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Täuschung

[1146] Täuschung. (Schöne Künste)

Die Täuschung ist ein Irtthum, in dem man den Schein einer Sache für Wahrheit oder Würklichkeit hält. Wenn wir bey einem Gemähld vergessen, daß es blos die todte Vorstellung einer Scene der Natur ist, und die Sache selbst zu sehen glauben; so werden wir getäuscht. Dieses geschieht auch, wenn wir eine Handlung auf der Schaubühne so natürlich vorgestellt sehen, daß wir dabey vergessen, daß das, was wir sehen, blos Nachahmung ist, und die Schauspiehler würklich für die Personen halten, die sie vorstellen.

Man sieht sogleich, daß die gute Würkung vieler Werke des Geschmaks von der Täuschung herkommt, die sie in uns bewürken. In den Werken, die natürliche Gegenstände schildern, sie seyen aus der körperlichen oder sittlichen Welt genommen, kommt die Hauptsach auf die Täuschung an. Weiß der Künstler sie zu bewürken, so ist er ziemlich Meister über die Gemüther der Menschen; er kann sie mit Lust oder Verdruß, mit Fröhlichkeit oder Schreken erfüllen. Es ist demnach ein sehr wesentlicher Punkt in der Theorie der Künste, daß die Ursachen der Täuschung untersucht, und die Mittel, wodurch sie erhalten wird, angezeiget werden.

Die gänzliche, völlige Täuschung, wie die war, da der Ritter von Mancha in dem Marionettenspiehl von Dom Gaiforos und der schönen Melisandra, die Marionetten für die würklichen Personen hielt, und den Degen gegen hölzerne Puppen zog, hat große Aehnlichkeit mit dem Traume, in welchem wir unsre Phantasien für Empfindungen der Sinnen halten. Deswegen kann auch die Betrachtung der eigentlichen Beschaffenheit der Träume, uns einiges Licht über die wahren Ursachen der Täuschung geben.

Die Ursachen der Täuschung in den Träumen, sind offenbar. Sie beruhet auf einer gänzlichen Schwächung derjenigen sinnlichen Empfindungen, die uns Vorstellungen von den äußerlichen persönlichen Umständen, in denen wir uns befinden, erweken. Wenn wir uns blos innerer Vorstellungen bewußt sind, denen nichts beygemischt ist, das sich auf die Zeit, den Ort und alles, was zu unsern äußerlichen persönlichen Umständen gehört, so kann es nicht anders seyn, als daß wir die Vorstellungen der Einbildungskraft für würkliches Gefühl halten; weil gar nichts in den Vorstellungen ist, das uns des Gegentheils versicherte. Wir müssen nothwendig uns einbilden, wir seyen an dem Orte, in dem uns die Phantasie versezt hat, wenn wir von dem würklichen Orte, da wir uns befinden, nichts fühlen; nothwendig glauben, daß die Personen, deren Bilder nur in der Einbildungskraft liegen, zugegen seyen; wenn unser Aug alsdenn nichts empfindet, das uns des Irrthums überführen könnte.1 Wenn also gar alles Gefühl unsers äußerlichen Zustandes aufhört, und bloße Vorstellungen der Phantasie klar bleiben, so ist die Täuschung vollkommen; ist aber jenes Gefühl blos schwach, und weniger lebhaft, als die Vorstellungen der Phantasie, so ist sie zwar nicht vollkommen, aber doch hinreichend genug, daß wir von den Gegenständen der Phantasie so stark gerührt werden, als von würklichen Eindrüken der Sinnen.

Wenn also Dichter und Schauspiehler durch das Drama so viel bey uns würken können, daß die Vorstellungen und Empfindungen von unserm äußerlichen Zustande, die wir währendem Schauspiehl haben, schwächer werden, als die, welche die Scene selbst giebt; so haben sie die Täuschung hinlänglich erreicht. Man sieht aber leicht ein, daß dieses nicht blos von der Beschaffenheit der Werke der Kunst, sondern zum Theil auch von uns selbst abhängt. Wer sich nicht in der Gemüthslage befindet, sich den Eindrüken, die von der Kunst herrühren, zu überlassen, oder sonst keine Wärme des Gefühls und der Phantasie hat, der ist schweerlich zu täuschen. Der Künstler muß also Menschen von Empfindsamkeit und einiger Lebhaftigkeit der Einbildungskraft voraussezen. Hat er solche, so liegt ihm ob, sein [1146] Werk so darzustellen, daß es hinlängliche Täuschung bewürket.

Hiebey kommt es überhaupt auf eine gänzliche Feßlung der Aufmerksamkeit auf den Gegenstand der Kunst an. Denn es ist bekannt, daß das Anstrengen der Aufmerksamkeit auf einen Theil unsrer Vorstellungen, die andern, wenn sie gleich durch die Sinnen erwekt werden, so sehr schwächt, daß man sie ofte nicht mehr gewahr wird. Wenn wir demnach im Schauspiehl verleitet werden, die Aufmerksamkeit völlig auf das zu richten, was auf der Scene vorgeht, so vergessen wir den Ort, wo wir uns befinden, die Zeit des Tages und andre Umstände unsrer würklichen äußerlichen Lage, und bilden uns so gut, als im Traum, ein, wir seyen an dem Orte, den die Scene vorstellt, und sehen die vorgestellte Handlung, nicht in der Nachahmung, sondern in der Natur selbst. Und eben so geht es mit jeder Täuschung zu.

Die Mittel aber, wodurch die Aufmerksamkeit, so wie die Täuschung es erfodert, gefesselt wird, sind vielerley, und liegen sowol in der Materie, als in der Form der Werke. Jede Art der ästhetischen Kraft, zu einem gewissen Grad erhoben, kann die Würkung thun; und wir haben in den meisten Artikeln dieses Werks, darinn wir die verschiedenen Eigenschaften eines vollkommenen Werks der Kunst besonders betrachtet haben, das Nöthige hierüber angemerkt. In den Werken, deren Stoff aus der sichtbaren Natur genommen ist, beruhet die Täuschung größtentheils auf der vollkommenen Wahrheit der Nachahmung. Daher in den Gemählden die Wahrheit des Colorits, der Zeichnung und der Perspektiv, die Täuschung hervorbringen.

Hingegen wird sie auch durch jeden Fehler gegen die Wahrheit, plözlich ausgelöscht. Jede würkliche Unrichtigkeit, alles Wiedersprechende, Unwahrscheinliche, Gekünstelte, läßt uns sogleich bemerken, daß wir nicht Natur, sondern Kunst vor uns sehen. So bald wir durch irgend einen Umstand die Hand des Künstlers erbliken, wird die Aufmerksamkeit von dem Gegenstand, den wir allein bemerken sollten, abgezogen. So gar Schönheit und Vollkommenheit, in einem unwahrscheinlichen Grad, können der Täuschung hinderlich seyn. Ein Colorit, das schöner und glänzender, eine Regelmäßigkeit, die genauer ist, als man sie in der Natur antrift, sind der Täuschung schädlich. Das Verschönern der Natur, wovon man dem Künstler so viel vorschwazt, kann also gefährlich werden; da hingegen gar ofte überlegte Nachläßigkeiten selbst sehr viel zur Täuschung beytragen.

Dieses siehet man am deutlichsten in den Vorstellungen der Schauspiehle. Die Schauspiehler, die so sehr pünktlich sind, Gang, Stellung und Gebehrden nach den Regeln der schönen Tanzkunst einzurichten; die in dem Vortrag jede Sylbe nach den genauesten Regeln des Wolklanges aussprechen, und dergleichen Pünktlichkeit mehr beobachten, werden uns nie täuschen; weil sie nicht in der schiklichen Nachläßigkeit der Natur bleiben. Demnach wird überhaupt zur Täuschung nicht der höchste Grad der Vollkommenheit, sondern der höchste Grad der Natur und die höchste Leichtigkeit erfodert.

1Wer dieses etwas weiter ausgeführt zu sehen wünschet, wird auf die Zergliederung der Vernunft verwiesen die ich in den Memoires de l'Academie Royale de Sciences et Belles-Lettres im Jahr 1758 gegeben habe.
Quelle:
Sulzer: Allgemeine Theorie der Schönen Künste, Band 2. Leipzig 1774, S. 1146-1147.
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