfallen war" (Gal. 2,11-14).

In Gal. 1 stellt Paulus diejenigen unter einen Fluch, die ein "anderes Evangelium" verkündigen.

Wenn z.B. fundamentale Wahrheiten wie ,die wörtliche Inspiration der Heiligen Schrift, die Gottheit und Menschheit Jesu Christi, das alleingültige Opfer Jesu, die Rechtfertigung allein aus Gnaden, die Trennung der Gläubigen von der Welt usw. geleugnet oder relativiert werden, erwartet Gott von uns, daß diese Lehren und Lehrer beurteilt und gerichtet werden. Duldsamkeit und Toleranz in diesen Fragen wäre eine folgenschwere, unverantwortliche Sünde.

Wenn also heute z.B. auf dem Bibelseminar der Baptisten in Hamburg merkwürdige bis leicht liberale Auffassungen über die Inspiration der Bibel und "Jungfrauengeburt" verbreitet werden (nachzulesen in dem Heft "Theologische Gespräche" 3-6/83, Oncken Verlag Kassel), wäre es falsch, an dieser Stelle das Wort des Herrn in Matth. 7,1 "Richtet nicht . . ." in Anwendung zu bringen.

Wenn bekannte Evangelisten mit liberalen Theologen und Irrlehren auf Evangelisationen, Konferenzen und Kongressen zusammenarbeiten, dann ist es ebenso unsere Pflicht, vor dieser unbiblischen und unheilvollen Zusammenarbeit (2. Kor. 6,14-15) zu warnen.

"Wenn aber der Wächter das Schwert kommen sieht, und er stößt nicht in die Posaune, und das Volk wird nicht gewarnt . . . so werde ich das Blut von der Hand des Wächters fordern" (Hes. 33,6).

Ein Schweigen in diesen Fragen würde uns vor Gott und Menschen schuldig machen!

Leider ist es oft so, daß wir dort richten, wo Gott von uns Duldsamkeit erwartet, und daß wir andererseits duldsam sind, wo Gott von uns eine unmißverständliche Beurteilung fordert.

Möge der Herr uns allen Weisheit und Demut schenken, um in dieser letzten Zeit zuerst einmal uns persönlich im Licht Gottes zu prüfen und zu beurteilen, damit wir dann auch glaubwürdig und in der rechten geistlichen Gesinnung die Dinge um uns herum beurteilen können.

Nachtext

Quellenangaben