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Genie

[374] Genie, dem Worte nach, was angeboren, eine dem Menschen von Natur aus inwohnende besondere Kraft für diesen oder[374] jenen Theil der Kunst; die unbewußte Wahl des jederzeit Vortrefflichsten, d. i. die gewisser Maßen unwillkürliche Verschmelzung aller Kräfte zur Hervorbringung des Schönen und Wahren. Das Genie verhält sich zum Talente, wie die Vernunft zum Verstande; dieser übt nur Klugheit, jene immer Weisheit; diese erzeugt den Gedanken, jener bringt ihn in die gehörige Form. Talent ist die Reizbarkeit der Einbildungskraft, Genie ist vollendete Bildungskraft. Das Talent ist leidend, beschauend, nachahmend; das Genie thätig, handelnd, zeugend. Das Talent braucht des Vorbildes zur Ausbildung, das Genie ist der Prometheus, der dem Himmel selbst sein Feuer entnimmt zur Belebung seines Geschöpfes. Erzeugnisse des Talentes sind Statuen des Dädalus, die gehen und sprechen können, und doch – Statuen sind, die des Genie's tragen unsterbliches Leben in sich. – Hauptkennzeichen des Genie's sind Originalität (Neuheit der Weltanschauung) und Selbstbeherrschung (Freiheit der Kraftäußerung). Originalität oder Neuheit der Weltanschauung besteht darin, daß der Künstler nicht nur Neues, d. i. noch nicht Vorhandenes, schafft, sondern daß er dasselbe auch in neuen, eigenthümlichen Beziehungen zur ganzen Welt darstellt. Der Genius baut sich eine Schöpfung und belebt sie mit Wesen, die in keiner andern sind. Darum nennt man auch jede Eigenthümlichkeit (das Charakteristische) in der Darstellung den Genius derselben; z. B der Genius der römischen, der venetianischen, der deutschen, der niederländischen Malerschule u. s. f. Der Geniale stellt sich auf einen abgesonderten hohen Standpunkt, von dem herab er die Erscheinungen des Lebens aufnimmt und darstellt; der Grieche stand dem Olymp nahe, daher seine Geschöpfe göttlich ruhig und einfach; Shakespeare sah seine und die Gesammtwelt mit freiem, nicht zu täuschendem Auge an, darum in seinen Werken die Natur, wie sie ist, unveredelt, unverschleiert; Schiller maß die Menschen nach dem Maßstabe ihrer höhern Bestimmung und idealisirte daher; Rafael entlehnte zu seinen Bildern die irdische Gestalt[375] und den Adel der himmlischen; Goethe, wie die niederländischen Maler, griff in das Leben um sich und fand selbst das Seelenlose seiner Aufmerksamkeit und der künstlerischen Behandlung nicht unwürdig. – Diese verschiedene Auffassung des Lebens nennt man Weltanschauung. Das Genie muß seine eigenthümliche haben, und es kommt hierbei gar nicht darauf an, ob es die rechte habe – denn welche ist die wahre? – sondern einzig, daß es, dieser Anschauung nach, in der Bildung seiner Geschöpfe consequent (folgerecht) zu Werke gehe Diese Consequenz fließt aus dem zweiten Kennzeichen des Genie's, der Selbstbeherrschung oder Besonnenheit. Geniale Selbstbeherrschung ist die Unabhängigkeit von sich selbst und der Zeit. Daher sagt man, daß Genies oft für spätere Zeiten schaffen, eben weil sie unabhängig von den Geschmacksanforderungen der Zeit, der gegenwärtigen, sind. Erst jetzt versteht man Shakespeare ganz, und es wird noch lange währen, bis Beethoven ein verstandener Mozart sein wird. Genies sind aber auch, was noch schwieriger, unabhängig von sich selbst. Der wahre Künstler vergißt im Producte seiner selbst ganz und gar; er tritt, so zu sagen, aus sich heraus, und erzeugt Wesen, die sich unter einander eben so wenig gleichen als ihm. Der echte Maler zeichnet Physiognomien, die sich nicht im Entferntesten ähnlich sind, Klärchen und Gretchen sind beide unschuldig, naiv und doch verschieden. In dieser hohen Besonnenheit läßt auch der Dichter seinen Helden rasen, verzweifeln, enden, während sein Ohr die Verse regelt, Wiederholungen vermeidet und das Scenische anordnet. Die niedere Besonnenheit hat auch das Talent, das zwar die äußere Form beherrscht, sich aber selbst nie aus seinem Ich losschälen kann, vielmehr in jedem Gegenstande sein vielgeliebtes Ich zeichnet und dadurch das hervorbringt, was man Manier nennt, von welcher das Genie immer frei ist, da es kaum die Methode respectirt, sondern stets in dem schafft, was Stil heißt.

B–l.

Quelle:
Damen Conversations Lexikon, Band 4. [o.O.] 1835, S. 374-376.
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